Salafistische Strukturen in Ostwestfalen-Lippe

Seite 2: Die Familie M.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Am 7. Januar 2015 erschütterte der Anschlag auf die Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo die Welt. 10 Menschen kamen dabei zu Tode, weitere wurden verletzt. Zwei Tage später wurde ein jüdischer Supermarkt überfallen und dabei vier Menschen getötet. Tags zuvor hatte der Täter bereits eine Polizistin ermordet. Die Terroristen bekannten sich zum IS, bzw. der IS zu den Taten.

Hintergrund des Anschlags auf Charlie Hebdo war, dass das Magazin wiederholt Mohamed-Karikaturen abgedruckt und den Roman "Soumission", auf Deutsch "Unterwerfung", angekündigt hatte. Überall auf der Welt solidarisierten sich Menschen mit dem Slogan "Je suis Charlie Hebdo" (ich bin Charlie Hebdo) mit den Opfern, den Überlebenden und ihren Angehörigen. Dieser Slogan drückte allerdings auch die Solidarität mit der politischen Linie des Magazins aus.

Das gefiel vielen Muslimen nicht. So auch dem damals 21jährigen Islam M.. "Je suis Moslem" war seine Antwort auf "Je suis Charlie Hebdo". Den Angriff auf das Satiremagazin fand er berechtigt, weil diese schließlich wiederholt den Propheten beleidigt hätten. Das äußerte er unverblümt in sozialen Netzwerken, was ihm schließlich einen Prozess einbrachte, der mit Jugendarrest für ihn endete.

Die Koran-Verteil-Aktion "Lies!"

Auf den Prozess wurde der Journalist Erol Kamisli aufmerksam. Was er zu dem Zeitpunkt noch nicht ahnte: Bereits im Frühjahr 2012 war Islam M. bei einem Stand der Koran-Verteil-Aktion "Lies!" in Erscheinung getreten. Augenzeuginnen berichteten, dass an jenem Stand mehrere Jugendliche im schulpflichtigen Alter anwesend gewesen seien und dass sie auch gezielt Gleichaltrige angesprochen hätten.

An der Detmolder Koranverteilung nahmen offenkundig auch weitere jüngere Brüder von Islam M. teil, ein 15-Jähriger und ein 13-Jähriger, wie auch der Vater der tschetschenischen Familie. 300 Korane sollen an jenem 11. Mai 2012 verteilt worden sein. Anwesend an jenem Tag war auch der Gladbecker Konvertit Michael N. alias Abu Dawud, der als international gesuchter IS-Dschihadist bekannt wurde und kürzlich in Syrien ums Leben gekommen sein soll. Das berichtete zumindest am 1. August 2018 die Bild.

Demzufolge gehörten "die beiden Dschihadisten damals zu Millatu Ibrahim", jener vom Österreicher Mohamed Mahmoud und dem Berliner Denis Cuspert geleiteten Gruppe, die eine entscheidende Rolle bei der Auswanderung deutscher Islamisten in den Irak und nach Syrien spielte".

Laut Bild-Zeitung brachte "die 2017 verbotene 'Lies!'-Kampagne nicht nur Tausende Korane unters Volk. Sie entfaltete auch eine große Sogwirkung auf Salafisten, die hier 'Dawah' betrieben, also Missionierung zum Islam. Der Großteil der deutschen Dschihad-Reisenden dürfte mit der 'Lies!'-Kampagne zumindest in Berührung gekommen sein, viele beteiligten sich aktiv daran".

"Lies!" war eine Kampagne der Organisation "Die wahre Religion" (DWR), bzw. der "Stiftung Lies". Diese wurde von dem in Köln lebenden Ibrahim Abou-Nagie ins Leben gerufen, einem Deutschen palästinensischer Herkunft. Im Rahmen von "Lies!" wurden bundesweit in Innenstädten Korane verteilt, vorwiegend an junge Leute, insgesamt geschätzt 3,5 Mio. Exemplare. Die Stände, an denen diese ausgegeben wurden, waren gern in der Nähe von Schulen platziert.

Ziel war es, Menschen, vor allem junge, mit der "wahren Religion" in Berührung zu bringen. Doch beten allein genügte nicht, viele wurden animiert, sich dem IS anzuschließen. Nach Schätzungen des Innenministeriums sind 140 Personen aufgrund der Aktivitäten der DWR und vor allem der Koran-Verteilaktion "Lies!" nach Syrien oder den Irak ausgereist.

Einige von ihnen sind zu Tode gekommen. Der Frankfurter Islamist Bilal Gümüş gilt als maßgeblich Beteiligter der Koranverteilung und als "rechte Hand" von Ibrahim Abou-Nagie.

Er trat vornehmlich im hessischen Raum auf, unterhielt aber auch Kontakte nach Ostwestfalen-Lippe. Als am 15.11.2016 die "Lies!"-Kampagne bundesweit verboten wurde, stellte er sich in den Dienst von Pierre Vogel und unterstütze ihn bei der Verteilung von Biografien des Propheten Mohammad. Pierre Vogel nannte die Kampagne "We love Mohammad!", sie orientierte auf dieselben Zielgruppen und hatte laut Sigrid Herrmann-Marschall die bekannten "Lies!"-Aktivisten als Unterstützer.

Der kurdisch-stämmige Bilal Gümüş wurde im Frühjahr 2018 verhaftet. Schon als 19jähriger war er u.a. wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Im Gefängnis hat er eigenem Bekunden nach zu Allah gefunden.

Das prädestinierte ihn geradezu für Seelenfänger Ibrahim Abou-Nagie, denn die Läuterung durch Glauben ist eine gern erzählte Geschichte der Salafisten, mit denen Jugendliche geködert wurden, die - sagen wir mal - nicht ganz so "rechtgeleitet" gelebt haben.

Die "wahre Religion", insbesondere der aktive Kampf, z. B. beim IS, würde für ein gutes Karma sorgen, und beim Märtyrertod für 72 Jungfrauen im Paradies, so das Versprechen. Dennis Cuspert alias Deso Dog alias Abu Talha al-Almani, der u.a. dazu beitrug, den Gangsta-Rap, ein extrem gewaltverherrlichendes, frauen- und schwulenfeindliches sowie zutiefst rassistisches und antisemitisches Gerne zu etablieren, vertonte diese Geschichten.

Musik gilt islamischen Fundamentalisten zwar als "haram", verboten, aber der Zweck heiligt schließlich die Mittel, und die Kids waren mit Beats leichter zu erreichen als dem staubtrockenen Koran. Deso Dog soll inzwischen in Syrien umgekommen sein.

Außer ihm und Bilal Gümüş waren die beiden Konvertiten Sven Lau und Pierre Vogel lange Zeit Weggefährten von Ibrahim Abou-Nagie und Aktivisten der Kampagne "Lies!". Zwischen Pierre Vogel und Ibrahim Abou-Nagie kam es jedoch zu Unstimmigkeiten.

Gemeinsam mit Deso Dog gründeten Mohamed Mahmoud und Michael N. die besagte "Millatu Ibrahim"-Gruppe, die u.a. in der Detmolder Innenstadt Koran verteilte. Die wiederum Islam M., Bruder der im Irak inhaftierten Fatima M., zusammen mit seinem Vater und seinen jüngeren Brüdern in Detmold aktiv unterstützte, wie Augenzeuginnen berichteten.

Die IHH und Kampftechniken

Inzwischen leben die Brüder von Fatima offenbar in Paderborn. In sozialen Netzwerken postet Islam Bilder, die ihn in einer der "Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş" (IGMG) unterstehenden Moschee zeigen. Die IGMG ist der deutsche Zweig der türkischen Millî Görüş, die als türkisches Pendant zu der ägyptischen Muslimbruderschaft gilt. Millî Görüş unterhält die "Internationale Hilfsorganisation" (IHH), die beste Kontakte zur Hamas hat.

Der IHH gehörte auch das Schiff "Mavı Marmara", das am 31. Mai 2010 von der israelischen Marine angegriffen wurde, weil es sich im Rahmen der sogenannten Gaza-Flotille auf dem Weg nach Gaza befand, in der Absicht, die von Israel verhängte Seeblockade zu brechen. Die israelische Regierung befürchtete seinerzeit, dass das Schiff Waffen geladen haben könnte. Ein Verdacht, der sich indes nicht bestätigte. Deutsche Behörden verhinderten, dass die IHH sich auch hierzulande etablieren konnte.

Außerdem zeigen die Fotos von Islam M. ihn mit Sportkameraden eines Boxclubs, wo er anscheinend MMA (Mixed Martial Arts) trainiert. MMA vereinigt Ringen, Kickboxen, Karate und Muay Thai und gilt als die wohl härteste Kampfsportart der Welt. Grundsätzlich gilt für MMA, wie für andere Kampfsportarten auch, dass die Kampftechnik außer beim Training und während Wettkämpfen nur zur Selbstverteidigung eingesetzt wird.

Trotzdem ist es kein sonderlich beruhigender Gedanke, dass ein junger Mann, der schon als Jugendlicher aktiv einer fundamental-islamischen Ideologie anhing, über solche Kampftechniken verfügt. Bekannt ist zudem, dass mehrere Männer, die in Kampfgebiete des IS ausgereist sind, zuvor in einem Boxstudio in Herford trainierten.