Sars-CoV-2: Den Anfängen auf der Spur

Seite 2: Der früheste bekannte Fall

Die Händlerin vom Fischmarkt kommt nun als die erste bestätigte Covid-Patientin in Betracht. Sie habe auf dem Markt gearbeitet und am 11. Dezember 2019 Symptome entwickelt. Sie stellt nach Worobey damit den frühesten bekannten Fall dar.

Bisher gingen die meisten Presseberichte davon aus, dass der erste Corona-Fall ein 41-Jahre alter Buchhalter aus der Region gewesen sei. Seine Wohnung lag allerdings mehr als 30 Kilometer südlich des Huanan-Marktes. Die Corona-Symptome dieses Mannes hätten aber wohl etwas später angefangen als die der Fischverkäuferin, legt die neue Studie nahe.

Vorausgegangen waren zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Fälle unter Arbeiter:innen des Huanan-Marktes, darunter ein 65-jähriger Lieferwagenfahrer, der am 18. Dezember in die Notaufnahme des Zentralkrankenhauses Wuhan kam. Er war zwischen dem 13. und 15. Dezember erkrankt und sein Zustand war in wenigen Tagen kritisch geworden.

Der Buchhalter dagegen sei um den 16. Dezember 2019 erkrankt. Seine eigenen Aussagen legten nahe, dass er sich beim Pendeln im öffentlichen Nahverkehr oder bei einer Zahnbehandlung im örtlichen Krankenhaus angesteckt hatte, wo er sich fiebrig fühlte und man ihm Antibiotika gab.

Der Huanan-Markt nach der Corona-bedingten Schließung. Bild: China News Service / CC-BY-3.0

Das Virus hatte sich da schon im öffentlichen Leben in Wuhan verbreitet, konstatiert Worobey für diesen Zeitpunkt. Mit einer logischen Schlussfolgerung: Demzufolge könnte der Buchhalter versehentlich als erster Patient identifiziert worden sein. Wie sich darüber hinaus feststellen ließ, war der Mann kurz vor dem Auftreten seiner Symptome noch nördlich des Huanan-Marktes unterwegs gewesen.

Worobey (und später seine Gutachter) widersprechen mit ihren Feststellungen der bisher präferierten Zeitleiste zum Ausbruch des Erregers, die auf eine Untersuchung der WHO zurückgeht. Sie sei fehlerhaft gewesen. Worobeys Betrachtung geht einen Schritt weiter zurück, er fragt danach, was in den Krankenhäusern geschah, die als erste den Ausbruch einer neuen, mysteriösen Krankheit feststellten.

Um diese acht Krankenhäuser geht es:

  • Jinyintan-Hospital (Zentrum für Infektionskrankheiten in Wuhan);
  • Wuhan Central Hospital, Houhu Branch;
  • Hubei Provincial Hospital of Integrated Chinese and Western Medicine (HPHICWM);
  • Wuhan Central Hospital, Nanjing Road Branch;
  • Tongij Hospital:
  • Union Hospital;
  • Zhongnan Hospital (Wuchang-Distrikt von Wuhan, 15 km vom Huanan-Markt entfernt und am gegenüberliegenden Ufer des Jangtse-Flusses gelegen);
  • Wuhan Jiangxia First People's Hospital.

Es dürfte für jedermann ersichtlich sein, dass die Krankenhäuser in den ersten Wochen des Ausbruchs sowohl Fälle mit als auch ohne bekannte Verbindung zum Huanan-Markt behandelten.

Die meisten der frühen symptomatischen Patientinnen und Patienten hatten aber nach Schlussfolgerung der Untersuchung aus Arizona eine Verbindung zu dem Markt; insbesondere zu dem westlichen Teil, in dem Waschbärhunde eingesperrt waren, was die Studie mit Nachdruck hervorhebt.

Von den ersten 41 Personen, die mit einer Lungenentzündung in eines der Krankenhäuser eingeliefert wurden und bei denen bis zum 2. Januar 2020 offiziell eine laborbestätigte Sars-CoV-2-Infektion festgestellt wurde, waren zwei Drittel (66 Prozent) dem Markt ausgesetzt.

Dass die meisten frühen symptomatischen Fälle mit dem Huanan-Tiermarkt in Verbindung gebracht werden konnten, sei, so Worobey, ein "starkes Indiz" dafür, dass die Pandemie auf dem Markt ihren Ursprung hatte.

Nahe an "Ground Zero"

Zwar gebe es bisher keine eindeutigen Beweise, da keine Proben von Tieren vorliegen, die zum Zeitpunkt des initialen Ausbruchs auf dem Markt verkauft wurden. Schließlich sei der Huanan-Markt in der Folge rasch geschlossen und desinfiziert worden. Dies bedeute jedoch nicht, dass das Rätsel um den Ausbruch niemals gelöst werden könne, dies ist jedenfalls Worobeys Erwartung: Schlüssige Beweise könnte man durch die Analyse räumlicher Muster früher Fälle in Wuhan und zusätzlicher Gendaten aus weiteren Proben damaliger Patienten gewinnen.

"Von dieser Anstrengung hängt die Verhinderung zukünftiger Pandemien ab", so der Wissenschaftler, der auf Twitter schrieb:

Fälle, die keine epidemiologische Verbindung zum Markt hatten (nicht dort arbeiteten oder ihn besuchten), sind dennoch stark um den Markt konzentriert. Dies ist ein klares Indiz dafür, dass die Übertragung in die Bevölkerung auf dem Markt oder in dessen unmittelbarer Nähe begann und sich erst später weit über Wuhan ausbreitete.

Michael Worobey, (Übers.: AK)

Alles deutet ihm zufolge also darauf hin, dass die Übertragung in die Umgebung (Öffentlichkeit) rund um den Markt im Dezember 2019 stattfand – mit dem Lebendtiermarkt als Keimzelle der Pandemie. Eine der Studie beigeordnete Karte mit den Lokalitäten von "Ground Zero", darunter das Umfeld der aufgezählten Krankenhäuser, stellt die Zusammenhänge grafisch dar; sie basiert auf einer Datensatzgruppe von 174 Covid-19-Fällen in und um Wuhan (abzurufen in der Studie).

Die oben erwähnten 41 Früh-Erkrankten waren zwischen dem 29. Dezember 2019 und dem 2. Januar 2020 von anderen Krankenhäusern in das Jinyintan-Krankenhaus, das wichtigste Zentrum für Infektionskrankheiten in Wuhan, verlegt worden. Worobey betont, dass die erkrankten Personen aufgrund ihres klinischen Zustands und nicht aufgrund epidemiologischer Zusammenhänge im Jinyintan-Hospital aufgenommen wurden.

Am 28. Dezember hatte eine andere der örtlichen Kliniken, das Zentralkrankenhaus von Wuhan (Wuhan Central Hospital), sieben weitere Fälle diagnostiziert, von denen sich herausstellen sollte, dass vier mit dem Huanan-Markt in Verbindung standen.

Eine Timeline der Schlüsselereignisse (A timeline of key events in the early days of the pandemic) ist als Supplement zur Studie auf Science abrufbar. Die Auflistung umfasst den Zeitrahmen vom 18. November 2019 bis 20. Januar 2020.

Die meisten Infektionen blieben unbemerkt

Aber wer von den früh Infizierten landete überhaupt in einem Krankenhaus? Die Studie aus Arizona weist richtigerweise darauf hin, dass lediglich um die sieben Prozent der Sars-CoV-2-Infektionen überhaupt zu einer Krankenhauseinweisung führten; die meisten Infektionen vom Dezember 2019 blieben also auf jeden Fall unbemerkt.

Der Indexfall ("Patient Null") gehörte höchstwahrscheinlich zu den 93 Prozent, die nie in ein Krankenhaus kamen. Theoretisch könnte es einer von Hunderten von Arbeiter:innen gewesen sein, die – sei es auch nur kurzzeitig – mit dem Marktgeschehen in Kontakt standen bzw. gekommen waren. Und das heißt genau hier, in Huanan, mit infizierten lebenden Säugetieren.

Da sich der Ausbruch von Mensch zu Mensch ausbreite, sei es anzunehmen, dass es sich bei den frühen Fällen nicht unbedingt um Personen handeln müsse, die direkt mit dem Wildtierhandel zu tun hatten, gibt die Studie zu bedenken. Es ist zunächst der Huanan-Markt als initialer Spreader, der von Interesse ist:

Die Tatsache, dass so viele der mehr als 100 Covid-19-Fälle vom Dezember, bei denen kein epidemiologischer Zusammenhang mit dem Huanan-Markt festgestellt wurde, dennoch in dessen unmittelbarer Nähe lebten, ist bemerkenswert [hier folgt ein Verweis auf die Abbildung] und liefert einen überzeugenden Beweis dafür, dass die Übertragung in die Bevölkerung auf dem Markt begann.

Science

Leider wurde kein lebendes Säugetier, das auf dem Huanan-Markt oder einem anderen Markt für lebende Tiere in Wuhan gesammelt wurde, auf Sars-CoV-2-verwandte Viren untersucht, und der Huanan-Markt wurde, wie schon dargelegt, am 1. Januar 2020 geschlossen und desinfiziert.

Der Waschbärhund

Die neuen Anhaltspunkte rund um das Marktgeschehen von Huanan und die frühesten Stadien der Seuchenausbreitung untermauern die These, dass das Virus auf dem Tiermarkt (von mehreren Märkten?) der Millionenmetropole auf den Menschen übergesprungen ist.

Lebende Säugetiere, die für Coronaviren empfänglich sind, einschließlich Waschbärhunde (Nyctereutes procyonoides), wurden vor der Pandemie auf dem Huanan-Markt und drei anderen Märkten für lebende Tiere in Wuhan verkauft.

Michael Worobey

Christian Drosten hatte bereits im Juni im NDR-Podcast den Marderhund im Kontext der chinesischen Felltierzüchtung als möglichen Zwischenwirt ins Gespräch gebracht.

Forscher des Friedrich-Loeffler-Instituts in Deutschland führten eine Studie durch, in der nachgewiesen wurde, dass Waschbärhunde ein potenzieller Zwischenwirt sind. Und auch die Berichterstatter (Reviewers) der Worobey-Studie sind sich einig:

(…) mehrere Arbeiter, die auf dem Huanan-Markt (…) Waschbärhunde verkauften oder auslieferten, [waren] laut CT-Scans und anderen medizinischen Nachweisen die ersten infizierten Patienten.

Dies bestätigten offenbar auch Nachuntersuchungen einer vertrauenswürdigen Person der ersten Stunde, und zwar von Sara Qin, einer Krankenschwester aus Wuhan, die vor Ort war, als der erste Ausbruch in Hubei bekämpft wurde.

Die Arbeit Michael Woroneys lenkt den Blick zwei Jahre nach der Initialzündung von Covid-19 nun erneut auf die Lebendtiere als Quelle bzw. Verstärker des Geschehens.

Der Verkauf von lebenden Tieren, der auf dem Huanan-Markt stattfand, würde die große Zahl von Infektionen in einem Umkreis von wenigen Kilometern um diesen Ort erklären. Die Tatsache, dass die meisten frühen symptomatischen Fälle mit dem Huanan-Markt in Verbindung gebracht werden konnten, ist Woroney zufolge ein deutlicher Wegweiser auch für künftige Untersuchungen.

Auch die Gutachter, die Woroneys Timeline und seine Schlussfolgerungen aus der Genealogie der Ereignisse überprüften, gelangten letztendlich zurück auf den Ausgangspunkt "Wildtiermarkt".

Hier, im westlichen Teil des Marktes, gerät der Waschbärhund (Nyctereutes viverrinus) in den Fokus, der als Vermittler von Covid-19 zwischen Fledermäusen und Menschen verantwortlich gemacht wird.

Der Marder- oder Waschbärhund (auch Enok oder Tanuki genannt) aus der Ordnung der Raubtiere gehört zur Familie der Hunde. Das Tier ähnelt einem Waschbären, besonders durch die Zeichnung des Gesichts, daher der Name. Es ist ein Allesfresser: Kleine Säugetiere, Vögel, Frösche, Schnecken und Insekten kommen ihm ebenso zupass wie Gelege oder Beeren.