"Scheinheilig": Das hat Kolumbiens Präsident dem Westen zu sagen
Gustavo Petro sagt, EU versuchten, neutrale Staaten für Ukraine-Kampagne zu missbrauchen. Warum man zwei Friedensgipfel braucht. Und wie das Kohle-Land die "Mutter aller Krisen" lösen will.
Gustavo Petro ist der erste Linke, der Kolumbien – das zweitgrößte Land Südamerikas nach Brasilien – jemals regiert hat. Er wurde 2022 gewählt, nachdem er sich im Wahlkampf dafür eingesetzt hatte, Ungleichheit und Armut zu bekämpfen, die Steuern für Wohlhabende zu erhöhen, Sozialprogramme auszuweiten, den Frieden wiederherzustellen und Kolumbiens Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu beenden.
Er ist ein ehemaliger M-19-Guerillero, der Bürgermeister von Bogotá und Senator wurde, bevor er die Präsidentschaft erlangte. Petro kandidierte zusammen mit Francia Márquez Mina, die als erste schwarze Frau und als erste Afrokolumbianerin überhaupt zur Vizepräsidentin gewählt wurde.
Gustavo Petro hat dem US-Sender Democracy Now letzte Woche ein exklusives Interview nach seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York gegeben. Das Interview führte Amy Goodman. Hier eine gekürzte, ins Deutsche übersetzte Fassung.
In Ihrer Rede vor der UN-Vollversammlung forderten Sie zwei Friedensgipfel: einen für die Ukraine und einen für Palästina. Sie sagten: "Was ist der Unterschied zwischen der Ukraine und Palästina? Ist es nicht an der Zeit, beide Kriege und andere Kriege zu beenden und die wenige Zeit, die wir haben, zu nutzen, um Straßen zu bauen, die das Leben auf der Erde retten?" Was fordern Sie genau?
Gustavo Petro: Lateinamerika hat im Allgemeinen nicht die gleiche Position wie die Nato, die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union eingenommen. Wir sind aufgefordert worden, Waffen und Kriegsgerät zu liefern und Soldaten in den Ukraine-Krieg zu schicken. Wir haben diese Einladung nicht angenommen.
Prinzipiell sind wir in jedem Krieg neutral, nicht weil wir nicht glauben, dass es eine Besetzung gibt, sondern weil wir letztlich nicht an diejenigen glauben, die uns einladen, an einem Krieg teilzunehmen, weil viele der Länder Lateinamerikas – Guatemala, die Dominikanische Republik, Panama, Grenada, Argentinien und so weiter – Invasionen durch dieselben Länder erlitten haben, die heute eine Aufforderung aussprechen, die Invasion in die Ukraine zurückzuweisen. Die meisten lateinamerikanischen Länder haben die Invasionen in Libyen, im Irak und in Syrien abgelehnt, die aus Motiven erfolgten, die illegal sind.
Wenn ich die Situation in Palästina mit der Situation in der Ukraine vergleiche, möchte ich eine Parallele zwischen den realen Situationen aufzeigen. In beiden Ländern gibt es eine militärische Besatzung. Aber die Weltmächte haben eine andere Haltung.
Die Europäische Union ist daran interessiert, Russland zurückzudrängen, zusammen mit der Nato. Sie haben bestimmte wirtschaftliche Vereinbarungen mit der Ukraine getroffen. Die Ukraine spielt ungefähr die Rolle Mexikos im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.
Aber sie sind nicht an Palästina interessiert. Sie sind nicht an dem Konflikt mit Israel interessiert. Die Vereinigten Staaten sind nicht an einem Konflikt mit Israel interessiert – an der Durchsetzung des Osloer Abkommens, das 30 Jahre zurückliegt und in dem von zwei Staaten und palästinensischer Souveränität sowie der Beendigung der zivilen sowie militärischen Besetzung palästinensischer Gebiete die Rede war. Das ist nicht der Fall.
Und doch haben wir angesichts der gleichen Umstände wird mit doppeltem Maßstab agiert. Das nenne ich die Heuchelei der internationalen Politik. In Lateinamerika kommt das nicht gut an.
Deshalb schlage ich vor, dass die Vereinten Nationen konsequent sind. Wenn wir eine Friedenskonferenz in der Ukraine und in Palästina wollen, dann deshalb, weil wir eine gemeinsame Politik gegen Invasionen in jedem Teil der Welt, egal, von welchem Land ausgeführt, haben wollen.
Es kommt nicht darauf an, welches Land einmarschiert. Im Römischen Statut, das die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof bildet, wurde ein internationales Verbrechen aufgeführt, das als Aggression, internationale Aggression, bezeichnet wird. Dieser Begriff wurde vorher noch nie verwendet.
Und diese Formulierung, die im Römischen Statut zu finden ist, wird sonst nicht gebraucht, weil fast alle Länder, die heute die Ukraine-Invasion als eine Frage der militärischen Macht verurteilen, ebenfalls andere Länder überfallen haben. Es ist nur so, dass sie nicht wollen, dass diese Invasionen verurteilt werden.
Haben Sie dies mit Präsident Biden besprochen?
Gustavo Petro: Ja, natürlich, und mit der Europäischen Union, denn vor Kurzem fand in Brüssel eine Konferenz zwischen allen Ländern Lateinamerikas und der Europäischen Union statt. Anstatt sich auf das Ziel der Konferenz zu konzentrieren, nämlich den Aufbau engerer Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa, wollten die europäischen Staats- und Regierungschefs mit Selenskyj eine Show veranstalten, und zwar mitten im Treffen mit Lateinamerika.
Die überwiegende Mehrheit der lateinamerikanischen Länder lehnt dies ab, denn wir gehen nicht zu diesem Treffen, um uns benutzen zu lassen. Und ein großer Teil der Diskussion am Ende drehte sich nicht darum, wie wir eine neue Ära in unseren Beziehungen einleiten können, sondern um die Frage des Krieges in der Ukraine, eines Krieges, der Lateinamerika schadet, weil er zu mehr Hunger unter der Bevölkerung Lateinamerikas geführt hat.
Was wir wollen, ist Frieden. Das haben wir auch der Regierung der Vereinigten Staaten gesagt. Was mich persönlich betrifft, so gab es angesichts der Tatsache, dass frühere Regierungen in Kolumbien russische Waffen gekauft haben, die sich in Kolumbien befinden, sowohl von russischer Seite die Bitte, die russischen Waffen nach Russland zurückzugeben, als auch vonseiten der Vereinigten Staaten, die russischen Waffen in die Ukraine zu bringen.
Beides habe ich nicht akzeptiert. Was Lateinamerika will, ist Frieden. Heute ist der Frieden unverzichtbar, nicht nur wegen der Folgen, die ein Krieg mit sich bringen könnte – und ich glaube, wir sehen sie gerade mit der Ausweitung des Kriegsgedankens in der Welt –, sondern auch, weil wir diese Zeit für anderes nutzen müssen.
Das war das Ziel meiner Rede bei den Vereinten Nationen: aufzurufen zum Handeln im Angesicht der wichtigsten Krisen, dem Drängendsten, dem wir heute gegenüberstehen, nämlich dem Schutz des Lebens auf unserem Planeten. Wir müssen wirksame Entscheidungen treffen, die es ermöglichen, die Klimakrise zu stoppen. Was haben wir also davon, wenn die Ukraine oder Russland gewinnt, wenn die Nato erweitert wird oder nicht, wenn das menschliche Leben auf dem Planeten Erde auf diese Weise endgültig eingeschränkt wird?
Die Nachfrage nach Öl und Kohle wird bald zusammenbrechen
Sie haben gesagt, dass die Menschheit sich dem Krieg verschrieben hat und sie besser ihre Ressourcen in die Bewältigung des Klimawandels stecken sollte, den Sie als "die Mutter aller Krisen" bezeichnet haben. Was schlagen Sie der Welt vor, während Sie hier bei den Vereinten Nationen mit den Staats- und Regierungschefs der Welt zusammen sind?
Gustavo Petro: Ich bin nicht sehr optimistisch, was diese Treffen angeht. Es gibt eine Art Inszenierung, wie die Franzosen sagen, bei der nicht unbedingt ein Gespräch untereinander stattfindet, sondern jeder zu seinen eigenen Leuten spricht. Die Bühne der Vereinten Nationen wird genutzt, um in Richtung auf das eigene Land zu sprechen oder sich selbst zu präsentieren. Aber das führt nicht zu einem notwendigen Austausch.
Bei den Klimakonferenzen der Vertragsparteien, den COPs, gibt es ein wenig mehr Gesprächsstoff, aber sie haben keine bindende Kraft. Sie legen lediglich eine Liste von Maßnahmen vor, die berücksichtigt werden können oder auch nicht.
Über den Klimawandel wird ganz anders als über den Welthandel diskutiert. Der Welthandel hat eine verbindliche Institution. Wer gegen eine dieser Regeln verstößt, muss mit empfindlichen finanziellen Strafen rechnen.
Die Welthandelsorganisation zum Beispiel ist die Institution der freien Marktwirtschaft. Doch obwohl die Lösung der Klimakrise eine wichtigere Frage ist, weil sie das Überleben betrifft, findet sich nicht die gleiche Verbindlichkeit. Niemand hält sich an die Regeln. Es gibt es keine Gerichte. Es gibt keine Justiz. Jeder kann sich also einfach durchmogeln, indem er die getroffenen Entscheidungen ignoriert, ein Auge zudrückt.
Deshalb sind von der COP 2015 in Paris, bei der sich die mächtigsten Länder der Welt verpflichtet haben, 100 Milliarden Dollar bereitzustellen, was heute eine sehr geringe Summe im Vergleich zu dem ist, was zur Abschwächung der Klimakrise und zur Anpassung daran benötigt wird, nicht einmal zehn Milliarden eingegangen. Allein Deutschland, Großbritannien und die USA haben in einer Woche diese Summe für den Krieg in der Ukraine zusammenbekommen.
Sie haben eine Dekarbonisierung der Wirtschaft gefordert, ein Ende der Förderung fossiler Brennstoffe in Kolumbien. Doch Kolumbien exportiert viel davon. Öl ist die Nummer eins unter den Exporten. Sie haben den größten Kohletagebau der Welt. Können Sie uns sagen, wie Sie das bewerkstelligen?
Gustavo Petro: Das Thema wird in Kolumbien viel diskutiert. Ich wollte der Welt zeigen, dass der Präsident der Republik, obwohl wir von Öl und Kohle leben, die Welt um eine Dekarbonisierung der Wirtschaft bitten kann.
Das macht Sinn in der ganzen Welt, denn in vielen Ländern – in den arabischen Ländern, in vielen lateinamerikanischen Staaten, sogar in Russland, das mit seinen Öl- und Gasreserven eine Macht ist – gibt es eine Haltung, die die Möglichkeiten einer globalen Transformation der Welt, den Verzicht auf Kohle, Gas und Öl, verhindern will. Das wäre natürlich ein Todesurteil für uns.
Die Wissenschaft weist den Weg. Der Progressivismus als weltweite politische Bewegung hat immer auf der Idee basiert, eine von der Wissenschaft aufgeklärte Politik zu machen und nicht eine irrationale, wie sie die extreme Rechte in der Welt betreibt.
Das ist ein Konflikt, denn die Wissenschaft sagt uns, dass wir, wenn wir noch das an Rohstoffen benutzen, was in Kolumbien in Form von Kohle oder in Venezuela in Form von Ölvorkommen vorhanden ist, einen unumkehrbaren Kipppunkt überschreiten. Die Menschheit und Leben auf dem Planeten hätte dann keine Chance mehr, sich davon zu erholen.
Venezuela lebt vom Öl und Kolumbien von Kohle und Öl. Trotzdem fordern wir in Kolumbien eine Veränderung der Wirtschaft. Das hat bei uns eine große Debatte ausgelöst.
Man sagt: "Der Präsident muss verrückt oder krank sein. Niemand in der Welt hört auf das, was er zu sagen hat. Er führt uns an den Rand des Abgrunds."
Weil ich darauf vertraue, dass die Menschheit sich nicht auslöschen lassen wird, glaube ich, dass in einem relativ kurzen Zeitraum – sagen wir zehn bis 15 Jahren – die Nachfrage nach Öl und Kohle in der Welt tatsächlich zusammenbrechen wird. Und das, was wir als fossile Wirtschaft bezeichnen, also der größte Teil des Kapitalismus auf der Erde, muss sich neuen Technologien zuwenden, die ohne Kohle und ohne Öl auskommen.
Wenn das der Fall ist, dann wird das, was wir heute als dekarbonisierte Wirtschaft bezeichnen, der Weltwirtschaft neue Realitäten aufzwingen. Dort wird es andere soziale Produktionsverhältnisse geben.
Wenn wir uns in Kolumbien oder anderswo nicht in diese Richtung bewegen, werden wir eine enorme Ungleichheit sowie einen wirtschaftlichen und Wissens-Rückschritt gegenüber der Welt erleiden. Daher würde ich mir wünschen, dass wir bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft mitziehen, wenn nicht sogar vorpreschen.
Das ist für eine Region wie Südamerika, deren größtes Potenzial und größter Reichtum gerade in der natürlichen Artenvielfalt, den Wasservorräten, der Sonneneinstrahlung und den Winden, die durch die Region wehen – also in den Quellen sauberer Energie – liegt, von grundlegender Bedeutung. Meiner Meinung nach sind Kohle und Öl für Südamerika eine Fata Morgana, in die sich vielleicht gerade Linke verstricken.
Aber das würde Lateinamerika abkoppeln von einem Wandel, den die ganze Welt durchmachen wird. Und dieser Wandel ist nichts Negatives. Er darf nicht als Rückfall in Armut angesehen werden.
In Kolumbien zum Beispiel gibt es fünf Stromerzeuger, die von großen Unternehmen gesteuert werden. Das ist ein Oligopol. Sie setzen Strompreise, die angesichts des Lebensstandards in Kolumbien extrem hoch sind. Ein irrationales Paradoxon angesichts der Tatsache, dass es an der Karibikküste das ganze Jahr über reichlich Sonne gibt.
In der Tat wird in den meisten Teilen Südamerikas und in Kolumbien der größte Teil der verbrauchten Energie aus Gas gewonnen, während Solarenergie viel billiger sein könnte. Diese Unvernunft hat heute mit einem Machtkampf mitten im Wandel zu tun.
Das Oligopol will nicht auf saubere Energien umsteigen, denn saubere Energien würden es ermöglichen, dass ein oder zwei Millionen Haushalte in ganz Kolumbien ihren eigenen Strom erzeugen, zum Beispiel auf der Grundlage von Solarenergie, und im Falle der Karibik mit großer Effizienz. Wir würden statt eines Stromerzeugers Millionen bekommen.
Das kann mal als eine Demokratisierung bezeichnen, die zu einer dekarbonisierten Wirtschaft führen würde, die bereits vorhanden und weiter angestrebt wird.
Das gefällt dem mächtigen fossilen Kapitalismus nicht, der weltweit zu einem übermächtigen Monopol geworden ist und daher Widerstand leistet. Und deshalb sollte der Übergang von einer fossilen zu einer dekarbonisierten Wirtschaft für linke Politik einleuchtend sein, weil er zu einer Demokratisierung der Welt führen wird und eben nicht zu einer Konzentration von Eigentum und Reichtum, wie es bisher der Fall ist.
Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.