Schlafe, mein Wähler, schlaf ein

Der exzessive TV-Wahlkampf fordert bei Protagonisten und Publikum seinen Tribut

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Es sollte das "Rückspiel" des TV-Duells von vor acht Tagen werden (vgl. Gefühlte Kanzlerschaft). Die ARD mühte sich nach Kräften, ihre Sendung "Die Favoriten – Spitzenpolitiker im Kreuzverhör" zum TV-Ereignis hochzustilisieren. Sechs Tage vor der Wahl war es tatsächlich der letzte große Schlagabtausch zwischen den Parteien. Dazu trat auch das gesamte Spitzenpersonal vor die Kameras: von Schröder und Merkel über Fischer, Stoiber und Westerwelle bis zu Gysi. Doch trotz aller rhetorischen Bemühungen und inszenierten Aufgeregtheiten blieb es merkwürdig ruhig in der Runde. Die politischen Inhalte unterscheiden sich unter dem Strich nicht sehr und das mediale Pflichtprogramm konnten die Kandidaten nur mit Mühe erfüllen. Auch die Gäste im Fernsehstudio schienen zwischenzeitlich eingeschlafen zu sein. Die Sendung wurde zum Opfer der medialen Überversorgung: jede Phrase, jedes Argument und Gegenargument wurde in den unzähligen Fernsehduellen zuvor bereits gesagt. Der Informationswert ging gegen Null, der Unterhaltungswert ging gleich mit.

Die Ankündigung in der Programmzeitschrift war reißerisch: "Die Favoriten – Spitzenpolitiker im Kreuzverhör" wurde den Zuschauern versprochen. Was sich die verantwortlichen Sender MDR und HR bei dem Titel gedacht haben, blieb semantisch und konzeptionell rätselhaft: Weder können gleich alle Anwesenden zu "Favoriten" erklärt werden, noch gab es in der Sendung ein einziges "Kreuzverhör" durch die Moderatoren. Vielmehr ließen sie dem offenen Schlagabtausch freien Lauf und zogen sich auf die Herstellung von Ruhe und die Verteilung der Redezeiten zurück.

Starker Auftakt für Rot-Grün

Zu Beginn des Schlagabtauschs besaß Rot-Grün mit Abstand den größeren Unterhaltungswert. Kanzler und Außenminister saßen in aller Ruhe zurückgelehnt in ihren Sitzen, ließen die Angriffe abprallen und zeigten sich angriffslustig. Sie präsentierten sich als eingespieltes Team, versichern sich gegenseitig ihrer Wertschätzung und politischen Fähigkeiten und griffen die Gegner gemeinsam an. Bei beiden stellt sich die Frage, ob sie ohne Medien und insbesondere ohne das Fernsehen überhaupt so weit nach oben gekommen wären. Der Medienkanzler schafft diesmal am besten, sich als seriösen, standhaften und kompetenten Krisenmanager zu präsentieren. Er gibt sich mal jovial, mal aggressiv und hat die Situation immer unter Kontrolle zu halten. Auch gegen die Moderatoren setzt er sich mühelos durch. Angela Merkel müht sich redlich, die Fehler der Regierung aufzuzeigen und ihre Vorstellungen von zukünftiger Politik dagegenzusetzen. Doch es gelingt weder ihr, noch Edmund Stoiber, ihre politische Inhalte in klare Botschaften zu verwandeln. Die rhetorische Kraft verpufft in Nebensätzen. Da setzte Westerwelle mit einem aggressiven Eingangsstatement klarere Zeichen. Ganz staatstragend verwahrte sich der frühere Spaßpolitiker angesichts der gesellschaftlichen Situation gegen die "noch so guten Pointen, Witzchen und lockeren Sprüche" der Regierungsvertreter.

Beide Seiten waren bemüht, die minimalen programmatischen Unterschiede zu großen Richtungsentscheidungen aufzublähen. Besonders Joschka Fischer beschwor den Unterschied zwischen der Politik von Rot-Grün, die den "Sozialstaat erneuern" möchte, und der Absicht der Gegner, den "Bruch mit dem Sozialstaat" zu beabsichtigen. Mit diesen rhetorischen Scharmützeln ging die erste Runde an Rot-Grün, zumindest wenn man den Applaus als Maßstab nimmt. Gleich zu Beginn gab es zweimal starken Applaus für den Kanzler und seinen Außenminister, erst danach wachten auch die CDU- und FDP-Anhänger im Studio auf.

Tödliche Wahlkampfroutine

Aber selbst die beiden versierten Fernsehpolitiker Schröder und Fischer wirkten nach einer halben Stunde erschöpft. In den folgenden Auseinandersetzungen waren die thematischen Frontverläufe schnell klar und längst bekannt: Rot-Grün pries ihre außenpolitische Standhaftigkeit in Kriegsfragen und die Kraft zur Durchsetzung von Reformen. Schwarz-Gelb warb für neue Steuerkonzepte, um die Arbeitslosigkeit zu senken, Wirtschaftkraft zu stärken und die leeren öffentlichen Kassen zu füllen. Die Linkspartei freute sich, dass sie allein schon durch ihre Neugründung die SPD zu einer sozialeren Programmatik gezwungen hat. Aber Gregor Gysi hatte keinen guten Tag, konnte kaum Akzente setzen und begnügte sich mit der ihm zugewiesenen Rolle als nicht ganz ernstzunehmendem Diskussionsteilnehmer.

In der Folge kam es zu einer unerquicklichen und detailversessenen Debatte um die Steuer- und Abgabenpolitik: Mehrwertsteuer rauf oder runter, Lohnzusatzkosten senken, "steuerliche Ausnahmetatbestände" streichen, Bürokratie abbauen, Eingangssteuersatz, Spitzensteuersatz, Bürgerversicherung, Systemwechsel... Da wurden "falsche Fakten" und Rechenfehler vorgeworfen, die Finanzierbarkeit in Frage sowie die Sozialverträglichkeit in Abrede gestellt. Es wurde gestört, unterbrochen und mit allen Mittel versucht, den Gegner aus dem Konzept zu bringen: es waren die üblichen Spielchen, die das Publikum im Studio zum Einschlafen brachten. Nach 45 Minuten war für lange Zeit nichts mehr aus dem Off zu vernehmen.

So gingen auch die restlichen Minuten dieses allzu routinierten Wahl-TV ohne nennenswerte Ereignisse zuende. Nur an ein paar Stellen wurde in der Diskussion die Dramatik der gesellschaftlichen Situation sichtbar: seit der Arbeitsmarktreform leben weitere 700.000 Kinder in Armut, insgesamt sind es damit 1,7 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen ist weitaus größer als in der Statistik ausgewiesen und liegt vermutlich zwischen sechs und sieben Millionen. Die oberen 10% der Bevölkerung besitzen 50% des Reichtums und sind in den vergangenen sieben Jahre um 420 Milliarden Euro reicher geworden. Doch welche Volkspartei kann die Probleme lösen? Angela Merkel meinte mit Blick auf den Stillstand der letzten Jahre der Kohl-Ära und den Regierungswechsel 1998, als Rot-Grün an die Macht kam: "Sie haben es auch nicht geschafft wie wir damals". Das klingt für die Zukunft nicht sehr ermutigend, egal wer von beiden die Regierung stellt. Darum sind die medialen Ermüdungserscheinungen dieser Tage eher eine kleine Randnotiz. Viel alarmierender ist die inhaltliche Ermüdung der großen Parteien.