Schmilzt das Eis an den Polen schneller als erwartet?

ESA Satellit Cryosat soll 2004 die Eismasse der Erde vermessen

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Zwischen 1978 und 1996 soll einer auf weltweiten Messungen basierenden Studie des international angesehenen Worldwatch-Instituts zufolge das arktische Eis, das etwa eine Fläche von der Größe der USA bedeckt, bereits um sechs Prozent geschrumpft sein. 34.000 Quadratkilometer Eis - eine Fläche von der Größe Nordrhein-Westfalens - ändert jährlich ihren Aggregatzustand und verflüssigt sich. Das Eis an den Polen schmilzt nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen schneller als erwartet, so dass weltweit ein drastischer Anstieg des Meeresspiegels bevorsteht. Mitte April 2004 soll der ESA-Satellit aufdecken, wie viel Eis an den Polen tatsächlich schon geschmolzen ist.

Pine Island Gletscher

Es sind kalte, nackte Zahlen; aber deren Tragweite ist kaum abzusehen. Seit 1993 nimmt das Eis an den südlichen und östlichen Rändern der Arktis um durchschnittlich einen Meter pro Jahr ab. Geradezu katastrophal ist die Situation der kontinuierlich schrumpfenden Gletscher in der Antarktis. Nach Auswertung von Satellitendaten kommen Andrew Shepherd von der Climate Physics Group am University College London und seine Kollegen zu dem Ergebnis, dass von 1992 bis 2000 mehr als 30 Kubikkilometer Eis geschmolzen und ins Meer geflossen ist. Den Hauptgrund dafür sehen die Forscher in der beschleunigten Bewegung des Pine-Island-Gletschers, der rund zehn Prozent des antarktischen Eisschildes ausmacht. Dadurch strömt zehnmal so viel Wasser ins Meer wie im Landesinneren durch Schneefälle erneuert wird. Hält dieser Trend an, dauert es noch 600 Jahre, bis der größte Teil des Gletschers schwimmt. Dies hätte allerdings dramatische Auswirkungen auf die Meeresspiegel.

In 100 Jahren fünfzig Prozent weniger Gletscher

Derweil befürchten schon die ersten Wissenschaftler, dass bis zum Jahr 2050 nahezu ein Viertel, bis 2100 sogar die Hälfte der Gletschermasse auf der Erde verschwunden sein könnte. Größere Flächen würden nur in Alaska, Patagonien und im Himalaya übrig bleiben. Fatal könnten nach Einschätzung der Experten in absehbarer Zeit die klimatischen Rückwirkungen sein, die das Verschwinden der Eismassen auf der Erde begünstigen. Denn je mehr Polareis verschwindet, das große Mengen an Sonnenenergie reflektiert und die Erde dadurch kühl hält, desto stärker schreitet die Eisschmelze voran. Genau dieser Trend ist weltweit zu beobachten: Schrumpfte in Alaska seit 1982 der Columbia-Gletscher um 13 Kilometer, so sind seit 1850 bereits 100 der 150 Gletscher des amerikanischen Montana Glacier National Parks komplett geschmolzen. Die restlichen 50 werden in den kommenden 30 Jahren verschwinden.

Ebenfalls hochdramatisch präsentiert sich das von dem australischen Wissenschaftler Bill Budd vom Zentrum des Antarktischen Forschungsverbundes erstellte Computermodell. Danach hat sich in der Antarktis die Atmosphäre in den vergangenen 50 Jahren um 2,5 Grad Celsius erwärmt. Und infolge der Zunahme der Treibhausgase wird die Erderwärmung fortschreiten, was wiederum zur Folge hat, dass sich in den kommenden fünf Jahrhunderten nahezu alle Eisschollen auflösen.

Alarmierend ist auch das Resultat von Robert Harris und David Chapman von der University of Utah. Beide Forscher nahmen 1998 die Sisyphusarbeit auf sich und gruben 430 Bohrlöcher, um die Erwärmung auf dem Festland der nördlichen Hemisphäre zu messen. Das gewonnene Datenmaterial verglichen sie mit den Wetteraufzeichnungen der vergangenen 100 Jahre. Ihr Ergebnis: Der durchschnittliche Temperaturenanstieg beträgt seitdem 1,1 Grad Celsius.

Bislang noch keine flächendeckende Langzeitbeobachtungen

Das Landeis Grönlands und das Eis des antarktische Kontinents besteht im Gegensatz zum Meereis aus Gletschereis, welches sich aus gefallenem Schnee gebildet hat. Dieses Eis ist bis zu vier Kilometer mächtig und teilweise mehrere hunderttausend Jahre alt. Es beinhaltet 95 Prozent der Süßwasservorkommen der Erde. Allein in der Antarktis (folgende Zahlen gelten nur für den Südpol) gibt es rund 11,5 Millionen Kubikkilometer Eis. Etwa 84 Prozent des Gletschereises der Welt befindet sich dort. Würde die Antarktis vollständig abtauen, hätte dies einen Anstieg des Meeresspiegels um 72 Meter zur Folge.

Satellitenaufnahme Victoria-Land - Antarktis

Bei alledem liegen bislang nur punktuelle, aber keine zusammenhängende, vor allem langfristige direkte Beobachtungen von Veränderungen der Eismassen vor. Wenngleich Langzeitbeobachtungen aufgrund der gewaltigen Größe der Arktis und Antarktis flächendeckend nur mit Hilfe von Satelliten durchzuführen sind, so haben Forschungssonden bislang lediglich die Ausdehnung des Eises, nicht aber seine Dicke bestimmen können. Tatsächlich zeigen Daten amerikanischer Wettersatelliten, dass die Ausdehnung des Meereises in der Arktis in den letzten dreißig Jahren an den Rändern um etwa neun Prozent abgenommen hat. Meereis ist jedoch nur eine ein bis vier Meter dicke Schicht gefrorenen Meerwassers, die den Arktischen Ozean und den Südozean rund um den antarktischen Kontinent bedeckt. Beobachtungen der Flächenausdehnung ermöglichen noch keine Aussagen über das Volumen. Dazu sind Dickenmessungen des Meereises erforderlich. Diese wurden bisher in der Arktis nur sehr sporadisch von Atom-U-Booten der US-Marine durchgeführt. Obwohl auch diese räumlich begrenzten Messungen eine Dickenabnahme seit den fünfziger Jahren andeuten, lassen sie keine Aussagen über die Entwicklung der gesamten Eismassen zu. Zwar hat in der Antarktis die Meereis-Bedeckung in den letzten dreißig Jahren sogar leicht zugenommen; doch in Wahrheit zehrt die Eisschmelze am Volumen der Schollen. Vorerst verkleinert sich also nicht die Fläche, sondern das Volumen. Wie das Gesamtvolumen der Eismasse rund um den Globus ist, ist jedoch nach wie vor völlig offen.

Cryosat soll Datenlücke schließen

Eben diese Informationslücke soll in drei Jahren der europäische Kleinsatellit Cryosat schließen, der eigens für die Beobachtung des gesamten Eisvorrates der Erde konstruiert wurde. Während eines wissenschaftlichen Workshops im Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI diskutierten und koordinierten Ende Mai dieses Jahres 25 deutsche Wissenschaftler der Universitäten Dresden, Freiburg, Trier, Darmstadt, Münster, München und Vertreter der ESA das Aufgabenfeld der Mission.

Um eine bessere Abschätzung der gesamten Meer- und Landeismassen zu ermöglichen, wurde die Radaraltimeter-Mission Cryosat konzipiert. Dies ist die erste Mission im sogenannten Earth Opportunity Missions Programm der ESA, welches mit relativ kleinen und kostengünstigen Satelliten begrenzte, rein wissenschaftliche Probleme lösen soll.

Der Satellit Cryosat hat ein neuartiges Radaraltimeter (SIRAL: Synthetic Aperture Interferometric Radar Altimeter) an Bord, mit dem eine Messgenauigkeit von ein bis drei Zentimetern bei der Dicke des Meereises und für die Höhe der Landeismassen angestrebt wird. Mit Radaraltimetern kann man die Höhen der Erdoberfläche bestimmen. Dabei werden Radarwellen zur Erde ausgestrahlt und die Laufzeit bis zu ihrer Reflexion zum Satelliten zurück gemessen. Außerdem kann dieses Altimeter die stark geneigten Ränder der Eisschilde genau erfassen, die sich bislang nur unzureichend von Satelliten aus vermessen ließen. Die hohe räumliche Auflösung des Satelliten ermöglicht es, sogar einzelne Eisschollen zu unterscheiden.

Cryosat-Satellit

Wenn Cryosat voraussichtlich im April 2004 startet, werden für die Dauer der Mission von drei bis sechs Jahren Beobachtungen der Zu- oder Abnahme der Eisdicken vorliegen. Cryosat wird von der Astrium GmbH in Friedrichshafen am Bodensee gebaut. Deutsche Wissenschaftler waren maßgeblich bei Planung, Konzeption und Durchsetzung der Mission beteiligt. Das Gesamtbudget der Mission beläuft sich auf 100 Millionen Euro. Um die Cryosat-Daten regelmäßig mit Messdaten aus den Polargebieten zu vergleichen und ihre Genauigkeit zu kontrollieren, werden gesonderte Polarexpeditionen folgen. Aufgrund der logistischen Möglichkeiten des Alfred-Wegener-Instituts mit Landstationen, Forschungsflugzeugen und dem Eisbrecher Polarstern werden deutsche Gruppen wichtige Funktionen im Rahmen der Gesamtmission übernehmen.