Schöne Zahlen für Hochglanzbroschüren

Interview mit Dieter Klumpp, Geschäftsführer der Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung, über den "Fortschrittsbericht Informationsgesellschaft" der Bundesregierung

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Im Gespräch mit Telepolis kritisiert Dieter Klumpp, der Leiter der Alcatel SEL Stiftung und unter anderem in der Arbeitsgruppe "Vorreiterrolle des Staates" der Initiative D21 engagiert, dass sich die Bundesregierung mit ihrem Report zum Stand der vernetzten Nation nun auch am folkloristischen Benchmarking-Wettbewerb beteiligt und wie ihre Vorgänger durch zersplitterte Zuständigkeiten den Weg der Abschaffung der Innovationspolitik konsequent fortgesetzt hat.

Das Bundeskabinett hat Mitte vergangener Woche den Fortschrittsbericht Informationsgesellschaft Deutschland verabschiedet und sich dabei kräftig auf die Schultern geklopft. Man sei dank des Aktionsprogramms Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts, das die Bundesregierung vor zweieinhalb Jahren aufgelegt hatte und die Grundlage des Berichts darstellt, weit vorangekommen mit der Vernetzung der Gesellschaft.

Die Bedeutung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien in Gesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung hat seit der Verabschiedung des Aktionsprogramms der Bundesregierung "Innovation und Arbeitsplätze" im September 1999 "in beeindruckendem Maße" zugenommen, heißt es im Berliner "Fortschrittsbericht Informationsgesellschaft". Wäre das ohne das Aktionsprogramm anders gewesen?

Dieter Klumpp: Es ist ein Fortschrittsbericht, kein Ergebnisbericht. Insofern stimmt der Eindruck schon. Ohne das Aktionsprogramm wäre der quantitative Zuwachs bei der PC-Vernetzung in vielen Sektoren sicher nicht so schnell erfolgt. Andererseits ist das Aktionsprogramm, dessen Kern ja im August 1998 noch als umfassend angelegter "Masterplan" diskutiert wurde, nur für den Teilbereich Electronic Government umgesetzt worden. Parallel dazu agieren D21 und Forum Informationsgesellschaft für dasselbe Ziel. Aber statt einmal kräftig anzustoßen, kann man auch vielfach anschubsen, das ist wohl Temperamentssache.

Wie weit haben die Bürger, Unternehmen und Behördenmitarbeiter tatsächlich das Internet als Lebensader entdeckt? Sind wir dank zweieinhalb Jahren Aktionsprogrammierung tatsächlich in der Informationsgesellschaft angekommen?

Dieter Klumpp: In den Unternehmen wird das Potenzial der Vernetzung offensichtlich immer mehr genutzt, während der PC vorher jahrelang eine Art Komfortschreibmaschine war, die höchstens per Email das Porto einsparte. Der Bürger überlegt immer noch, ob in seiner Lebenslage das Internet zur Lebensader werden könnte, wenn er öfter als bisher Autos anmeldet, sich einen Dritthund anschafft, vor allem: täglich einen Auszug aus dem Personenstandsregister anfordert. Die Behörden haben sich in drei Lager - übrigens aller Altersklassen - aufgeteilt: 10 Prozent Innovationsvorreiter, die am liebsten gar kein Papier mehr verwenden wollen, 20 Prozent Bedenkenträger, die mit viel kreativer Hingabe beweisen, dass unsere wohl geordnete Verwaltung mit der Informatisierung bald kollabiert. Der Rest in den Behörden ahnt, dass E- Government nicht nur Modernisierungschance, sondern auch Rationalisierungspotential bedeutet, und fürchtet sich.

Wo hapert es besonders?

Dieter Klumpp: Infrastrukturen bestehen aus Technik, Organisation und Gewöhnung beziehungsweise Umgangskompetenz. Der feste Glaube, man könne die bisherige Organisation, also zum Beispiel einen Verwaltungsprozess, einfach eins zu eins in die PC-Vernetzung umsetzen, behindert nachhaltige organisatorische Reformen. Ich habe mal überlegt, wie man den auf Karton gedruckten Immatrikulationsnachweis meines Sohnes zum Zwecke der Kindergeldzahlung "elektronisieren" könnte. Herausgekommen ist bei allen Varianten eine obsolete Kindergeldkasse bei der Arbeitsverwaltung - natürlich eine undenkbare Reform.

Ist das Aktionsprogramm im Bundeskabinett überhaupt richtig aufgehängt?

Dieter Klumpp: Es gibt schon seit der letzten Regierung kein Ressort mehr, das für ein Querschnittsprogramm zuständig wäre. Es gibt keinen Telekommunikationsminister mehr und einen Infrastrukturminister gibt es immer noch nicht. Die deutsche Wirtschaftspolitik arbeitet schon im dritten Jahrzehnt an der Abschaffung der Innovationspolitik, weil sie sich lieber auf den Wettbewerb verlassen will. Das ist erstens billiger und zweitens weniger riskant. Das Feld E-Government ist sicher beim Bundesinnenministerium richtig aufgehängt, aber selbst eine so kompetente Staatsekretärin wie Frau Zypries kann das ja nicht mit Forschung, Wirtschaft, Verkehr, Medien, Gesundheit und Landwirtschaft koordinieren. Und das Kanzleramt kann nur moderieren, für mehr sind keine Ressourcen da.

Stimmen die Rahmenbedingungen für den E-Commerce? Laut Bundesregierung haben Gesetze wie das zum elektronischen Geschäftsverkehr (EGG) sowie das Feilen am Signaturgesetz "Vertrauen und Sicherheit" gestärkt.

Dieter Klumpp: Nach vier Jahren Signaturgesetz kann man wirklich nur erleichtert feststellen, dass mehr als zehn Prozent der Akteure schon verstanden haben, was eine "Public Key Infrastruktur" ist und einige sogar, was der Unterschied zwischen einer qualifizierten und einer zertifizierten Signatur ist. Die mittelständische Wirtschaft etwa vertraut inzwischen fest darauf, dass sie niemand zur Innovation zwingen wird.

Wie steht Deutschland im Vergleich zu anderen Nationen da? Der Fortschrittsbericht geht von einer zumindest "europaweiten Spitzenstellung" aus.

Dieter Klumpp: Die meisten Vergleiche sind normativ aus der Luft gegriffen, weil die notwendige Zahlenbasis nicht vorhanden ist und weil die Bewertungskriterien je nach Auftraggeber frei flottieren. Insofern ist ein folkloristischer "Benchmarking"-Wettbewerb entstanden, der zum Beispiel dazu führen wird, dass eher Tausende von Gemeinden ihre eigene "Best Practise" ins Netz stellen, als mit den Nachbargemeinden zu kooperieren. Das Benchmarkertum ist, als würde man in einem Krankenhaus mit erster Priorität bei allen Patienten alle zehn Minuten das Fieber messen, die Statistik international vergleichen und alle als geheilt nach Hause schicken.

Gibt es ein Feld im E-Bereich, dem sich die Bundesregierung tatsächlich verschrieben und dadurch die Weltmeisterschaft errungen hat?

Dieter Klumpp: Außer dem Rekorderlös aus der UMTS-Versteigerung fällt mir keine Weltmeisterschaft ein. Einem der härtesten, weil liberalisiertesten Betreibermärkte der Welt den Schröpfkopf anzusetzen und zur eigenkapitalfreien Zone zu machen, ist schon eine tolle Leistung. Dass dies auch unter dem Beifall der betroffenen Branche geschah und alle sechs Lizenznehmer sich vor Kameras freuten, verweist auf eine hoch entwickelte Konsensgesellschaft. Zehn Prozent von dem Erlös in innovative Infrastrukturen - etwa eine Settop-Box in jeden Haushalt - und wir wären IT-Weltmeister Platz eins bis drei geworden.

Kein Wort verliert der Bericht interessanterweise über die bis zum Wahljahr 2002 versprochenen 350.000 neuen Arbeitsplätze in der IT-Branche. Kriegt das die Bundesregierung bis zum Herbst noch hin?

Dieter Klumpp: Meines Wissens hat die Bundesregierung stets nur die von Unternehmen herausgegebenen Zahlen wiedergegeben. Die Unternehmen, die vor zwei Jahren am lautesten den höchsten Aufwuchs an Arbeitsplätzen ankündigten, gibt es außer im Penny-Stock nicht mehr. Die Zweitlautesten haben heute de facto Einstell-Stopp. Trotz allem scheint die IT-Branche weiterhin die dynamischste Branche zu sein, da wäre es für eine Regierung töricht, ihrer Enttäuschung freien Lauf zu lassen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass der Bundeskanzler die Branche schon bald fragt, wie sie künftig zu etwas weniger ausgeprägten "Diplom-Schweine-Zyklen" kommen will. Einen echten Erfolg hat die Bundesregierung unter Wert abgehandelt: Die anfangs belächelten Kampagnen von "Frauen und IT" scheinen zu greifen, bald werden wohl mehr Nutzerinnen als Nutzer am Netz sein (Frauen erobern das Internet.

Das Bundeskabinett will mit dem Bericht auch "einen Ausblick auf die Weiterentwicklung der Informationsgesellschaft" geben und "die zentralen politischen Herausforderungen für die Zukunft" aufzeigen. Sehen Sie in dem Werk die von Ihnen seit längerem angemahnten "Aktivziele", von denen Impulse für Wirtschaft und Verwaltung ausgehen könnten?

Dieter Klumpp: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die besagten "Aktivziele" - etwa der Umstieg auf eine Querschnitts-Infrastrukturpolitik - ohne Strukturveränderungen verfolgt werden können. "Die Richtung stimmt", mehr sollte der Fortschrittsbericht gar nicht sagen. Natürlich will jeder verantwortliche Akteur nach über einem Jahrzehnt Herumirren aller Beteiligten am liebsten ein Powerpoint-Chart, auf dem mit vier Dots eine komplett neue Strategie steht, die schon im nächsten Quartal allen Unternehmen die Bücher füllt, allen Verbänden und Initiativen die Mitglieder und allen Politikern die Wähler zutreibt. Dieses Chart wird es aber nicht geben.

Verbände wie Bitkom haben sich mit ihrer Kritik an dem Fortschrittsbericht deutlich zurückgehalten. Geht es trotz leerer Staatskassen um die Hoffnung auf Fördertöpfe oder schlittert die IT-Branche vor der CeBIT in eine konsensual-halluzinogene Realitätsverblendung?

Dieter Klumpp: Es ist in Wirtschaft und Politik seit zwei Jahrzehnten leider immer mehr in Mode gekommen, statt der "Problemdiskussion" die Vokabel "Umsetzung" zu bevorzugen. Nach jahrelangen Umsetzungsankündigungen wäre es nun aber wieder mal an der Zeit, über aktive Strukturveränderungen zu diskutieren anstatt passiv auf Zyklen zu setzen.