Schrei nach Liebe
Das skurrile Verhalten der politischen Führung Polens erstaunt nicht nur das Ausland, sondern auch die Polen selbst. Bei allen Differenzen haben die Kaczynski-Brüder mit dem Durchschnittspolen jedoch eines gemeinsam: das Verlangen nach Anerkennung
Am Freitag, dem 7. Juli erklärte Polens Premierminister Kazimierz Marcinkiewicz seinen Rücktritt (Zwei Ämter, ein Gesicht). Obwohl im politischen Warschau heimlich seit Wochen über einen möglichen Wechsel an der Regierungsspitze geflüstert wurde, traf dieser Schritt die Polen völlig unerwartet, denn Marcinkiewicz hat sich in dem halben Jahr seiner Regierungszeit zum beliebtesten Politiker Polens entwickelt. Trotz unpopulärer Koalition brachte es der Premier selbst auf Zustimmungswerte um die 60-70%. Die Sympathie, die ihm die Polen parteiübergreifend entgegenbrachten, wurde ihm nun zum Verhängnis.
Denn für die Kaczynski-Brüder selbst lief es nicht so gut. Präsident Lech gab sich bereits nach einigen Wochen der Lächerlichkeit preis, als er dem ehemaligen kommunistischen Machthaber General Jaruzelski „aus Versehen“ eine Ehrenmedaille verlieh. Auf seinen Auslandsreisen wurde er von wütenden Bürgerrechtlern empfangen – sein früheres Vorgehen gegen Schwulendemos als Bürgermeister von Warschau wurde ihm bis in das Audimax der Humboldt-Universität und in die Straßen Chicagos nachgetragen.
Strippenzieher Jaroslaw hingegen konnte für seinen populären Premier keine Mehrheiten besorgen und willigte nach hilflosen Monaten der Minderheitsregierung und des Neuwahlenversuchs schließlich ein, Polens zwei bisher politisch isolierte populistische Extremparteien in die Regierung aufzunehmen: Die Bauernpartei Samoobrona (Selbstverteidigung) und die nationalistisch-katholische Liga der Polnischen Familien (LPR). So schloss PiS im Mai die Koalition der Transformationsverlierer mit dem mehrfach vorbestraften Bauernführer Andrzej Lepper als Agrar- und dem als extrem nationalistisch geltenden Vorsitzenden der Liga Roman Giertych ausgerechnet als Bildungsminister. Das wiederum jagte die moderaten Gestalten der Mitte aus der PiS-Regierung: Außenminister Meller verabschiedete sich unmittelbar nach Bekanntwerden der neuen Koalition, die angesehene Finanzministerin Gilowska wirkte nach erstem Schock erleichtert, als sie im Juni über einen skurrilen Stasi-Vorwurf stolperte und entlassen wurde.
Premierminister Marcinkiewicz aber blieb und Polen dankte es ihm mit ungebrochener Sympathie. Solange der vernünftige und freundliche Physiklehrer die Regierung führte, schien man vor Abenteuern seiner unberechenbaren Minister sicher. PiS konnte Marcinkiewiczs Popularität gut gebrauchen, denn die Kaczynski-Zwillinge zogen immer mehr Unmut auf sich. Inländische Kritik an ihrer Politik steckten die Brüder gut weg, schlimmer als inhaltliche Kritik traf sie der Spott. Das war schon immer ihr Schwachpunkt gewesen, denn zum Spotten boten die Kaczynskis viel. Allein ihr Zwillingsdasein reicht zum Lacher: Wer ist wer? Tauschen sie mal Rollen, einfach so zum Spaß? Dann ihre Hauptrolle in dem Kinderfilm aus den Sechzigern, ausgerechnet mit dem Titel „Von Zweien, die den Mond stahlen“. Wie oft wurde schon in den Medien das Wort „Mond“ durch „Polen“ ersetzt? Obgleich sie als Kinder Filmstars waren, fehlt ihnen im Alter Charisma; sie sind klein, dicklich, blass. Die Sprache monoton, schläfrig, quakend. Der Name Kaczynski kommt von Kaczor – Enterich. So wurde die gelbe Gummiente zum Erkennungszeichen der Kaczynski-Gegner, man findet sie überall auf T-Shirts und Blogs.
Neben diesen unverschuldeten Eigenschaften, kommt ihre Humorlosigkeit, die Unfähigkeit, den Spott mit einer eigenen Pointe oder einem Lächeln abzuwehren. Und dann die peinlichen Ausraster und Aussetzer. Bei einem mittlerweile legendären Wahlkampfauftritt während der Kampagne für das Amt des Bürgermeisters von Warschau vor vier Jahren wehrte Kandidat Lech einen aufdringlich fragenden älteren Fußgänger mit den Worten ab: Spieprzaj Dziadu! – zu Deutsch etwa: Verpiss Dich, Opa! Das von dem moralischen Erneuerer Polens. Unter spieprzajdziadu.pl treffen sich heute Anhänger des neuen polnischen Nationalhobbies Kaczynski-Bashing. Gegen den Spott wirken sie hilflos, sie sind angreifbar, lassen sich provozieren. Vor zwei Jahren wurde Lech Opfer eines Tortenangriffs und rief sofort nach einem strafrechtlichen Exempel.
Niederlagen und Misserfolge prägen die polnischen Identität
Doch noch schlimmer als Kritik und Spott aus dem Inland sind Angriffe aus dem Ausland. Denn da wird nicht nur ein wunder Punkt der Kaczynskis gereizt, sondern der eines großen Teil des polnischen Volkes. Polen ist zutiefst von dem Streben nach Anerkennung geprägt. Die Polen waren und sind davon besessen, wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden. Das wird von manchen Außenstehenden als Chauvinismus empfunden. In Wahrheit basiert diese polnische Eigenart jedoch viel weniger auf chauvinistischer Selbstüberschätzung, als auf dem Gegenteil, einer ständig selbst erlebten und selbst vollführten Herabsetzung seiner selbst. Die polnische Geschichte der letzten dreihundert Jahre – also der Zeit, in der sich die modernen europäischen Nationalidentitäten ausbildeten - ist vor allem eine Reihe unaufhaltsam aufeinander folgender Misserfolge und Demütigungen.
Die einst erfolgreiche polnische Adelsrepublik schaffte den Sprung in die Moderne nicht – im achtzehnten Jahrhundert vegetierte der Staat schwach, arm, von Lehnsherrschaft geknechtet und den Egoismen adeliger Magnaten zerrissen vor sich hin. Polen wurde zum Spott der westlichen Aufklärer, allen voran Voltaire. Dann folgte die Zeit der Teilungen. Das 19. Jahrhundert, das Jahrhundert Europas, verstrich für die Polen als Zeit der Fremdbestimmung und nationaler Demütigung. Im zwanzigsten Jahrhundert wie durch ein Wunder die Unabhängigkeit wieder erlangt – denn wie oft passiert es, dass drei Okkupanten untereinander Krieg führen und alle drei diesen verlieren, wie im Fall des Ersten Weltkrieges – ging der Misserfolg weiter, denn man schaffte es nicht, Armut, Rückständigkeit und politisches Chaos zu beseitigen, obwohl man die lästigen Besatzer losgeworden ist. Dann das Desaster des Zweiten Weltkrieges, die größte Demütigung überhaupt, man wurde zum hilflosen Opfer eines rassistischen Vernichtungskrieges, war als Sklave eingeplant in die Weltordnung der Zukunft, das Land wurde zum Ort der Auslöschung der eigenen wie der europäischen jüdischen Bevölkerung. Das Ende des Alptraums wurde zur nächsten Demütigung, als Spielball der Großmächte wurde man verschoben, herumgetrieben, den Sowjets verkauft. Wieder Fremdbestimmung, wieder Rückständigkeit, wieder Armut, wieder eigene Unzulänglichkeit.
Seit jeher streiten polnische Historiker, wer an der immerwährenden nationalen Misere mehr Schuld trägt, die Polen selbst oder die anderen, die Aggressoren, Besatzer, Minderheiten. Sei man nun Verlierer oder Opfer? Die einen sahen die Teilungen als Folge der internen Schwäche der Adelsrepublik, der Selbstsucht der Magnaten, der Reformunwilligkeit, der Ausbeutung der Bauern. Die anderen suchten die Schuld eher im Ausland, bei den Preußen und Russen und den indifferenten Europäern. Das Schema setzte sich in der Zwischenkriegszeit fort. War es die eigene Schuld, die polnische Krankheit, aus der neuen Unabhängigkeit nicht etwas machen zu können, oder waren es die Deutschen, die Juden, die Ukrainer, die Versailler Grenzzieher, die den Erfolg des Staates verhinderten?
Die ständige Niederlage und der Misserfolg ist der Kontext der polnischen Identität, das ist der Grund, wieso Geschichte eine so große Rolle in der heutigen polnischen Kultur spielt. Es ist ein nationales Trauma, das sich nicht wie in Deutschland auf eine kurze Zeitperiode beschränkt, sondern aus der gesamten modernen Geschichte Polens rührt. Anders als der sich selbst überhöhende Nationalismus, der in Polen ein marginales, wenn auch manchmal lautes Dasein fristet, bedeutet polnischer Patriotismus eher, dass man sich nicht verleugnet.
Wie in anderen Nationen auch klammert man sich deshalb an die Glanzmomente der vergangenen Jahrhunderte. Für Polen sind das die Reformbewegung im 18. Jahrhundert, die polnische Aufklärung, die erste europäische Verfassung. Dann die heroischen Aufstände gegen die Teilungsmächte. Schließlich der Widerstand gegen die Nazis im September 1939, dann die Partisanen, die Untergrundarmee, der Warschauer Aufstand. Diese Ereignisse haben jedoch eines gemeinsam: Sie alle scheiterten. Ihre Helden sind tragisch. In Polen feiert man gewonnene Schlachten aus verlorenen Kriegen, denn die Realität scheint düster.
Der nationale Selbstzweifel und die Suche nach Bestätigung bestimmen die polnische Identität bis heute. Daraus ergibt sich die polnische Lesart der Geschichte, sie konzentriert sich auf drei Aspekte: Zum einen ist da der ewige Opferstatus, der erklären lässt, wieso alles immer so dermaßen schief lief. Man wurde Opfer des aggressiven Absolutismus der Preußen und Russen, Opfer der Nazis, Opfer der Nachkriegsordnung. Zweitens gibt ess die Helden, die sich dem traurigen Schicksal nicht beugen wollten, sie retten das nationale Selbstwertgefühl. Der letzte Aspekt ist die scheinbare Unfähigkeit, aus seinen Chancen etwas zu machen aufgrund von Selbstüberschätzung, Egoismus und Inkompetenz. Schmerzhaft wie es ist, widmen die Polen diesem Punkt seit jeher verstärkte Aufmerksamkeit. Diese angebliche „polnische Krankheit“ ist neuerdings unter dem von Nationalisten verhassten Ausdruck „polactwo“1 bekannt.
Man kann den Polen nun vorwerfen, sie wären anachronistisch, lebten in der Vergangenheit, während Europa und die Welt in dem postnationalen 21. Jahrhundert angekommen sind. Doch damit übersieht man, dass Geschichte und nationale Identität trotz oder wegen wirtschaftlicher und politischer Globalisierung nach wie vor überall hoch im Kurs stehen. Man blicke da nur auf die ewige „neue“ deutsche Patriotismusdebatte oder die französischen Fixierung auf die Revolution. Man braucht auch nur einfach mal nach Washington D.C. reisen, um festzustellen, dass die gesamte Stadt ein der amerikanischen „civil religion“ geweihter Tempel ist. Lässt man die Vergangenheit ruhen, dann eher weil es unbequem ist, sie aufzurollen: Man denke an das spanische Schweigen zu Franco oder die in Italien oft gepflegte Ignoranz gegenüber dem Faschismus.
Helden und Opfer
Der Eindruck der Befremdung bei der Betrachtung des polnischen Umganges mit Geschichte liegt viel mehr daran, dass sich ihre spezifisch polnische Lesart weitgehend unabhängig von der im Ausland entwickelte. Die westeuropäische Tradition der Ignoranz gegenüber dem östlichen Teil des Kontinentes mal bei Seite lassend, entstand die polnische Geschichtsinterpretation in der Käseglocke des polnischen Realsozialismus als eine dialektische Synthese aus offizieller kommunistischer Geschichtsschreibung und inoffizieller nationaler Gegendarstellung. In beiden Denkrichtungen gab es Opfer, Helden und die eigene Schwäche. Aus kommunistischer Sicht war Polen Opfer des Feudalismus, des deutschen Drangs nach Osten, des korrupten Kapitalismus der Zwischenkriegszeit und allen voran der Nazis. Die Helden waren die progressiven Aufständischen wie Kosciuszko oder die oft imaginären kommunistischen Widerständler des Zweiten Weltkrieges, während die polnische Schwäche die „Unterstützung“ des sowjetischen Bruders legitimierte. In der nationalen Gegenerinnerung war man Opfer der Russen, genauso Stalins wie Hitlers, die Helden waren anti-russische Anführer wie Pilsudski, die Tausenden Exilpolen, die im Zweiten Weltkrieg an allen Fronten gegen die Nazis kämpften, und die nationale Untergrundarmee AK, die sich nicht den Sowjets unterordnen wollte. Eigene Schwäche war es, die Unabhängigkeit nicht bewahrt, sich den Kommunisten hingegeben zu haben.
Als nun aber der eiserne Vorhang fiel, zeigte sich, dass die Geschichtserinnerung der westlichen Welt ganz andere Schwerpunkte setzte. Zum einen fiel schnell auf, dass die Welt im Gegensatz zu den auf die eigene Geschichte fixierten Polen nicht viel von dieser verstand: Von polnischen Adelsrepubliken, Teilungen, Aufständen schien dort niemand etwas zu wissen. Erschreckt stellte man fest, dass im „Westen“ vielerorts die polnische Nation für eine Erfindung des Zwanzigsten Jahrhunderts gehalten wurde.
Schlimmer jedoch, viel schlimmer kam es, als man auf das größte nationale Trauma, den Dreh- und Angelpunkt der polnischen Gesichtserinnerung zu sprechen kam, den Zweiten Weltkrieg. Die Polen feiern bis heute ihre Septemberhelden von 1939 die wochen- und monatelang verbissen gegen den Angreifer kämpften, während im Westen die deutsche Polenkampagne als der Blitzkrieg schlechthin gilt, in dem rückständige Polen auf Pferden versuchten, deutsche Panzer zu bekämpfen. Polnische Helden im Zweiten Weltkrieg? Was soll daran heldenhaft sein, sich überrennen zu lassen? Geschichten von Exilpolen als beste Piloten der Royal Air Force und tapferste Soldaten der Alliierten, die jeder Pole als Kanon der Selbstversicherung gegen die rassische Demütigung in Schule und Vorschule lernte, wirkten außerhalb Polens als bizarre und unzeitgemäße Ammenmärchen.
Das zu den Helden. Mit der polnischen Opferrolle lief es auch nicht besser. Die Rolle des größten Opfers der Nazis haben in der westlichen Erinnerung verständlicherweise die Juden eingenommen, der Holocaust gilt dort zu Recht als das Menschheitsverbrechen schlechthin. In kommunistischer Geschichtsschreibung galt die Vernichtung der Juden jedoch eher als ein, wenn auch besonders drastischer Teilaspekt des Menschheitsverbrechen Faschismus. Aus nationaler Sicht verblasste die Singularität des Holocausts in der Erinnerung des polnischen Leidens. Dort litten die Polen wie die Juden, beide als rassisch minderwertige Untermenschen eingestuft, beide zu Millionen umgebracht - sechs Millionen tote Juden, drei Millionen tote polnische Christen, das lief mehr oder weniger auf das Gleiche hinaus. Der Unterschied zwischen organisiertem Massenmord mit dem Ziel der Totalausrottung und der brutalen Naziherrschaft über die Restbevölkerung verwischte in der Erinnerung an den Schrecken – außerdem waren die Juden kaum mehr da, um ihre Geschichte zu erzählen, und wer wollte ihnen denn auch zuhören, bei all den Opfern aus den „eigenen Reihen“?
Hinzu kam, dass man den in der Zwischenkriegszeit in Polen weit verbreiteten Antisemitismus verdrängt hatte. Lieber erinnerte man sich derjenigen Polen, die unter Einsatz ihres Lebens Juden gerettet hatten. Nach dem erlebten gemeinsamen Leid passte der Judenhass der Vor-, Kriegs und Nachkriegsjahre nicht so recht ins Bild. Jüdische Holocaustüberlebende erinnerten sich jedoch. So kamen verdrängte Wahrheiten ans Licht, wie zum Beispiel der durch ihre polnischen Nachbarn begangene Massenmord an der jüdischen Bevölkerung von Jedwabne 1941 (Jedwabne und der Mantel des Vergessens); oder der bereits nach dem Krieg ausgeführte Pogrom von Kielce 19462. Die Polen fanden sich in der westlichen Holocausterinnerung oft nicht als Mitopfer, wie sie es selbst empfanden, sondern als potenzielle Mittäter wieder.
So entstand das polnische Gefühl, im Ausland ständig missverstanden und falsch wahrgenommen zu werden. Anstatt Wahrnehmung empfand man Ignoranz. Anstatt der Anerkennung ihrer Helden und Leistungen kam der Spott. Anstatt der Akzeptanz als Opfer der Geschichte kam der Vorwurf der Täterschaft.
In Polen entwickelten sich verschiede Ansätze, mit dieser Inkongruenz der Geschichtserinnerung umzugehen. Einige fanden, es sei sowieso an der Zeit, sich von der Fixierung auf die eigene Geschichte zu verabschieden. Die Glorifizierung dieser und auch die Traumatisierung durch sie stelle eher ein Hindernis auf Polens weg in eine bessere Zukunft dar. Zu diesen Leuten zählten vor allem die Wendegewinner, Menschen, die sich in der neuen polnischen Wirklichkeit schnell zurechtgefunden haben – sie blickten mit Freude nach vorne, nicht mit Wehmut zurück. Die erfolgreichen Yuppies und Geschäftsmänner Warschaus waren wie ihre Äquivalente in Berlin, Dublin oder Moskau mehr an ihrem individuellem Aufstieg interessiert als an dem Los ihrer vermeintlichen Schicksalsgemeinschaft.
Anders die Verlierer der neuen Ordnung, deren Hoffnungen auf ein besseres Dasein in den letzten fünfzehn Jahren zerplatzten, die sich in Armut und Arbeitslosigkeit wieder fanden. Ihnen bot das Schema der polnischen Geschichtserinnerung eine willkommene Erklärung für das heutige Elend. Es gab wieder Helden – die streikenden Arbeiter der 80er, den polnischen Papst, der fast eigenhändig den Kommunismus besiegte. Es gab wieder Opfer, sie selbst nämlich und die polnische Nation, die wie immer in der Geschichte zwischen Berlin und Moskau zerrieben wird, während der Rest der Welt die Aggression mit Geschichtsfälschung unterstützt. Und es gab wieder Verräter aus den eigenen Reihen, die Postkommunisten, die Polen für eine Handvoll Silberlinge an das internationale Geschäft und die aus Berlin gesteuerten Brüsseler Verschwörer verkauft hatten.
Die Kapriolen der polnischen Politik
Für die meisten Polen liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Daraus ergibt sich die ambivalente, im Ausland oft unverständliche Haltung zu Projekten wie europäische Integration oder der Aussöhnung mit den Nachbarn. Europa wird von dem meisten Polen als Chance wahrgenommen, die solange herbeigesehnte Anerkennung zu erreichen als ein Volk in der Mitte Europas, die jahrhundertelange Isolation zu überwinden, die „polnische Krankheit“ abzuheilen und endlich einmal „normal“ zu sein. Andererseits fürchtet man durch die eigene wirtschaftliche Schwäche und Abhängigkeit marginalisiert, zum Spielball der Stärkeren zu werden.
In diesem Kontext erklärt sich die polnische Aufregung zur Ostseepipeline oder den wieder auflebenden russischen Hegemonialbestrebungen. Es sind nicht nur die Geister der Vergangenheit, die hier beschworen werden, sondern auch ganz reale Ängste der Gegenwart, die sich mit geschichtlichen Metaphern artikulieren. Auch zu dem Umgang mit dem Konflikt der westlichen mit der polnischen Geschichtserinnerung gibt es verschiedene Ansätze. Die Nationalisten glauben an den Kampf um die Geschichte, in dem der Unachtsame verliert und seiner Identität beraubt wird. Sie sehen jeden Deutschen im Stahlhelm und suchen verbittert die Konfrontation mit Holocaustverbänden um die Deutungshoheit der Gräuel. Dabei repräsentieren sie nur eine kleine Minderheit der Polen, doch sie sind laut und führen den Polen einen immensen Schaden zu, weil im Ausland bei ihren Eskapaden ständig die Alarmglocken schellen.
Die Linke, das liberale Bürgertum und auch die gemäßigte Rechte setzen vor allem auf Dialog nach außen und die Entmystifizierung nach innen, mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Wie die in Polen groß geführte Jedwabne-Diskussion zeigt, sind viele bereit, sich auch der eigenen Schuld zu stellen. Die geschichtliche Wahrheit, ausgearbeitet im europäischen und globalen Kontext, mag grauer sein, als der in Isolation erwachsende Mythos der polnischen weißen Weste, aber sie wird – so glaubt man - schließlich doch für die Polen sprechen, das angetane Unrecht der Welt deutlich machen und den Polen selbst zeigen, dass Realität komplexer ist, als das Schwarz und Weiß der Erinnerung. Dass dieser Weg der erfolgreichere ist, zeigen neueste Publikationen, wie z.B. das kürzlich erschiene Buch des in New York ansässigen britischen Historikers Tony Judt3, welche die europäische Nachkriegsgeschichte beschreibt, ohne die osteuropäische Sichtweise zu übergehen .
Die Angst, überhört, missverstanden und falsch dargestellt zu werden bleibt jedoch und schürt die polnische Empfindlichkeit. Man fürchtet die eigene Schwäche, die fehlenden Einflüsse, Lobbies, Verbände und Professoren. Wenn man nur eine leise Stimme hat, muss man – so denken viele – schreien wenn es drauf ankommt.
Die breite Ablehnung der Polen gegen das in Berlin geplante Zentrum gegen Vertreibungen lässt sich in diesem Kontext besser verstehen. Viele Polen würden sich in Berlin neben dem Holocaustmahnmal auch eines für die drei Millionen ermordeten Polen wünschen - anstatt dessen soll dort 15 Millionen Vertriebener Deutscher gedacht werden, mit den Polen als Täter, nicht Opfer.
Nur die wenigsten gönnen den Deutschen die Erinnerung ihrer Opfer nicht, doch viele fragen sich, wie viele Menschen schon den Weg nach Warschau machen werden um die dort zu findenden Gedenktafeln zu studieren, um vom polnischen Leiden zu erfahren, im Vergleich zu den Millionen Neugierigen und Einflussreichen, die man in Berlin zu finden glaubt. In einer Zeit, in der Deutschland immer mehr zu verstehen gibt, sich von dem Gewicht der ewigen Schuld emanzipieren zu wollen, fürchtet man, dass die Polen nun als geschichtliche Ersatztäter dargestellt werden: als Vertreiber, Antisemiten, ja sogar Holocaustverantwortlichen. Deshalb die polnische Aufregung über den populären Begriffsgebrauch „polnische Todeslager“ in ausländischen Berichten zum Holocaust, oft auch in deutschen. Manche glauben an redaktionelle Patzer, einige an eine antipolnische Verschwörung, schmerzhaft trifft es jedoch alle. Mittlerweile soll es eine Umbenennung der Unesco-Auschwitz-Gedenkstätte richten.
Aus mangelndem Glauben an die eigene Stimme rufen manche nach den höchsten Stellen: der Präsident soll es richten, der Premierminister. Dabei geht es nicht immer nur um den Zweiten Weltkrieg. Bereits bei kleinen Spötteleien werden Rufe zur staatlichen Intervention laut, wie zum Beispiel bei der Mediamarkt-Kampagne zur WM, in der das Stereotyp der Polen als Diebe benutzt wurde. Die polnische Botschaft griff ein, der Spot wurde www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/unternehmen/:Diskriminierende-Werbung-Diebische-Polen/558527.htmlKLICKeingestellt::. Staatliche Intervention folgte auch dem mittlerweile legendären taz-Artikel. Hier lief es nicht so glatt (Warum Polen die TAZ braucht).
Seit ihrer Machtübernahme versuchten die Kaczynskis einen Balanceakt zwischen nationalistischem Populismus und dem Weg einer gemäßigten Rechten. Es waren zwar die frustrierten Wendeverlierer, die sie ins Amt gehievt hatten, doch die Zwillinge sahen die Zukunft von PiS nicht als Protestpartei, sondern als eine rechtskonservative Volkspartei im Stile der deutschen CDU. Deshalb suchte man den Anschluss zur politischen Mitte und mit Premierminister Marcinkiewicz schien dies gelungen. Die Welt atmete vorerst auf, Marcinkiewicz galt als Mann des Dialogs und Europafreund, sein Außenminister Meller als kompetent und erfahren.
Doch mit dem Abschluss der Koalition im Mai, schienen die alten Vorbehalte gegen die Kaczynskis bestätigt. Während Marcinkiewicz europapolitische Erfolge vorwies, wirkte der Präsident, der traditionell die polnische Außenpolitik bestimmt, aktions- und richtungslos. Weder die geplante Annäherung an Russland, noch die versprochene Abschaffung der Einreisevisa in die USA gelang. Nach dem Rücktritt des Außenministers Meller versuchte Lech nun die Kontrolle über die Außenpolitik zurück zu gewinnen, indem er seine Vertraute Fotyga als Mellers Nachfolgerin durchsetzte. Auf diese alte Bekannte scheint jedoch Lechs Hang zum Fauxpas abgefärbt zu haben. So düpierte sie während ihres Deutschlandbesuchs den deutschen Außenminister Steinmeier, als sie von ihm verlangte, bei Ankunft der Vorsitzenden des Vertriebenenverbandes Erika Steinbach gemeinsam mit Fotyga den Raum zu verlassen. PiS-Chef Jaroslaw hingegen wurde für die Aufnahme der zwei Radikalparteien in die Regierung verantwortlich gemacht. Seitdem hat auch die Auslandspresse das Kaczynski-Bashing für sich entdeckt.
Der anfängliche Balanceakt zwischen Rechtsaußen und Mitte entwickelte sich nun immer mehr zur Spaltung innerhalb von PiS. Die Erfolge der Regierung wurden von den Polen nun nur noch Premierminister Marcinkiewicz zugesprochen, Jaroslaw stand für die nicht gewollten Abenteuer von PiS, Samoobrona und LPR. Marcinkiewiczs freundliche und offene Art im Umgang mit ausländischen Partnern verstärkte den Eindruck von Lechs Unsicherheit und Steifheit. Die offen gezeigte Abneigung des Premiers gegen die ihm aufgezwungenen Koalitionspartner, seine zunehmende Unabhängigkeit aber vor allem sein Erfolg entwickelte sich für die Kaczynskis zum Risiko.
Anfang Juli beschloss die Regierung, besorgt durch die Verschlechterung des internationalen Ansehens Polens, eine PR-Offensive in Europa. Das Zugpferd und Gesicht der Kampagne: Kazimierz Marcinkiewicz. Dieser erklärte die Aktion folgendermaßen: „Die Situation ist verwunderlich. Wir haben sehr gute wirtschaftliche Ergebnisse, wegen denen man uns in anderen Ländern bewundert. Unsere Position in der Europäischen Union ist stark. Leider findet sich das in westlichen Medien nicht wieder, wo wir als seltsamer, ultrakonservativer Hinterwäldlerstaat dargestellt werden.“ Ein heimlicher Affront gegen die Kaczynskis: Wirtschaft, Europa, das war Marcinkiewiczs Abteilung – seltsam und ultrakonservativ, so werden die Zwillinge wahrgenommen. Den schlechten Eindruck, den die Zwillinge im Ausland machen, maß sich Marcinkiewicz an, auf eigene Faust auszubügeln.
Zu dieser Kampagne kam es dann doch nicht, denn eine Woche später war Marcinkiewicz nicht mehr im Amt. Mit der Überreaktion des polnischen Präsidenten und seiner Vertrauten Fotyga auf die taz-Satire brachen nicht nur alle Dämme in der ausländischen Presse, sie zerstörte vorerst auch die letzte Brücke zur bürgerlichen Mitte Polens. Die im Zusammenhang des Artikels stehende Absage des Weimarer Dreiecks seitens Lech Kaczynskis verurteilten in einem offenen Brief alle ehemaligen Außenminister des Nachwendepolens, darunter höchst angesehene Persönlichkeiten wie Wladyslaw Bartoszewski und als ob es nicht genug wäre – der im Mai zurückgetretene Außenminister der Kaczynskiregierung, Stefan Meller. Anstatt seinen eineiigen Mentoren zur Seite zu springen, schwieg Premier Marcinkiewicz lieber zur taz-Affäre und traf sich stattdessen mit dem Führer der Opposition Donald Tusk, ohne es vorher mit Parteichef Jaroslaw abgeklärt zu haben. An dieser Stelle zog Jaroslaw Kaczynski die Notbremse, drängte Marcinkiewicz zum Rücktritt und übernahm selbst das Amt des Premierministers Zwei Ämter, ein Gesicht. Die Polen sollten jetzt nicht mehr die Chance haben, zwischen guter PiS um Marcinkiewicz und schlechter PiS um die Kaczynskis zu unterscheiden. Ab jetzt gilt alles oder nichts.
Im Kontext des polnischen Strebens nach Anerkennung stand Marcinkiewicz für die gemäßigte Variante – selbstbewusst aber dialogsuchend, sich nicht verleugnend, aber seine Stadtpunkte diplomatisch und modern artikulierend. Die Kaczynskis scheinen jedoch in das sich selbst reproduzierende Schema zurückgerutscht zu sein, in welchem man wegen seiner Überreaktion auf Spott nur noch mehr Spott erntet, in welchem man durch selbstfixierte Raserei anstatt des ersehnten Verständnisses nur Kopfschütteln hervorruft.
Jetzt ist Polens Regierung um einen weiteren Hoffnungsträger ärmer, dafür um zwei wunderliche Zwillinge an der Staatsspitze reicher. Marcinkiewicz wird so zum nächsten tragischen Helden, während die polnische Krankheit der Wunderlichkeit sich mal wieder durchgesetzt zu haben scheint. Von der ersehnten Rolle als ein normales Volk in Europa ist Polen wieder weit entfernt.
Es bleibt jedoch die Hoffnung, dass Jaroslaw Kaczynski in seinem neuen Amt wachsen wird. Seine beiden radikalen Koalitionäre scheinen es ihm gerade vorzumachen. Bildungsminister Roman Giertych, dessen Liga der Polnischen Familien bisher repräsentativ für den polnischen Opferneid stand, überraschte soeben mit seinem Besuch einer Gedenkveranstaltung des Jedwabne-Massakers. Nach einem „herzlichen Gespräch“ mit einem Holocaustüberlebenden erklärte er, für Antisemitismus gäbe es in Polen keinen Platz.
Der bisher als Europagegner und Systemverächter bekannte Agrarminister Andrzej Lepper hingegen verblüffte am vergangenen Dienstag die Zuschauer des polnischen Staatsfernsehens mit einem Bekenntnis zu Europa und Demokratie. Offenbar nach der lauernden Gefahr einer Kaczynski-Diktatur gefragt, erklärte er staatsmännisch: „Es herrscht Demokratie, die Welt schaut zu, wir sind Mitglied der Europäischen Union, wir sind Mitglied der NATO, wir haben gewisse Verpflichtungen, wir müssen die Demokratie einhalten – diktatorische Ambitionen hat niemand hier.“ . Wie ehrlich diese Bekenntnisse sind, wird die Zukunft zeigen. Im Moment jedoch geben sie Anlass zur Hoffnung. Vielleicht werden sich der neue Premierminister und sein Bruder davon inspirieren lassen - Wenn sogar Lepper und Giertych lernfähig zu sein scheinen, dann sind es die Kaczynskis bestimmt auch.