Schrödingers Katze endlich zur Ruhe gebettet?

Restbestände des klassischen erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Verhältnisses spuken weiter in Physik und Philosophie umher

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Existieren die Dinge vor ihrer Beobachtung nur in einem Zustand "verschmierten" Seins, so wie es das von Erwin Schrödinger ersonnene Gedankenexperiment mit der weder ganz lebendigen noch ganz toten Katze nahelegt? Diese Frage verweist auf eine der verstörenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Quantenmechanik, durch die Physiker und Philosophen seit rund einem Jahrhundert geplagt werden.

Physiker und Philosophen haben zwar richtig erkannt, dass die der klassischen Mechanik zugrunde liegende Annahme einer strikten Trennung von Subjekt und Objekt dem tatsächlichen Ablauf von Beobachtungsprozessen nicht gerecht wird. Es ist ihnen aber entgangen, wie tief diese Sichtweise in den physikalisch-philosophischen Begriffsapparat eingelassen ist. Die Restbestände des klassischen Subjekt-Objekt-Konzepts spuken auch noch in allen Denkansätzen der modernen Physik umher und erzeugen dort besagte Ungereimtheiten.

In der erschienenen dreibändigen Studienreihe zu den "Erkenntnistheoretischen Grundlagen der Physik" wird ein neuerlicher Anlauf zur Reflexion auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis unternommen, der in dem der Quantenmechanik gewidmeten dritten Band zur endgültigen Bestattung von Schrödingers Katze führt. Im folgenden Ausschnitt aus dem ersten Band der Studienreihe werden an einem Beispiel die grundsätzlichen Schwierigkeiten der klassischen Positionen mit dem Begriff des Subjekts demonstriert.

Die Schwierigkeiten der Ontologie mit dem Subjekt

Während den verschiedenen Varianten des Konstruktivismus das Objekt verloren geht, stehen die materialistischen Monismen vor dem umgekehrten Problem: Sie kommen vom Objekt her und scheitern in ihrer Absicht, die Brücke zum Subjekt, also zum Selbstbewusstsein zu schlagen.

Diese Einschätzung fußt nicht auf einer Position, welche die Möglichkeit einer vollständigen Erklärung der Entstehung menschlichen Bewusstseins aus materiellen Prozessen leugnet. Sie unterläuft vielmehr den aktuellen Streit über diese Möglichkeit, indem sie erkennt, dass es sich bei ihm bloß um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Ansätzen innerhalb der Ontologie handelt: Denn sowohl die Vertreter als auch die Leugner dieser Möglichkeit reduzieren das Selbstbewusstsein auf ein Ding, das in demselben Sinne vorhanden ist wie ein Computer oder ein Teilchen.1 Sie unterscheiden sich nur darin, dass die eine der beiden Parteien behauptet, zwischen dem Ding 'Computer' bzw. 'Teilchen' und dem Ding 'Selbstbewusstsein' bestehe eine ungebrochene Linie der Entwicklung bzw. Konstruktion, während die andere dies leugnet.2

Dass bzw. inwiefern der hier vertretene Ansatz jenen Streit unter Ontologen tatsächlich unterläuft, können wir uns deutlich machen, indem wir überlegen, was passieren muss, sobald einige Vertreter der Position, welche die vollständige Erklärbarkeit des Selbstbewusstseins aus gegenständlichen Strukturen und Prozessen bejaht, der erstaunten Öffentlichkeit mitteilen, es sei ihnen tatsächlich gelungen, die fragliche Erklärung zu liefern.

In diesem Fall setzt natürlich zunächst ein vielstimmiger Chor von Zweiflern ein, den die glücklichen Entdecker dadurch zum Schweigen zu bringen versuchen, dass sie sich auch praktisch ans Werk machen und einen Prototyp der bisher von ihnen nur theoretisch abgeleiteten materiellen Basis des menschlichen Bewusstseins in Gestalt eines künstlichen Gehirns samt dazugehöriger Sinnesorgane herstellen.

Jetzt beginnt ein großes Experimentieren mit dem von den Konstrukteuren vorgelegten Prototyp: Man setzt dieses Ding einer Vielzahl von Situationen aus, die im menschlichen Bewusstsein bestimmte Reaktionen gefühlsmäßiger bzw. intellektueller Art zur Folge haben, und überprüft mittels aller gängigen Verfahren der Neurobiologie, ob die dabei in ihm ablaufenden Vorgänge den unter den entsprechenden Bedingungen stattfindenden Reaktionen eines natürlichen Gehirns gleichen. Und siehe da, sie tun es, es scheint also tatsächlich geglückt, die materielle Basis des Selbstbewusstseins bis ins kleinste Detail zu rekonstruieren.

Allein, die Zweifel wollen nicht verstummen. Denn so sehr alle Abläufe in dem künstlichen Gehirn bis in die Nanostrukturen hinein den entsprechenden Vorgängen in seinem natürlichen Vorbild gleichen, kann doch niemand definitiv beweisen, dass diese auf dem Tisch eines Experimentierraumes liegende Sache tatsächlich etwas fühlt oder denkt und noch dazu weiß, dass sie das tut.

Unseren Konstrukteuren steht jetzt nur noch eine einzige Möglichkeit offen, um diese Zweifel zu zerstreuen: Es gilt, ihr künstliches Gehirn mit einem Körper auszustatten, der zwar dem menschlichen Organismus nicht unbedingt streng zu gleichen hat, aber doch über zwei von dessen Fähigkeiten verfügt: Er muss zum einen in der Lage sein, mindestens einen Teil jener Symbole zu gebrauchen, derer sich die Menschen bedienen, wenn sie die in ihren Gehirnen erzeugten Gefühle und Gedanken ausdrücken, und er muss zum anderen mindestens einen Teil jener Verhaltensweisen vollziehen können, mittels derer die Menschen die in ihren Gehirnen entstandenen Gefühle und Gedanken in Handlungen umsetzen.

Jetzt können alle Zweifler nicht nur ein gemeinsames Handeln mit dem künstlichen Geschöpf aufnehmen, sondern auch versuchen, sich mit ihm über die im Zuge dieses Handelns auftretenden Gefühle und Gedanken symbolisch zu verständigen. Und wenn sie nach dem Ablauf jener Interaktionsexperimente überzeugt sind, dass sie nicht bloß eine perfekte Rekonstruktion der materiellen Basis des menschlichen Bewusstseins vor sich haben, sondern tatsächlich mit einem derartigen Bewusstsein als solchem konfrontiert sind, dann wird dies deshalb der Fall sein, weil sie das aus dem künstlichen Gehirn und seinem Körper bestehende Geschöpf als einen Kommunikationspartner akzeptiert haben, der ihnen im Verlauf der gemeinsamen Interaktion sein Fühlen, Denken und Planen auf eine verstehbare Weise zeigte.

Der Punkt, an dem das vorliegende Gedankenexperiment darauf hinweist, dass wir alle ontologischen Positionen unterlaufen müssen, wenn wir verstehen wollen, was ein über Selbstbewusstsein verfügendes Subjekt ist, liegt dort, wo es deutlich macht, dass nach der Ausstattung des Gehirns mit Sprech- und Handlungsfunktionen sowohl die Argumente der Zweifler als auch die Art ihrer experimentellen Prüfung einen völlig anderen Charakter als bei der ersten Präsentation des noch nicht über einen Körper verfügenden künstlichen Gehirns haben: Während man angesichts der auf dem Experimentiertisch liegenden Sache bloß prüfen konnte, ob die in ihr zu beobachtenden Vorgänge denselben Gesetzen von Reiz und Reaktion gehorchen wie die Abläufe in ihrem natürlichen Pendant, ob also das künstliche Gehirn ein Ding desselben Typs ist wie das natürliche, ist es nun möglich, das Selbstbewusstsein als solches zu erkennen (im Sinne einer Feststellung seines Vorhandenseins), indem man die Frage untersucht, ob man seinen Träger als Kommunikationspartner anerkennen kann. Die Untersuchung dieser Frage aber folgt, wie wir uns nun kurz überlegen wollen, sowohl im Hinblick auf die Methoden der Beobachtung als auch hinsichtlich der Art der Argumentation nicht der allen ontologischen Ansätzen zugrunde liegenden Logik des naturwissenschaftlichen Diskurses.

Wenn wir Selbstbewusstheit entsprechend der eben skizzierten Art ihres Nachweises als jene Eigenschaft definieren, die natürliche oder künstliche Menschen von toten Objekten oder nur organischen bzw. tierischen Lebensformen unterscheidet, indem sie aus ihnen vollwertige Kommunikationspartner macht, dann müssen wir uns fragen, wodurch genau sich für uns solch ein Kommunikationspartner von einem toten oder bloß organischen bzw. tierischen Gegenüber abhebt. Die Antwort ist einfach, denn die einzige alles entscheidende Differenz besteht darin, dass wir sein Verhalten als Resultat einer Orientierung an sozialen Regeln erleben, also eben nicht als das Ergebnis einer zwanghaften Steuerung durch Naturgesetze ansehen.

Beim Versuch einer experimentellen Feststellung des Vorliegens von menschlichem Bewusstsein genügt es daher nicht, die Reaktionen des künstlichen Geschöpfs auf bestimmte experimentell gesetzte Stimuli zu messen. Es muss vielmehr ein Kommunikationsversuch gestartet werden, der sowohl gemeinsames Handeln als auch den Austausch von Symbolen umfasst. Denn nur im Zuge einer derartigen Interaktion kann beurteilt werden, ob man es mit Normorientierung anstelle von naturgesetzlicher Verhaltenssteuerung zu tun hat.

Dies wird deutlich, wenn wir uns nun noch etwas genauer ansehen, worin sich die Orientierung eines Verhaltens an sozialen Regeln von der zwanghaften Steuerung durch Naturgesetze unterscheidet. Es sind vor allem drei diesbezügliche Differenzen festzuhalten:

  • Während ein naturgesetzlicher Verhaltensmechanismus in bestimmten Situation gleichsam automatisch ausgelöst wird, muss der an Normen orientierte Akteur sowohl seine Handlungsregeln als auch die jeweilige Situation, in der er sie anzuwenden gedenkt, zunächst im Medium von sprachlichen Symbolen interpretieren, um feststellen zu können, welcher Regel er auf welche Weise folgen soll.
  • Im Unterschied zu dem durch naturgesetzliche Steuerung gelenkten Geschöpf, dem keine Infragestellung der jeweils wirksamen Verhaltenszwänge möglich ist, kann der normorientiert handelnde Akteur bei der Reflexion über seine Handlungsregeln auch zu dem Schluss kommen, dass er die Forderungen einer bestimmten Norm nur teilweise bzw. vielleicht überhaupt nicht erfüllen will. Er muss sich in diesem Fall allerdings gegenüber seinen Kommunikationspartnern für seine partielle oder gänzliche Ablehnung der betreffenden Regel rechtfertigen, was ebenfalls wieder im Medium der Symbole geschieht.
  • Kann das einer naturgesetzlichen Verhaltenssteuerung unterliegende Geschöpf prinzipiell keine Fehler bei der Realisierung des unter bestimmten Ausgangsbedingungen von ihm in seinem Verhalten zu befolgenden Gesetzes begehen3, so muss sich der an Regeln orientierte Akteur mit seinen Interaktionspartnern darüber verständigen, ob er die jeweils als Richtschnur seines Handelns akzeptierte Norm richtig angewendet hat, wobei neuerlich sprachliche Symbole eine zentrale Rolle spielen.

Auf allen drei hier angesprochenen Ebenen zeichnet sich somit das normorientierte Handeln durch eine bei der naturgesetzlichen Verhaltenssteuerung fehlende Differenz zu den ihm zugrunde liegenden Regeln aus, welche die jeweiligen Kommunikationspartner des Handelnden als Ausdruck einer zwischen ihm selbst und den betreffenden Normen bestehenden Distanz interpretieren. Sie projizieren diese Distanz in das Innere des Akteurs und bezeichnen sie als sein im Medium der Symbole angesiedeltes Selbstbewusstsein, welches somit für sie nichts anderes ist als ein dem äußeren Dialog der Kommunikationspartner zugrunde liegender innerer Dialog des Handelnden mit sich selbst bzw. mit den seinem Handeln zugrunde liegenden Normen.

Das darüber hinaus bei allen Akteuren vorhandene, introspektive Erleben des je eigenen Selbstbewusstseins ist nie etwas anderes als eine individuelle Brechung dieser im wesentlichen kollektiven Erfahrung von Selbstbewusstsein. Jenes individuelle Innen-Erleben muss die gemeinsame äußere Erfahrung eines jedem einzelnen Interaktionspartner eigenen Selbstbewusstseins zwar stets begleiten, kann ihr aber niemals vorausgehen oder transzendental vorgeordnet sein, weil das Erfahren von Selbstbewusstsein, wie wir andeutungsweise zeigten, immer an das Befolgen von Normen gebunden ist, wobei jene Regelorientierung, wie uns der späte Wittgenstein lehrt, stets nur im Kollektiv, das heißt mit wechselseitiger Kritik und gemeinsamer Nutzung von Symbolen, möglich ist.

Wenn daher das Selbstbewusstsein ein Gegenstand ist, der ausschließlich im Rahmen von symbolvermittelter sozialer Interaktion erfahrbar und nachweisbar ist, weil er ausschließlich im kollektiven Vollzug dieser Art des Handelns existiert, dann ist es prinzipiell von der auf naturwissenschaftlich restringierter Beobachtung von Reiz-Reaktions-Mustern fußenden materialistischen Ontologie weder begreifbar noch ableitbar.

In den anschließenden Kapiteln 1.4 und 1.5 wird dann der (in der Studienreihe weiterentwickelte) transzendentale Ansatz als ein eher erfolgversprechender Zugang zum Subjekt-Objekt-Problem präsentiert. Beide Kapitel sind (so wie die vorangehenden Kapitel 1.1 und 1.2) auf der Homepage zur Studienreihe in einem Download verfügbar.