Schützen wir das christliche Abendland
Seite 5: Würde ohne Pathos
Obwohl die Ärzte noch um das Leben des Doktors kämpfen ist seine Frau Hélène schon so gut wie Witwe, als sie in die Stadt kommt. Vor dem Krankenhaus warten die Reporter. Einer will wissen, ob es wahr sei, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ein Telegramm geschickt hat? Tatsächlich erhielt die Witwe von Grigoris Lambrakis ein Beileidstelegramm, in dem John F. Kennedy seine Betroffenheit über den Mordanschlag ausdrückte, von dem nie befriedigend geklärt wurde, ob und wie die CIA darin verstrickt war. Ob Kennedy mehr wusste, als er das Telegramm schickte? War sein Mitgefühl echt, oder war er so zynisch, erst den Mordanschlag zu billigen und dann der Witwe zu kondolieren. Bald danach wurde er selbst Opfer eines Attentats, dessen genaue Umstände bis heute höchst umstritten sind. Bei Costa-Gavras wird aus dem Beileidstelegramm ein Moment der bitteren Ironie. In einem Land, das politische Gegner töten lässt, ist niemand sicher, auch nicht der Präsident.
Irene Papas ist die einzige griechische Schauspielerin unter vielen französischen Kollegen. Als solche verkörpert sie das Leiden ihres Landes, und den Hass auf die Obristen. Das ist einer von Costa-Gavras’ Besetzungscoups, die mehr aussagen, als es umfangreiche Dialogpassagen je könnten. Papas, eine erklärte Gegnerin der Junta, hatte 1963 am Begräbnis von Grigoris Lambrakis teilgenommen und war mit dem von den Obristen wegen Landesverrats angeklagten und dann ausgewiesenen Andreas Papandreou befreundet, dem späteren Gründer der einst von vielen Hoffnungen begleiteten, inzwischen gründlich diskreditierten PASOK (Andreas’ Vater, Georgios Papandreou, wurde nach dem Putsch ebenfalls verhaftet und stand unter Hausarrest, als er 1968 starb). Bei einem Film wie Z mitzumachen, dazu gehörte Mut. Inwiefern Papas’ Status als größter griechischer Filmstar (neben Melina Mercouri) sie schützen würde, war vorher schwer zu sagen. Peter Cowie zufolge versuchte sie damals erfolglos, einen Schweizer Reisepass zu erhalten, um den auf sie ausgeübten Druck zu mildern. Das Regime hatte vielfältige Möglichkeiten der Repression. Der im französischen Exil lebenden Melina Mercouri entzogen die Obristen die griechische Staatsangehörigkeit. Ohne gültigen Pass konnte sie nicht reisen.
Irene Papas wurde gelegentlich vorgeworfen, dass sie in Z zu statuesk und emotionslos, der Rolle als Witwe nicht gewachsen sei. Die Kritiker hatten wahrscheinlich erwartet, dass sie hysterische Anfälle kriegen und laut um sich brüllen würde, weil man das von Südländerinnen in Melodramen mit starkem Folkloreanteil so gewöhnt ist. Z macht aber sehr deutlich, dass die Regie genau diese gedämpfte Emotion von Papas haben wollte. Vorbild war das Verhalten von Jackie Kennedy nach dem Attentat in Dallas, nicht von Film-Hysterikerinnen in griechischen Bauerndörfern. Im öffentlichen Raum agiert Hélène mit gezügelter Leidenschaft. Das korrespondiert mit der aufrechten Haltung der amerikanischen Präsidentenwitwe nach dem ersten Schock und ebenso mit der von Lambrakis gegenüber den Machthabern und den von ihnen bestellten Schlägern. Man kann es als würdevoll bezeichnen. Z demonstriert, dass Würde mitunter das einzige ist, was einem bleibt, wenn man mit übermächtigen Gegnern konfrontiert ist.
Diese Würde gibt es nicht umsonst. Der Doktor bezahlt den aufrechten Gang mit seinem Leben. Inwiefern das Ganze zur bloßen Attitüde verkommt und ein hohles Pathos daraus wird, wenn Leute ihre Würde dadurch beweisen, dass sie in der Welt der graugesichtigen Krawattenträger auf den Schlips verzichten und die Hand nicht aus der Hosentasche nehmen, vermag ich nicht zu sagen. Letztlich ist das auch egal, weil das Operettenhafte der Wirkung von Konzepten wie Ehre, Stolz und Würde keinen Abbruch tut. Aus der griechischen Geschichte heraus, die von Unterdrückung und Fremdbestimmung geprägt ist, finde ich das nachvollziehbar. Ehre, Stolz und Würde bekommen da eine andere Qualität - was nicht bedeutet, dass man sich freiwillig in die Pathosfalle begeben sollte.
Drei Minuten
Aus der Trauer der Witwe hätte leicht ein Melo zum Mitweinen werden können, mit etwas Zuckerguss zum Neutralisieren des Salzes in den Tränen. Costa-Gavras verhindert das, indem er Vergangenheit und Gegenwart so kombiniert, dass es das Leid spürbar macht, ohne sentimental zu werden. Beim Anblick des Krankenhausdirektors schießt Hélène die Erinnerung an dessen nächtlichen Anruf durch den Kopf, der sie aus dem Schlaf gerissen hat. Weil der Direktor ihren Mann bewundert hat sieht sie Bilder von dessen Friedensdemo von Marathon nach Athen vor ihrem geistigen Auge. Visuelle Eindrücke in der Klinik wecken Assoziationen an Szenen des häuslichen Glücks, an eine Autofahrt im Regen. Und dann klingelt im Krankenhaus das Telefon (der Minister), und Hélène ist in Gedanken zurück beim schockierenden Anruf des Direktors, weil es vor der Realität kein Entrinnen gibt.
Es folgt eine quälend lange Szene, in der Irene Papas sich nicht die Haare rauft und nicht ihren Gefühlen freien Lauf lässt, sobald sich die Tür des Hotelzimmers geschlossen hat, sondern mit ihnen kämpft. Im kommerziellen Kino, zu dem sich der Regisseur durchaus bekennt, war so etwas ein gewagtes Experiment. In anderen Filmen aus der Zeit würde die arme Frau rasch in ihr Taschentuch weinen, ihre beste Freundin würde bei ihr sitzen, damit drei, vier sentimentale Sätze gesagt werden können, schon wäre das abgehakt und das Leben würde weitergehen. Als beste Freundin käme nur Shoula in Frage (Clotilde Joanno, die in Chabrols Les bonnes femmes den Frauenmörder trifft), und Shoula war vermutlich die Geliebte des Verstorbenen. Und das Leben geht nicht weiter, es steht still.
In sehr langen drei Minuten sehen wir, wie Shoula sich von Hélène verabschiedet. Dann ist die Witwe zum ersten Mal allein. Sie geht durch das Hotelzimmer ihres Mannes, das noch so ist wie am Abend, als er es verlassen hat. Seine Aktentasche, sein Pyjama, die Bürste im Zahnputzglas, sein Rasierwasser machen die Erinnerung an den Toten umso präsenter. Zwischen Einstellungen mit der von ihrem Verlust schier überwältigten Witwe blitzt noch einmal ein Bild von einem glücklichen Moment des gemeinsam verbrachten Lebens auf. Der Rasierspiegel im Bad jedoch weckt Assoziationen an die kreisförmig angeordneten Lampen im Operationssaal. Flashbacks zeigen Röntgenbilder vom Schädel des Ermordeten. Mehrfach sehen wir mit Hélène, wie die Ärzte das Leichentuch über den toten Körper breiten. Der aus England eingeflogene, vom Kameramann Raoul Coutard gespielte Gehirnchirurg sagt der Witwe, dass ihr Mann gestorben ist. Dann sind wir wieder allein mit Hélène und ihrem Schmerz in diesem Hotelzimmer. Für uns, die Zuschauer, hat es etwas Erlösendes, als endlich Jacques Perrin hereinkommt und die Handlung weitergeht.
Die Rolle der Medien wird in Z immer mitreflektiert. Dem General sind Photographen recht, wenn sie schöne Bilder von der High Society beim Bolschoi-Ballett machen, und vor dem Attentat lässt er sie von seinen Bütteln vertreiben, weil Mörder das Licht der Öffentlichkeit scheuen müssen. Einige von den angekarrten Schlägern stellen sich bereitwillig für die Journalisten in Positur, weil sie das noch nicht so ganz verstanden haben. Perrins Reporter ist aus mehreren Journalisten zusammengesetzt, die durch ihre Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung des Lambrakis-Attentats leisteten. Costa-Gavras widersteht der Versuchung, die Presse zu glorifizieren. Es ist nicht unbedingt die Information, die bei den Printmedien im Vordergrund steht. In Z liefern sie Bilder spärlich bekleideter junger Damen zum Ausklappen, ein Zeitungskiosk lockt mit Photos von Bikini-Schönheiten und Stars aus der Unterhaltungsindustrie. Manchmal sehen wir solche Bilder, und im Dialog hören wir dazu Informationen über das Attentat. Die Grenzen zwischen Aufklärung und Voyeurismus sind fließend, sagt der Film.
Der Reporter will eigentlich nur Glamourphotos machen, bis er eine sensationelle Enthüllungsstory wittert und in den Politskandal hineingezogen wird. In das Hotelzimmer kommt er, um - heimlich und aus der Hüfte, auf der Höhe seines Hosenschlitzes - Bilder von der trauernden Witwe zu schießen und die Schaulust des Publikums zu befriedigen. Das permanente, orgasmusartige Klicken des Auslösers erinnert uns daran, dass die modernen Massenmedien beinahe omipräsent sind. Und dann ist plötzlich die Rede von einem politisch motivierten Mord, und Hélène muss sich eingestehen, dass ihr Mann das Opfer eines Anschlags wurde und nicht eines Verkehrsunfalls, was sie bisher verdrängt hat. Die Szene, die so privat begonnen hat, mit einem Familienphoto auf dem Nachttisch, endet mit einer öffentlichen Demonstration, die Schlüssellochperspektive wird durch den Blick aus dem Fenster ersetzt, hinaus auf den Platz vor dem Hotel.
Dort fordern Studenten, dass die Mörder entlarvt und zur Rechenschaft gezogen werden. Die jungen Leute halten Plakate mit dem Photo des Ermordeten in die Höhe, das Teil der politischen Auseinandersetzung geworden ist. Einige von ihnen malen ein großes Z auf die Straße, das wir jetzt, genau in der Mitte des Films, zum ersten Mal sehen. Die Demonstration wird gewaltsam aufgelöst. Die Teilnehmer werden verprügelt, Uniformierte schneiden ihnen die langen Haare ab, weil diese für die Machthaber ein Symbol von Dekadenz und Intellektualismus waren (die Militärjunta verbot 1967 auch die Musik der Beatles). Das Z aber kriegen sie so leicht nicht mehr weg von der Straße. Costa-Gavras und Semprún wollten dem Film ursprünglich den Untertitel "Anatomie eines politischen Mordes" geben (nach Otto Premingers Anatomy of a Murder, den beide sehr mochten), entschieden dann aber, es beim ebenso enigmatischen wie aussagekräftigen Z zu belassen. Das Z ist der erste Buchstabe des griechischen Verbs zεί, "er lebt". Nach der Ermordung von Lambrakis malten junge Leute den Buchstaben auf Straßen und an Wände, zum Zeichen des Protestes und als Beweis dafür, dass die Reaktionäre den Menschen Lambrakis umbringen konnten, nicht aber die Ideen, für die er stand.
Mann von der Straße
Hier muss nun endlich Maurice Baquet erwähnt werden, das in Frankreich sehr populäre, von Jacques Prévert auf die Theaterbühne geholte Multitalent (Baquet war ein preisgekrönter Cellist, feierte Erfolge als Alleinunterhalter und trat in annähernd hundert Kino- und Fernsehfilmen auf). Der kleine Mann mit der großen Courage, den er in Z spielt, ist der heimliche Held des Films. In Inhaltsangaben wird er meistens vergessen. Wir sehen ihn zum ersten Mal, wenn der Doktor und einige Mitstreiter den Platz zwischen dem Hotel und dem Veranstaltungslokal überqueren. Warum er da ist weiß man nicht. Wie ein Bodyguard stellt er sich spontan an die Seite des Doktors, nachdem dieser erstmals angegriffen wurde, geht mit hinein in das Gebäude, bahnt sich und den anderen einen Weg durch die Menge und zu einem Abstellraum, in dem sich der Doktor von dem Schlag auf den Hinterkopf erholt, bevor er seine Rede hält.
Der kleine Mann im Anzug ist auch im Organisationskomitee ganz unbekannt. Man fragt ihn, wer er ist. "Maurer", ist die Antwort. Das ist alles. Wir erfahren nie seinen Namen, wissen nichts von seinen politischen Überzeugungen, weil er der sprichwörtliche kleine Mann von der Straße ist, der nicht lange überlegen muss, auf welche Seite er gehört, wenn sich der Mob zur Bekundung des "gesunden Volksempfindens" zusammenschart, um auf die Schwächeren einzuschlagen. Der Mann weiß instinktiv, was das Richtige ist und tut es auch. Er braucht dafür weder ein Parteibuch noch einen Führer, der ihm die Richtung weist. Solange es Leute wie ihn gibt, sagt der Film, lebt die Hoffnung. Während der Doktor sich noch sammelt, betritt der Maurer den voll besetzten Saal. Alle schauen ihn an, als wäre er die Attraktion des Abends (an der rückwärtigen Wand hängt ein Bild von Lambrakis). Gleich verschwindet er wieder in den Kulissen. Das ist Costa-Gavras’ Art, ihm die Referenz zu erweisen.
In einer Ecke des Abstellraums lehnt ein ausrangiertes Schild mit dem Bild von Nikos Beloyannis. Auch das ist typisch Costa-Gavras. Durch das Photo auf dem Schild stellt er den Doktor in eine Tradition des Widerstands gegen rechte Regime in Griechenland, die bis mindestens in die 1930er zurückreicht, als der Diktator Metaxas regierte und der Mann mit der Nelke zum ersten Mal in einem Foltergefängnis saß. Bleibt die Frage: Ist Beloyannis in der Rumpelkammer der Geschichte gelandet, weil seine Form der Auseinandersetzung - mit Streiks und zivilem Ungehorsam, aber auch mit Waffen - überholt ist? Oder wartet er nur darauf, dass man ihn wieder aus dem Fundus des linken Widerstands holt, sobald Lambrakis mit seinem gewaltfreien Protest gescheitert ist?
Auf den Doktor jedenfalls lauern draußen schon die Mörder. Bald werden wir auch ihn als Photo auf einem Schild von Demonstranten wiedersehen, und die Polizei wird mit ihren Stiefeln darauf herumtrampeln. Die Szene in der Abstellkammer hat etwas Unheimliches, weil sich da zwei Männer treffen, die in den Köpfen ihrer Anhänger weiterlebten und doch Leichen sind. Der eine, Beloyannis, wurde das Opfer eines Justizmordes, der andere, Lambrakis, eines Attentats. In beiden Fällen waren es die rechtsextremen Elemente in der griechischen Gesellschaft, die dahintersteckten. Und obwohl es nie eindeutig bewiesen werden konnte (was viele Griechen ganz anders sehen): In beiden Fällen sagt einem der Hausverstand, dass amerikanische Diplomaten und Agenten die Finger mit im Spiel hatten.
Im Mai 1963, als Lambrakis ermordet wurde, war soeben die Kubakrise glücklich überstanden. Der Kalte Krieg und die allgemeine Paranoia hatten ihren Höhepunkt erreicht. Dem für Abrüstung und ein selbstbestimmtes Griechenland werbenden Lambrakis wurde zugetraut, die Linken zum Wahlsieg zu führen. Seit seinem Friedensmarsch von Marathon nach Athen war er deren Held. Für die Rechten war er ein Schreckgespenst, und manch ein Kalter Krieger in Washington, Langley und der US-Botschaft in Athen befürchtete bereits den Austritt eines kommunistisch regierten Griechenlands aus der NATO, ein neues Kuba im Mittelmeer. Interessierte Kreise beschlossen, Lambrakis aus dem Weg zu räumen. Ein fingierter Autounfall sollte es so aussehen lassen, dass keine staatlichen Organe involviert waren und es keinen politischen Hintergrund gab. Allenfalls sollte man der Polizei Mängel in ihrem Sicherheitskonzept vorwerfen können.
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