Schufte und verzichte - für das deutsche Vaterland

"Aufgeklärter Patriotismus" soll die Deutschland AG aufmöbeln und wieder zur Lokomotive Europas machen

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Allmählich Form und Gestalt nimmt an, was wir vor einiger Zeit bereits vermutet haben (Und was tust Du für Dein Land?). Seit neulich Wirtschaftsminister Wolfgang Clement "Patriotismus zur Bürgerpflicht" erklärt hat, werden Stimmen lauter, die "Vaterlandsliebe" als "emotionale Ressource" entdecken und sie als Re-Medium im Hickhack um Rentenkürzung, Zuzahlungen und längere Arbeitszeiten nutzen wollen. So wie die Niederländer zwei Jahre lang auf Lohnerhöhungen "freiwillig" verzichten und dem übrigen Europa damit ein Lehrstück in Sachen nationaler Solidarität geben, sollen auch die Deutschen abspecken und fürs Vaterland mehr malochen. Um in der globalen Konkurrenz der Nationen zu bestehen und nicht weiter auf die hinteren Plätze abzusacken, müssen die Bürger von Kindesbeinen an lernen, die Ärmel aufzukrempeln, in die Hände zu spucken und das Bruttosozialprodukt in neue Rekordhöhen zu steigern.

wohin es geht, das woll'n wir wissen
hmhmhmhmhmhmhmhmhmmmmm...

Mia, Was es ist

Die Hohmann-Affäre war da eher ein Ablenkungsmanöver. Sie ist vergangenheitsorientiert und rückwärtsgewandt. Die hektische Betriebsamkeit, die unsere politische Klasse erfasst hat; die Aufregung, die um die Beteiligung der Degussa AG an der Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin entstanden ist; die Empörung, die in Kommentaren, Leserbriefen und Stellungnahmen zum Ausdruck kam, sind oberflächlich, substanzlos und wurden von deutschen Medien hochgespielt. Wie alle Debatten dieser Art repetierte sie nur das in der Bundesrepublik jahrzehntelang eingeübte Spiel von Aktio = Reaktio, dessen Regeln Alarmisten nutzen und hysterisierende Öffentlichkeiten lieben.

Nationalismus, der sich rassistisch definiert und/oder mit antisemitischen Gefühlen spielt, ist längst überholt und passé. Zumindest in globalen Netzwerkgesellschaften. Wo er sich äußert, zeigt er sich mittlerweile neoliberal aufgeklärt (Ulrich Beck: Das Eigene, das Fremde und die Kommunikationsströme). Obwohl er auf Identitäten nicht verzichten kann oder will und Leitbilder propagiert, um die "Übermacht des Fremden" einzudämmen, geht es ihm einzig und allein darum, den Wirtschaftsstandort zu stärken und diesen Vorteil gegenüber anderen Nationen zu nutzen und auszubauen.

Das war beispielsweise auch der Grund, warum der Bundeskanzler soeben nach New York geeilt ist, um im Waldorf-Astoria-Hotel vor Bankern, Analysten und Konzernchefs für sein Land und die Agenda 2010 zu werben. Prompt brachte ihm das ein Lob der New York Times ein, die in einem langen Artikel in ihrem Wirtschaftsteil die Vorzüge des Standorts Deutschlands gegenüber denen des Fernen Ostens heraushob. Neben niedrigen Steuersätzen und Löhnen, staatlichen Fördermillionen und schwachen Gewerkschaften, abgespeckten Sozialsystemen und Eigenvorsorge gehören dazu inzwischen auch Bildung, Qualifizierung und die Förderung von Talenten (Manpower), um Deutschland fit für die Wissensgesellschaft und den globalen Wettbewerb zu machen. Dass Bildung und Qualifikation "Grundstock...wirtschaftlicher Dynamik und der neuen Weltordnung" sind, haben mittlerweile auch deutsche Politiker gemerkt (Wolfgang Schäuble: Was für Europa wichtig ist).

Frau Merkel, neuerdings fällt das Wort "Patriotismus" öfter im Bundestag. Gibt es jetzt einen Wettbewerb, wer am patriotischsten ist?

Angela Merkel: Wir besinnen uns in Deutschland zunehmend auf unsere Aufgaben, Rechte und Pflichten und auf unsere Rolle in der Welt. Dabei gibt es einen Wettbewerb um die besten Ideen. Für mich ist Patriotismus vor allem auf die Zukunft ausgerichtet. Das hat etwas mit gemeinsamen Werten, aber auch mit wirtschaftlicher Innovationskraft zu tun.

Interview in der Welt am Sonntag vom 30.11.

Antisemitismus, Apartheid und/oder Rassismus sind da eher hinderlich. Sie stören die Soft Power (Image, Reputation und Renommee) eines Landes und verhindern Investitionen, Kapitalzufluss und Firmenansiedlungen. Darum haben sie weder in Deutschland noch im "alten Europa" eine Chance. Dass sie liberale Demokratien wie ein Virus befallen und schließlich hinterrücks zerstören könnten, wie Mark Lilla mutmaßt, ist kaum zu befürchten. Dieses Gespenst geht nicht um in Europa. Der Schoß, aus dem das einst kroch, ist trockengelegt. Da sollte man sich auch von anders lautenden Umfragen nicht irre machen lassen.

Anti-Keulen

Wer Kritik an der Politik Israels oder den USA mit Antisemitismus oder Anti-Amerikanismus gleichsetzt oder gar beides miteinander vermengt, treibt ein böswilliges politisches Spiel, das leicht zu durchschauen ist. Sie hat die Aufgabe, Machtpolitik zu legitimieren, Kritiker mundtot zu machen und Solidarisierung zu erzwingen.

Wie das funktionieren kann, hat vor ein paar Wochen der Pädagogikprofessor Micha Brumlik eindrucksvoll vorgeführt. Und auch der israelische Ministerpräsident und sein Außenminister Silvan Shalom haben sich jüngst darin versucht, als sie nach den Anschlägen in Istanbul den Europäern in toto unterstellten, mit ihrer Kritik an der Politik der israelischen Regierung antisemitische Stimmungen zu schüren (Scharon sieht kollektiven Antisemitismus in Europa).

Richtig daran ist, dass die Bilder Not leidender Palästinenserkinder sowie die kompromisslose Haltung Jerusalems und Washingtons zu wachsender Verstimmung in Europa geführt haben. Die Sympathien der Europäer tendieren eindeutig in Richtung Palästinenser. Auch weil sie den Eindruck haben, dass sie es hier mit einem Jahrzehnte lang unterdrückten und gedemütigten Volk zu tun zu haben. Dass Feinde Israelis und Amerikas damit spielen und diese Ressource bei Attentaten auf Zivilisten und jüdische Einrichtungen in Istanbul und Paris für ihre Politik nutzen, dürfte politische Beobachter nicht verwundern. Darin ein Zeichen für wachsende Judenfeindschaft oder Judenhass zu erkennen, ist aber falsch. Für die Globalisierung des Terrors sind nicht dessen Kritiker verantwortlich. Nicht sie gefährden Ausgleich und Versöhnung zwischen den Völkern, sondern die Kriegsparteien selbst.

Wer Politik mit dem Hammer macht und sich wie der Elefant im Porzellanladen aufführt, braucht sich über Gegenreaktionen nicht zu wundern. Und wer mit Laser- und Bunker brechenden Waffen Krieg führt und dem Feind den Besitz solcher Waffen mit allen Mitteln verwehrt, muss mit asymmetrischer Gegenwehr und Kriegführung rechnen. Dies klar und deutlich anzusprechen, hat nichts mit "Einäugigkeit" zu tun, jener Blindheit also, die gegen amerikanische Ignoranz und israelische Militanz protestiert und arabische Selbstmordbomber in Kauf nimmt.

Wenn Ulrich Beck jüngst um Verständnis für die Haltung Israels geworben (Globalisierte Emotionen und den Europäern geraten hat, sich mal vorzustellen, sie säßen in einem Restaurant in Tel Aviv oder führen täglich mit einem Busticket durch die Stadt, dann vergisst der Münchner Soziologe zu erwähnen, dass weder Deutschland noch Frankreich, Luxemburg oder die Niederlande Krieg führen. Keines dieser Länder okkupiert derzeit fremdes Gebiet oder baut dort Siedlungen, noch zieht es einen Sicherheitszaun oder sperrt Bevölkerungsgruppen in Lager. Wäre dem so, dann müssten auch diese Länder fürchten, vermehrt Opfer von Selbstmordbombern oder anderer Formen von Terror zu werden.

Erfahrung mit Terror durch linke oder nationalistische Gruppen haben Alteuropäer bereits. Sicherlich nicht in dem Ausmaß und der Vehemenz, wie ihn Israelis und Amerikaner derzeit erleben. Aber doch hinreichend genug, um zu wissen, dass Rückstoßeffekte Ausdruck bestimmter Macht- und Raumpolitik sein können. Auch für Alteuropäer gilt, was Judith Butler (No, it's not anti-semitic) im Sommer Lawrence Summers, Präsidenten der Harvard Universität vorhielt, der angekündigt hatte, jede Kritik an Israel künftig als antisemitisch werten zu wollen:

Selbst wenn man glaubt, dass Kritik an Israel mehr oder weniger als antisemitisch gehört wird [...], läge es in unser aller Verantwortung, die Rezeptionsbedingungen zu verändern, so dass die Öffentlichkeit in der Lage wäre, zwischen Kritik an Israel und Judenhass zu unterscheiden.

Das ist leichter gesagt als getan. Das erfuhren auch die mehr als 3.000 Unterzeichner eines Offenen Briefes in der New York Times vom 17. Juli 2002, in dem sie die Okkupationspolitik Israels offen kritisiert und die US-Regierung aufgefordert hatten, Israel die finanzielle Unterstützung aufzukündigen, sollte es eine Zweistaatenlösung nicht akzeptieren. Danach mussten sich die Unterzeichner allerdings sagen lassen, dass sie sich "mit dem moslemischen Aggressor" verbünden würden und indirekt zum "Regime Change" aufgerufen hätten.

Formierte Bildung

Dass Nationalismus sich längst anders, nämlich neoliberal abgeklärt artikuliert, bestätigt vor allem auch die Studie Bildung neu denken, die das Baseler Prognos-Institut im Auftrag der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft verfasst hat und die soeben Dieter Lenzen, ehemaliger Verfechter postmoderner Inhalte und jetzige Rektor der FU-Berlin, mit viel Tamtam der Öffentlichkeit vorgestellt hat.

Will die Bundesrepublik im Kampf der Nationen um Investitionen, Köpfe und Prestige bestehen und weiter in der Champions League mitspielen, dann müsste, so die Kernaussage der Studie, bis 2020 das Schuleintrittsalter schrittweise auf vier Jahre abgesenkt werden. Gleichzeitig müssten die Schulferien radikal gekürzt, der Samstag zum regulären Schultag gemacht, ein ziviles Pflichtjahr eingeführt und die Fort- und Weiterbildung verpflichtend vorgeschrieben werden. Spätestens mit vierzehn müsste der Lernende die Schule und mit zwanzig Jahren die Hochschule verlassen.

Wir schulen die Kinder nicht nur sehr spät ein. Wir halten sie auch viel zu lange in der Schule. Zwischendurch lassen wir einen großen Teil der Schüler auch noch eine Klasse wiederholen.

Dieter Lenzen in einem Interview für "Die Zeit"

Die Begründungen, die der Pädagoge für die Ausweitung des Schultages auf das gesamte Kindes- und Jugendalter liefert, sind alles andere als pädagogisch. Um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern und ihren Wohlstand zu halten, brauche die Bundesrepublik bald eine Vielzahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte. Die Versuche, Manpower aus dem Ausland anzulocken, seien gescheitert. Darum sei Höherqualifizierung die einzige Ressource, über die die Bundesrepublik verfüge, um diesen Missstand zu beseitigen:

Wir gehen davon aus, dass bis 2020 mindestens die Hälfte aller Schulabgänger einen Hochschulabschluss haben muss. Das hieße, wir benötigen eine Abiturientenquote um die 70 Prozent.

Zum anderen sei schon aufgrund der Alterspyramide und der Unlust der Deutschen, Kinder zu gebären, ein früherer Schuleintritt vonnöten. Bald müssten junge Arbeitskräfte in Übermaß den Lebensabend der Alten finanzieren. Da könne man sich Bummeln und Trödeln an unseren Schulen ebenso wenig leisten wie das Brachliegen "kindlicher Neugierde und Wissbegierde". Da diese Ressource obendrein kostenlos zu haben sei, wäre es grob fahrlässig, sie national nicht zu nutzen und sie optimal auf die künftigen Anforderungen des deutschen Arbeitsmarktes abzustimmen.

Moderne Biopolitik

Wie bereits in den sechziger Jahren, als der Sputnik-Schock zur Gründung des "Deutschen Bildungsrates" führte, Begabung mit "begaben" übersetzt wurde und "Bildungsreserven" in Arbeiterschichten vermutet wurden, werden auch diesmal, nach Pisa-Schock und hausgemachten Problemen, pädagogische Fantasien (Wissbegierde, kindliche Neugierde, Lernwillen ...) mit wirtschaftlichen Interessen (Altersfürsorge, Höherqualifizierung, längere Arbeitszeiten ...) verknüpft.

Erneut ist das "Ausschöpfen bislang ungenutzter Bildungsreserven" Ziel nationaler Bildungsplanung, um dem verschärften internationalen Wettbewerb standzuhalten. Darum hat zweckfreie Bildung ausgedient. Künftig dürfen Lernen und Bildung nicht mehr dem Zufall überlassen werden. Regelmäßige und standardisierte Lernleistungstest schon in der Grundschule sollen Auskunft über den Wissensstand der Zöglinge geben.

Aber nicht nur der Unterricht muss staatlich geplant und periodisch überprüft, auch Lernzeiten, Ruhepausen und die Freizeit von Kindern und Jugendlichen sollen fortan unter der strengen Aufsicht von Lehrern organisiert, rhythmisiert und kontrolliert werden. Am liebsten durch Kasernierung der Zöglinge von acht Uhr morgens bis nachmittags um vier oder fünf, damit Mama oder Papa bei Infineon die Chip-Produktion steigern oder einem Billigjob bei einem Dienstleister nachgehen können.

Was einst nur für den Arbeitstag der Erwachsenen galt, nämlich den gesamten Körper des Arbeiters für die Zwecke des Betriebs oder der Behörde in Bewegung zu setzen, soll nun auf den Alltag der Kinder übertragen werden. Der "formellen Subsumtion" folgt die "reelle Subsumtion" (Karl Marx) des Lebens. Sie zielt, wie Foucault klar gemacht hat, auf den ganzen Körper des Zöglings.

Über die Eignung zur Lösung komplexer Aufgaben sagt die Abiturientenquote nichts aus

Es ist abzusehen, dass die Bildungsplaner und pädagogischen Eiferer mit dieser Politik scheitern werden. Auch mit noch so viel Unterricht, intensiver Betreuung und längeren Schulzeiten werden sich Wissensarbeiter nicht am Fließband produzieren lassen. Zum Symbolanalytiker taugen nur die wenigsten Menschen. Aus Trabis lassen sich bekanntlich keine Ferraris machen.

Das Problem der Bildungs- und Berufsunfähigkeit, das die Single- und Mediengesellschaft schafft, lässt sich auch durch Ganztagsschulen und Förderunterricht nicht beseitigen. Obligatorische Vorschule ab drei, Ganztagsbetreuung und verbessertes Lern- und Wissensmanagement werden, wie Studien in vergleichbaren Staaten (Frankreich, England ...) zeigen, an dieser Misere der postmodernen Informationsgesellschaft nichts Gravierendes ändern.

Die Abiturientenquote zum Gradmesser für das Bildungsniveau eines Landes zu machen, ist Augenwischerei. Über die Eignung des Nachwuchses zur Lösung komplexer Aufgaben sagt sie nichts aus. Um sie sofort anzuheben, bräuchte man (wie soeben in der Handwerksordnung vorexerziert wird) bloß Anforderungen abzusenken und den Zugang zu den Gymnasien freizugeben. Schon hat man die gewünschte Quote und befindet sich auf Augenhöhe mit anderen OECD-Staaten.

Dass allerdings von Jahr zu Jahr das Lernniveau sinkt, das Anspruchsdenken steigt und die Klagen von Unternehmern, Hochschullehrern und Handwerkern über mangelhafte Grundkenntnisse in Schreiben, Rechnen und Lesen unvermindert hoch sind, wird nicht durch bessere Quoten erreicht. Dazu bedarf es keiner "extensions of school", sondern der Konzentration auf das Wesentliche. Davon sind unsere Pädagogen aber meilenweit entfernt. Statt Lehrpläne zu entrümpeln, Ballast abzuwerfen und den Wissenskanon auf Ziele der Grundbildung zu beschränken, wollen sie möglichst alle Probleme der modernen Gesellschaft in der Schule lösen.

Dass die Postmoderne daran nichts geändert, eher den biopolitischen Traum der Menschenbildung und Menschenzüchtung befeuert hat, beweist der Vorsteher der Studie, Dieter Lenzen. Vor zehn Jahren, als es an der FU in Berlin opportun war, plädierte er für Lakonie und Gelassenheit im Umgang mit den Zöglingen. Jetzt, als ihr Präsident, will er nicht nur Vierjährige einschulen, den Samstag zum Schultag machen und aus Ferien "Schulurlaub" machen, er hat soeben auch verkündet, etwa ein Viertel der Professorenstellen an der FU abbauen zu wollen. So schnell wird ein Postmodernist zum Superbeschleuniger des digitalen Kapitalismus.

Keine Zeit verlieren

Aus derselben Quelle scheint der bayerische Ministerpräsident zu schöpfen. Nach seinem überwältigenden Wahlerfolg in Bayern strotzt er nur so vor Kraft und Potenz. Auch er drückt wie sein Amtskollege in Hessen auf die Tube: Er will Fünfjährige in die Schule schicken, die Gymnasialzeit vom nächsten Schuljahr an um ein Jahr verkürzen und die Schulstunden pro Woche um bis zu acht Stunden erhöhen. Auf Schüler der zehnten Gymnasialklasse wartet dann künftig eine 38 Stundenwoche.

Gleichzeitig will er den Universitäten eine mehrprozentige Kürzung der Mittel aufbürden, was Rektoren und Studenten, Professoren und Hilfskräfte auf die Straße treibt und zu massiven Protesten animiert. Und das, obwohl ein neuer Studentenberg auf die Universitäten zurollt und der Arbeitsmarkt nach mehr und höher qualifizierten Absolventen lechzt.

Wie dieses Paradox ohne Erhöhung der Stellen, Mittel und Etats gemeistert werden soll, dürfte auch Pisa-Spitzenreiter überfordern. Auf die Idee, den erhöhten Ausstoß von qualifiziertem Personal mit längeren Präsenz- und Lehrzeiten der Hochschullehrer, Leistungszulagen und Verkürzung der Qualifikationszeiten des wissenschaftlichen Nachwuchses zu bewältigen, kann nur kommen, der keine Ahnung davon hat, was an den deutschen Massenuniversitäten abläuft. Dass Schule, Bildung und Universität nicht der Marktlogik folgen, scheint unseren Schnelldenkern und Vollgaspädagogen nicht in den Sinn zu kommen.

Zu recht hat Armin Nassehi auf die Kurzsichtigkeit der Politik und ihrer Repräsentanten im Land hingewiesen (Eine bayerische Katastrophe) und sowohl die Vollmundigkeit des bayerischen Ministerpräsidenten als auch dessen Populismus und "wohlfeile Semantik" angeprangert, mit der dieser seine Streichorgie untermalt (Profilschärfung, internationales Benchmarking, Standards für Betreuung und Beratung).

Doch der Systemtheoretiker sollte sich nicht täuschen. Auch der bayerischen Staatsregierung dürfte bekannt sein, dass Sparen, Streichen und Kürzen bei den Betroffenen unpopulär ist und die Arbeitsmoral dadurch vehement sinkt. Leistungszulagen von ein paar lumpigen Euro, mit denen Professoren geködert werden sollen, werden diese nicht heben, wenn bei Börsenspekulationen oder dem Verfassen von Gutachten ein Vielfaches verdient werden kann. Und auch Lehrer werden, wenn sie künftig an zwei Nachmittagen verpflichtend Dienst an bayerischen Schulen schieben sollen, der inneren Emigration und Kündigung den Vorzug geben und, bis auf ein paar wenige Karrieristen, nur noch business as usual an ihren Schulen verrichten. Junge Leute für den Lehrerberuf zu gewinnen, wird so jedenfalls nicht gelingen.

Schon wird im Feuilleton ein neuer Menschentyp gehandelt, der in den Unternehmen Dienst nach Vorschrift macht, nicht auffällt, den Kopf unten hält, Anweisungen nicht widerspricht, mit der Mehrheit stimmt und ansonsten seine Arbeit, dem äußeren Anschein nach jedenfalls, zufriedenstellend verrichtet (Immer nur schlafen). Diese Leute, "Larven" genannt, die dem "modernen, flexiblen Menschen" (R. Sennett) des globalen Kapitalismus diametral gegenüberstehen, tun gerade soviel, um nicht entlassen zu werden. Sie gleichen Melvilles Kanzleischreiber Bartleby, der sich gegen Anweisungen zwar nicht sträubt, aber sich auch nirgendwo engagiert oder einbringt.

Die Stunde der Patrioten schlägt

Um dieser drohenden "Logik des Zerfall" des Charakters, der postmodernen Arbeitswelt und ihrer Arbeitsethik aufzuhalten und ihr entgegenzuarbeiten, scheint Patriotismus für immer mehr deutsche Politiker ein geeignetes Gegengift zu werden. Frau Merkel spricht seit der Hohmann-Affäre davon; Herr Westerwelle bekennt sich überraschend auch dazu (Ich bin ein Patriot); und auch der Bundeskanzler und Edmund Stoiber machen sich in Interviews für einen "aufgeklärten Patriotismus" stark.

Von ungefähr kommt diese neue Begeisterung für die deutsche Sache nicht. Der schwarzrotgoldene Jubelsturm, der um die dürftigen Leistungen von "Rudis Riesen" in Südkorea entfacht worden ist, scheint im Gedächtnis vieler Politikern und ihrer Berater geblieben zu sein. Sie wissen, dass der Mensch nicht nur ein rationales, sondern auch ein stark emotionales Wesen ist, das Wärme, Zuwendung und Zuspruch braucht. Und sie wissen, dass Opfer in Form von Kürzungen, Zuzahlungen und Mehrarbeit nur dann bereitwillig hingenommen werden, wenn sie mit einem Wofür, also mit Sinn und Ziel versehen werden.

In der Emotionalität für das eigene Land haben wir riesige Defizite. Dazu gehört auch der verklemmte Umgang mit nationalen Symbolen.

Arnulf Baring

Diese Verklemmung zu beseitigen helfen soll ein"Patriotismus des Wohlwollens, der die "Leitkultur um ihrer selbst willen begrüßt und festigt" und dies "nicht etwa deshalb tut, weil man damit so gut Ausländer ausgrenzen kann":

Ein solcher Patriotismus liebt die Landschaften, weil er sie betrachtet und sich erwandert, er mag die in ihnen Wohnenden, deren Gebräuche, übrigens auch ihre Speisen und Getränke, ihre Kleidung, ihre Häuser, ihre Gärten."

Die diese "Leerstelle" füllen, den Deutschen ein "neues Selbstwertgefühl" einimpfen und Nationalstolz der Pflege durch die freiheitliche Demokratie überantworten möchten, sind beileibe nicht nur Nationalkonservative oder Angestellte der Springer AG. Wie Ulf Poschardt, geschasster Chefredakteur des SZ-Magazins zusammen mit Heimo Schwilk anmerkt, hat längst "eine junge, weltoffene Generation den Patriotismus als neues Lebensgefühl für sich entdeckt" (Die Zukunft des Patriotismus)

In Berlin, so weiß der einstige Borderline-Journalist, tanzen junge Patrioten mit zu Zöpfen gebundenen Haaren in schwarzrotgoldenen Schärpen und Gewändern zu Klängen britischer DJs; auf Schals, die locker um die Hüften gebunden sind, tragen sie stolz und offen die Aufschrift "Deutschland" zur Schau; junge Modemacherinnen nehmen mit neuen Kollektionen, die sie "mutter erde vater land" nennen, Teil an einer neupatriotische Identitätssuche, während Jungrocker wie die Berliner Punk-Kombo Mia, ganz unbefangen mit der deutschen Farbsymbolik spielen.

Auf ihrem neuen Stück, dem Song "Wie es war", versucht Mia Heinrich Heine mit dem neuen Deutschland zu versöhnen. Denken sie an Deutschland, dann bringt sie das nicht mehr um den Schlaf. Auch fühlen sie sich nicht mehr fremd im eigenen Land. Mit Sprüchen wie denen von Ian Anderson, Flötist und Chef von Jethro Tull: "Ich hasse es zu sehen, wie aus jedem Scheiß-Kombiwagen und jedem kleinen Haus im Mittleren Westen eine amerikanische Fahne hängt", können sie ebenso wenig anfangen wie mit der deutschen Erinnerungskultur. Fragt man nach ihrer Herkunft, tun sie sich auch nicht mehr leid. Vor steten Wandel und Opfer bringen haben Mia keine Angst. Zu Änderungen, die unweigerlich anstehen, sind Mia jederzeit bereit, sie wissen: "mit ändern fängt geschichte an". Mia: "ich freu mich auf mein leben, mache frische spuren in den weißen strand." Allerdings wollen sie wissen, "wohin es geht", wenn "neues deutsches land (betreten)" wird.

Natürlich ist klar, dass es sich hier um eine kühl kalkulierte und geschickt gehypte Kampagne handelt, um eine allenfalls durchschnittliche Band nach vorn zu bringen. Daher sollte man das Ganze auch nicht allzu hoch hängen. Musikalisch recycelt Mia nur die Musik der Humpe-Schwestern zu Beginn der 80er, während sie mit ihrer rotzfrechen Sängerin Mieze einen Kontrapunkt zu Rammstein setzt, jenen schwer röhrenden Jungs, die in der Wendezeit mit Feuer, schwarzem Leder und düsterer Symbolik für Furore und Entrüstung bei Alt-68ern sorgte. Interessant ist dieses Spiel mit Zeichen und Symbolen, das Mia inszeniert, aber schon. Die Zukunft wird zeigen, wie weit diese "Neue Deutsche Welle" tragen und zum Stimulieren patriotischer Gefühle taugen wird.