Schutzpflicht des Staates: Blankoscheck für Grundrechtsentzug?
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Forscher fordern von WHO Gesundheits-Notstand wegen des Klimawandels. Verfassungsrechtler diskutieren Parallelen zur Corona-Krise. Unser Autor fragt, wie weit die Regierung gehen darf.
Ich glaube – und das wäre das Gefährliche an den ganzen drei Jahren – dass wir uns möglicherweise daran gewöhnt haben, dass Einschränkungen der Grundrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Großkrise gehören.
Und dass in solchen Großkrisen – ob bei Corona oder beim Klima – das Unverhältnismäßige verhältnismäßig wird.
Heribert Prantl, Panel-Diskussion Denkfabrik R21: Deutschland zwischen Covid und Klima - Grundrechte unter Vorbehalt?, 18.9.2023
Wem die Analogiebildung zwischen Corona- und Klima-Maßnahmen bis jetzt noch als unangebracht aufgestoßen ist und wer Klima-Lockdown-Äußerungen wie die des deutschen Gesundheitsministers oder der "Lieblings"-Theoretikerin des Wirtschaftsministers in das Reich der Hirngespinste verwiesen hatte, dem gibt der vergangene Woche veröffentlichte Aufruf einer Gruppe von Wissenschaftlern vielleicht Gelegenheit, seinen Standpunkt zu überdenken.
Der Klimawandel als Gesundheitsnotstand
Wie unter anderem die Tagesschau berichtet, haben mehr als 200 wissenschaftliche Fachzeitschriften zeitgleich einen Aufruf veröffentlicht, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, anlässlich des Klimawandels einen Gesundheitsnotstand auszurufen.
Schirmherr der Initiative ist Chris Zielinski, seines Zeichens Vize der World Association of Medical Editors (Wame) und eigenen Angaben zufolge Experte für "Intellectual Capital Management", "Social Impact Assessment" und "Public Services".
Zielinski arbeitet eng mit der WHO zusammen, nicht nur als langjähriger Berater der UN-Organisation, sondern auch vermittels der UK Health Alliance on Climate Change (HACC), die wiederum als Teil der Global Climate and Health Alliance indirekt von der WHO gefördert wird.
Doch – kurios: Die WHO lehnt ab, liest man in den Medienberichten. Allerdings verbirgt sich dahinter mehr eine Formalie.
Als "chronische Krise" stelle der Klimawandel keinen akuten Gesundheitsnotfall von internationaler Tragweite (PHEIC) dar, formuliert ein WHO-Sprecher gegenüber der dpa. Einer generellen Verknüpfung von Gesundheits- und Klimaschutz samt möglicher Notfallmaßnahmen und einer Erweiterung ihrer Verfügungsgewalt widerspricht die WHO dagegen nicht.
Im Gegenteil, diese treibt sie selbst voran (siehe: "One Health: Auf dem Weg zu einer neuen globalen Gesundheitsordnung").
Und die deutsche Politik übernimmt bei der Umsetzung dieses Programms zunehmend eine Führungsrolle.
Völkerrecht bindet, auch indirekt
Die Erweiterung ihrer Kompetenzen verfolgt die WHO bekanntlich auch mit dem völkerrechtlich bindenden Pandemievertrag, der planmäßig im Mai 2024 der Gesundheitsversammlung vorgelegt werden soll. Während Bindungs- und Sanktionskraft noch Gegenstand von Verhandlungen ist, ist sie im Falle der Internationalen Gesundheitsrichtlinien, die bis dahin ebenfalls geändert werden sollen, unbestritten.
Dass ein völkerrechtlicher Vertrag nationaler Selbstbestimmung prinzipiell vorgelagert ist und der Pandemievertrag finanzielle Sanktionen erlauben könnte, ist indes keine Verschwörungstheorie, wie verschiedene Medien glauben machen wollen.
Aber auch abgesehen davon, dass völkerrechtliche Verträge gemäß Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind und als solche einen Vorrang gegenüber den nationalen Gesetzen genießen (Prinzip der Normenhierarchie), unterstützt Deutschland die Notstands-Kompetenz der WHO nach Kräften.
Das gilt nicht nur für Zuwendungen in zweistelliger Millionenhöhe (Vgl. "Top donor Germany signs major contribution to WHO for health emergencies"), sondern auch explizit im Falle der parlamentarischen Mehrheit für die Stärkung der supranationalen Organisation.
Der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) macht dabei selbstverständlich keine Ausnahme. Seine Ankündigung bevorstehender Grundrechtseinschränkungen aufgrund des Klimawandels war möglicherweise nicht falsch, sondern nur vorschnell.
Denn immer mehr zeigt sich, dass das Interesse an einer Verknüpfung von Gesundheits- und Klimapolitik in weiten Teilen der deutschen Politik Konsens ist.
Das Zauberwort, der zentrale und umstrittene Begriff in dieser Angelegenheit, lautet "Schutzpflicht des Staates". Denn es steht angeblich nicht weniger auf dem Spiel als die "nationale Sicherheit".
Schutzpflicht in Einklang mit Agenda 2030
Dementsprechend stützt sich die Ampel-Koalition auch in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom Juni auf besagte Schutzpflicht. Dort heißt es:
Globale Klima-, Umwelt-, Ernährungs- und Ressourcenpolitik ist Sicherheitspolitik. Den Rahmen deutschen Handelns bilden dabei die Agenda 2030 mit ihren Nachhaltigkeitszielen und die internationalen klima-, umwelt- und ernährungspolitischen Vereinbarungen. (…) Dabei gilt für das Handeln der Bundesregierung der Primat der Prävention: Frühzeitiges Handeln schützt Leben.
Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland – Nationale Sicherheitsstrategie
Welche sicherheitspolitischen Leitlinien dabei Anwendung finden, hat die Bundesregierung einen Monat später im Bundes-Klimaanpassungsgesetz ausformuliert. Dabei bezieht sie sich auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG:
Die Bundesrepublik Deutschland hat gegenüber den vom Klimawandel betroffenen Menschen eine Schutzpflicht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes (Vgl. BVerfG vom 24. März 2021 – BVR 2656/18, 78, 96, 288/20 – Rn. 150), die für alle staatlichen Verwaltungsgliederungen gilt.
Sie hat ferner nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 7 Absatz 1 des Übereinkommens von Paris aufgrund der Klimarahmenkonventionen der Vereinten Nationen das Ziel, die Anpassungsfähigkeit zu verbessern, die Widerstandsfähigkeit zu stärken und die Anfälligkeit gegenüber dem Klimawandel zu verringern, um einen Beitrag zur Verwirklichung von Zielvorgabe 13.3 der UN-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung zu leisten, die verlangt, die personellen und institutionellen Kapazitäten im Bereich der Klimaanpassung zu verbessern.
Bundes-Klimaanpassungsgesetz
Die deutlichste Ausformulierung der Klima-Schutzpflicht ist freilich der sogenannte Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das sich seinerseits auf Art. 20a GG beruft. Dieser lautet bekanntlich wie folgt:
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.
Grundgesetz Artikel 20a
Das BVerfG äußerte sich in seinem weitreichenden Beschluss vom März 2021 folgendermaßen:
1. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. 2. 2. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität.
Bundesverfassungsgericht: Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021
Globaler Klima-Erfolg Deutschlands ist irrelevant
So weit, so bekannt. Die folgenden Teile des Beschlusses sind allerdings weniger bekannt, dafür umso brisanter. Denn sie suggerieren, dass sich die juristische Schlagkraft von Artikel 20a künftig erweitern wird. Und zwar auch dann, wenn Evidenz für Klimaschädigung fehlt oder sich die deutsche Klimapolitik in ihrer globalen Dimension als aussichtslos erweist.
a. Art. 20a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu.
b. Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.
c. Als Klimaschutzgebot hat Art. 20a GG eine internationale Dimension. Der nationalen Klimaschutzverpflichtung steht nicht entgegen, dass der globale Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung der Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt. Das Klimaschutzgebot verlangt vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas und verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz hinzuwirken. Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.
Bundesverfassungsgericht: Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021
Sollten keine Zweifel mehr darüber bestehen, warum der Staat in Grundrechte eingreifen darf – nämlich, wie es heißt, um künftige Generationen von einem zu restriktiven Umgang mit deren "Co2-Budgets" und "Co2-relevanten Verhaltensweisen" zu schützen –, stellt sich immer noch die Frage, in welchem Ausmaß er überhaupt dazu berechtigt ist. Schließlich gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.