Schutzpflicht des Staates: Blankoscheck für Grundrechtsentzug?
Seite 3: Von der Corona-Bundesnotbremse zum Klima
- Schutzpflicht des Staates: Blankoscheck für Grundrechtsentzug?
- Zivilrechtliche Klima-Klagen scheitern – in Deutschland
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Die CDU-nahe Denkfabrik R21 hat Mitte September eine Gesprächsrunde zum Thema "Covid und Klima – Grundrechte unter Vorbehalt?" veranstaltet.
Das Gespräch drehte sich um die Zulässigkeit von Freiheitseinschränkungen während der Corona-Krise im Allgemeinen sowie die Entscheidung des BVerfG zur sogenannten Bundesnotbremse im Besonderen.
Gesprächsteilnehmer waren neben der Brandenburger Verfassungsrichterin und Autorin Juli Zeh, der Rechtsanwältin Jessica Hamed und dem studierten Juristen und Autoren Heribert Prantl auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier.
Zum juristischen Umgang mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das auch als Rechtfertigung für die Maßnahmen der sogenannten Bundesnotbremse herangezogen wurde, bemerkte Papier Folgendes:
Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Schutzmaßnahmen oder für die Beurteilung reicht es eben nicht (...) ganz abstrakt den Zweck des Schutzes der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung festzustellen und wegen der zweifelsohne abstrakten Hochwertigkeit dieses Schutzguts Leben und Gesundheit jedwede Freiheitsbeschränkung zu legitimieren.
Hans-Jürgen Papier
Maßnahmen als Teil eines "schlüssigen Gesamtkonzepts" zu betrachten, befreie das Gericht nicht von seinem Auftrag, jede einzelne Einschränkung präzise auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen, so Papier. In der Corona-Krise habe es diesen Auftrag jedoch allein schon aufgrund einer unzureichenden Datenlage nicht befolgen können.
Juli Zeh erbrachte anschließend die Transferleistung im Hinblick auf die schwierige Entscheidungsfindung beim Thema Klimaschutz und schnitt eine Reihe zentraler Aspekte an:
Wir hatten sowohl bei Corona – aber wir haben es erst recht bei dem Klima-Thema – mit Sachgebieten zu tun, wo ein ganz hoher wissenschaftlicher Unsicherheitsfaktor herrscht, [wo wir es] mit sehr komplexen, multikausalen – zwar algorithmisch immer wieder prognostizierten, dann aber erweislich auch wieder in der Prognose falschen – Zukunftsvorhersagen zu tun haben, auf die dann politische Maßnahmen gestützt werden und die dann hinterher auch noch justiziabel sein sollen. (…) wenn wir jetzt uns vorstellen, zum Klimaschutz werden Maßnahmen erlassen wie persönliche CO2-Kontingente (…) oder es werden bestimmte Flugbegrenzungen (...) kommen – dann müssten wir ja aus juristischer Sicht immer wieder fragen: "Ist das geeignet? hält das den Klimawandel auf? Ist das erforderlich? Ist das die mildest mögliche Maßnahme oder könnten wir irgendwas machen, was weniger einschneidend ist, und ist es am Ende verhältnismäßig?"
Juli Zeh
Abgesehen von der Komplexität der Sachgebiete, warf Juristin Jessica Hamed ein, erschwere auch das "menschliche Herdenverhalten", welches Themenbereiche in moralischen Kategorien gewichtet, eine nüchterne juristische Analyse.
Tyrannei des Kollektivismus
Folgt man der Rechtsphilosophie Giorgio Agambens, wie sie Telepolis bereits ausführlich dargestellt hat, kann man die Reduktion des juristischen Entscheidungsgegenstands auf das "nackte Leben" in der Debatte um Gesundheits- und Klimaschutz zudem als Zeugnis eines neuartigen Rechtsverständnisses interpretieren, das dem Individuum Freiheit nur noch unter dem Vorbehalt eines kollektiven Nutzens zugesteht.
Es ist nicht einmal erforderlich, dabei böse Absichten zu unterstellen. Dass auch eine prinzipiell wohlwollende kollektivistische Ideologie die Rolle des mündigen Bürgers untergräbt und totalitäre Züge annehmen kann, hat Le Monde Diplomatique-Autorin Évelyne Pieiller bereits Ende 2020 beschrieben:
Die Übernahme von Verantwortung in einer Pflicht zum Schutz der Verletzlichen zu fordern, erweist sich somit als ein Unterfangen, das viel radikaler dem Politischen zuzuordnen ist als dem vorsichtigen Realismus oder der bloßen ‚Menschlichkeit‘. Es wird ein neues Konzept des Bürgers entwickelt, dessen Herausforderungen nicht durch Sentimentalität, Schuldgefühle oder sogar die Großzügigkeit des Altruismus verschleiert werden dürfen.
Die Gesellschaft wird als ein organisches Ganzes betrachtet, das nur durch Zwang zum Guten geführt werden kann; politische Entscheidungen werden durch die Erwartung des Schlimmsten gerechtfertigt; Emanzipation erfolgt nicht mehr durch die Entwicklung eines kritischen Geistes, sondern durch die Anerkennung einer konstitutiven Fragilität und einer allgemeinen Interdependenz, Begriffe, die man im Zentrum der Aussagen der Kollapsologie oder der Befürworter der "Commons" (= der Allmende, des Gemeinschaftsbesitzes) wiederfindet.
Évelyne Pieiller: La tyrannie de la bienveillance, Le Monde Diplomatique, Dezember 2020
Wenn generalisierende, "schlüssige Gesamtkonzepte" das Primat vor der Souveränität des Bürgers genießen, laufen die politisch Verantwortlichen auch für den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Papier Gefahr, einer "autoritären Versuchung" zu erliegen und den "Werkzeugkasten" der Grundrechtseingriffe nicht mehr maßvoll, sondern maximal zu gebrauchen. Papier:
Ein Staat, der alle persönlichen Risiken seinen Bürgerinnen und Bürgern abzunehmen versucht, wird selbst zum Risiko für den Rechtsstaat. Es ist im Grundgesetz nicht Aufgabe des Staates – seiner Gesetzgebung, seiner Exekutive, aber auch nicht seiner Judikative – den Menschen im Einzelnen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben und was sie zu denken haben.
Hans-Jürgen Papier
Schließlich fügte Heribert Prantl der Diskussion noch einen wesentlichen Aspekt hinzu, als er in der Gesprächsrunde bemerkte:
Ich frage mich auch, ob es tatsächlich nicht einen Punkt gibt, wo man sagen muss: Das ist der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung, der muss so sicher sein, dass er jedweder Abwägungen entzogen ist.
Heribert Prantl
Allerdings stellt sich die Frage, ob die gegenwärtige Form, in der der Klimaschutz verfolgt wird, genau diese Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit noch dulden kann.
Darin würde sich eine bedenkliche Nähe zu dem scheinbar überholten Paradigma zeigen, das der öffentlichen Wahrnehmung zufolge nur die vergangenen beiden Jahrzehnte beherrscht haben soll: das des Sicherheits- und Überwachungsstaats.