Schutzpflicht des Staates: Blankoscheck für Grundrechtsentzug?

Foto: Nicola Quarz / CC BY-SA 4.0 Deed

Forscher fordern von WHO Gesundheits-Notstand wegen des Klimawandels. Verfassungsrechtler diskutieren Parallelen zur Corona-Krise. Unser Autor fragt, wie weit die Regierung gehen darf.

Ich glaube – und das wäre das Gefährliche an den ganzen drei Jahren – dass wir uns möglicherweise daran gewöhnt haben, dass Einschränkungen der Grundrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Großkrise gehören.

Und dass in solchen Großkrisen – ob bei Corona oder beim Klima – das Unverhältnismäßige verhältnismäßig wird.

Heribert Prantl, Panel-Diskussion Denkfabrik R21: Deutschland zwischen Covid und Klima - Grundrechte unter Vorbehalt?, 18.9.2023

Wem die Analogiebildung zwischen Corona- und Klima-Maßnahmen bis jetzt noch als unangebracht aufgestoßen ist und wer Klima-Lockdown-Äußerungen wie die des deutschen Gesundheitsministers oder der "Lieblings"-Theoretikerin des Wirtschaftsministers in das Reich der Hirngespinste verwiesen hatte, dem gibt der vergangene Woche veröffentlichte Aufruf einer Gruppe von Wissenschaftlern vielleicht Gelegenheit, seinen Standpunkt zu überdenken.

Der Klimawandel als Gesundheitsnotstand

Wie unter anderem die Tagesschau berichtet, haben mehr als 200 wissenschaftliche Fachzeitschriften zeitgleich einen Aufruf veröffentlicht, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert, anlässlich des Klimawandels einen Gesundheitsnotstand auszurufen.

Schirmherr der Initiative ist Chris Zielinski, seines Zeichens Vize der World Association of Medical Editors (Wame) und eigenen Angaben zufolge Experte für "Intellectual Capital Management", "Social Impact Assessment" und "Public Services".

Zielinski arbeitet eng mit der WHO zusammen, nicht nur als langjähriger Berater der UN-Organisation, sondern auch vermittels der UK Health Alliance on Climate Change (HACC), die wiederum als Teil der Global Climate and Health Alliance indirekt von der WHO gefördert wird.

Doch – kurios: Die WHO lehnt ab, liest man in den Medienberichten. Allerdings verbirgt sich dahinter mehr eine Formalie.

Als "chronische Krise" stelle der Klimawandel keinen akuten Gesundheitsnotfall von internationaler Tragweite (PHEIC) dar, formuliert ein WHO-Sprecher gegenüber der dpa. Einer generellen Verknüpfung von Gesundheits- und Klimaschutz samt möglicher Notfallmaßnahmen und einer Erweiterung ihrer Verfügungsgewalt widerspricht die WHO dagegen nicht.

Im Gegenteil, diese treibt sie selbst voran (siehe: "One Health: Auf dem Weg zu einer neuen globalen Gesundheitsordnung").

Und die deutsche Politik übernimmt bei der Umsetzung dieses Programms zunehmend eine Führungsrolle.

Völkerrecht bindet, auch indirekt

Die Erweiterung ihrer Kompetenzen verfolgt die WHO bekanntlich auch mit dem völkerrechtlich bindenden Pandemievertrag, der planmäßig im Mai 2024 der Gesundheitsversammlung vorgelegt werden soll. Während Bindungs- und Sanktionskraft noch Gegenstand von Verhandlungen ist, ist sie im Falle der Internationalen Gesundheitsrichtlinien, die bis dahin ebenfalls geändert werden sollen, unbestritten.

Dass ein völkerrechtlicher Vertrag nationaler Selbstbestimmung prinzipiell vorgelagert ist und der Pandemievertrag finanzielle Sanktionen erlauben könnte, ist indes keine Verschwörungstheorie, wie verschiedene Medien glauben machen wollen.

Aber auch abgesehen davon, dass völkerrechtliche Verträge gemäß Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts sind und als solche einen Vorrang gegenüber den nationalen Gesetzen genießen (Prinzip der Normenhierarchie), unterstützt Deutschland die Notstands-Kompetenz der WHO nach Kräften.

Das gilt nicht nur für Zuwendungen in zweistelliger Millionenhöhe (Vgl. "Top donor Germany signs major contribution to WHO for health emergencies"), sondern auch explizit im Falle der parlamentarischen Mehrheit für die Stärkung der supranationalen Organisation.

Der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) macht dabei selbstverständlich keine Ausnahme. Seine Ankündigung bevorstehender Grundrechtseinschränkungen aufgrund des Klimawandels war möglicherweise nicht falsch, sondern nur vorschnell.

Denn immer mehr zeigt sich, dass das Interesse an einer Verknüpfung von Gesundheits- und Klimapolitik in weiten Teilen der deutschen Politik Konsens ist.

Das Zauberwort, der zentrale und umstrittene Begriff in dieser Angelegenheit, lautet "Schutzpflicht des Staates". Denn es steht angeblich nicht weniger auf dem Spiel als die "nationale Sicherheit".

Schutzpflicht in Einklang mit Agenda 2030

Dementsprechend stützt sich die Ampel-Koalition auch in ihrer Nationalen Sicherheitsstrategie vom Juni auf besagte Schutzpflicht. Dort heißt es:

Globale Klima-, Umwelt-, Ernährungs- und Ressourcenpolitik ist Sicherheitspolitik. Den Rahmen deutschen Handelns bilden dabei die Agenda 2030 mit ihren Nachhaltigkeitszielen und die internationalen klima-, umwelt- und ernährungspolitischen Vereinbarungen. (…) Dabei gilt für das Handeln der Bundesregierung der Primat der Prävention: Frühzeitiges Handeln schützt Leben.

Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland – Nationale Sicherheitsstrategie

Welche sicherheitspolitischen Leitlinien dabei Anwendung finden, hat die Bundesregierung einen Monat später im Bundes-Klimaanpassungsgesetz ausformuliert. Dabei bezieht sie sich auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG:

Die Bundesrepublik Deutschland hat gegenüber den vom Klimawandel betroffenen Menschen eine Schutzpflicht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes (Vgl. BVerfG vom 24. März 2021 – BVR 2656/18, 78, 96, 288/20 – Rn. 150), die für alle staatlichen Verwaltungsgliederungen gilt.

Sie hat ferner nach Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b und Artikel 7 Absatz 1 des Übereinkommens von Paris aufgrund der Klimarahmenkonventionen der Vereinten Nationen das Ziel, die Anpassungsfähigkeit zu verbessern, die Widerstandsfähigkeit zu stärken und die Anfälligkeit gegenüber dem Klimawandel zu verringern, um einen Beitrag zur Verwirklichung von Zielvorgabe 13.3 der UN-Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung zu leisten, die verlangt, die personellen und institutionellen Kapazitäten im Bereich der Klimaanpassung zu verbessern.

Bundes-Klimaanpassungsgesetz

Die deutlichste Ausformulierung der Klima-Schutzpflicht ist freilich der sogenannte Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das sich seinerseits auf Art. 20a GG beruft. Dieser lautet bekanntlich wie folgt:

Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Grundgesetz Artikel 20a

Das BVerfG äußerte sich in seinem weitreichenden Beschluss vom März 2021 folgendermaßen:

1. Der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schließt den Schutz vor Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzgüter durch Umweltbelastungen ein, gleich von wem und durch welche Umstände sie drohen. Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen. 2. 2. Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität.

Bundesverfassungsgericht: Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021

Globaler Klima-Erfolg Deutschlands ist irrelevant

So weit, so bekannt. Die folgenden Teile des Beschlusses sind allerdings weniger bekannt, dafür umso brisanter. Denn sie suggerieren, dass sich die juristische Schlagkraft von Artikel 20a künftig erweitern wird. Und zwar auch dann, wenn Evidenz für Klimaschädigung fehlt oder sich die deutsche Klimapolitik in ihrer globalen Dimension als aussichtslos erweist.

a. Art. 20a GG genießt keinen unbedingten Vorrang gegenüber anderen Belangen, sondern ist im Konfliktfall in einen Ausgleich mit anderen Verfassungsrechtsgütern und Verfassungsprinzipien zu bringen. Dabei nimmt das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu.

b. Besteht wissenschaftliche Ungewissheit über umweltrelevante Ursachenzusammenhänge, schließt die durch Art. 20a GG dem Gesetzgeber auch zugunsten künftiger Generationen aufgegebene besondere Sorgfaltspflicht ein, bereits belastbare Hinweise auf die Möglichkeit gravierender oder irreversibler Beeinträchtigungen zu berücksichtigen.

c. Als Klimaschutzgebot hat Art. 20a GG eine internationale Dimension. Der nationalen Klimaschutzverpflichtung steht nicht entgegen, dass der globale Charakter von Klima und Erderwärmung eine Lösung der Probleme des Klimawandels durch einen Staat allein ausschließt. Das Klimaschutzgebot verlangt vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas und verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz hinzuwirken. Der Staat kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.

Bundesverfassungsgericht: Leitsätze zum Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021

Sollten keine Zweifel mehr darüber bestehen, warum der Staat in Grundrechte eingreifen darf – nämlich, wie es heißt, um künftige Generationen von einem zu restriktiven Umgang mit deren "Co2-Budgets" und "Co2-relevanten Verhaltensweisen" zu schützen –, stellt sich immer noch die Frage, in welchem Ausmaß er überhaupt dazu berechtigt ist. Schließlich gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Zivilrechtliche Klima-Klagen scheitern – in Deutschland

Das Erstreiten und die Feststellung jener Schutzpflicht des Staates spielt auch eine zentrale Rolle bei den sogenannten Klima-Urteilen, denen internationale Medienberichte historischen Rang zusprechen, zuletzt etwa im Fall eines Urteils im US-Bundesstaat Montana.

In Deutschland können vergleichbare Ansprüche derweil zivilrechtlich noch nicht vor Gericht geltend gemacht werden, wo es darum geht, private CO2-Emittenten für ihre Klimabelastung zur Verantwortung zu ziehen. Bekannte Fälle sind die Klagen der Deutschen Umwelthilfe und Greenpeace gegen die Verbrenner-Produktion von BMW, VW und Mercedes-Benz.

Beispielhaft zu nennen ist die Reaktion des Landgerichts Stuttgart im Fall Mercedes-Benz. Das Gericht bestätigt zwar prinzipiell eine mögliche Schädigung der Klägerin durch politische Klimaschutzmaßnahmen ("CO2-Budgets"), weist die Klage jedoch ab. Als Grund führt Stuttgart die nur "mittelbaren Auswirkungen" auf das Persönlichkeitsrecht sowie die Ungewissheit angesichts einer möglichen (globalen) Verringerung von CO2-Emissionen an.

Vor allem aber beruft sich das Gericht auf seine Rolle als Teil der rechtsprechenden Gewalt, die der Kompetenz des Gesetzgebers zur konkreten Definition von Maßnahmen nicht vorgreifen kann. Also auf die Gewaltenteilung.

Was der Staat darf: Das beliebte Beispiel Straßenverkehr

Der Kasseler Jurist Jens Christian Keuthen hat sich 2015 der Schutzpflicht des Staates und ihren Grenzen in Bezug auf den Straßenverkehr gewidmet – einem Bereich der Rechtsprechung, der während der Corona-Krise oftmals als Beispiel für vermeintlich gleichgeartete Grundrechtseinschränkungen herangezogen wurde.

Namentlich geht es um die "abschnittsbezogenen Geschwindigkeitsüberwachungen". Keuthen schreibt:

Auch wenn die Grundrechte zwischen Privatpersonen ausdrücklich keine Pflichten festlegen, so begrenzen sie doch ihre jeweiligen Handlungsspielräume. Im Grundsatz gilt: Die grundrechtliche Freiheit des einen beschränkt die des anderen, wobei die Freiheit für jeden in gleichem Maße besteht.

Jens Christian Keuthen: Die abschnittsbezogene Geschwindigkeitsüberwachung und ihre verfassungsrechtliche Bewertung

Die staatliche Schutzpflicht dürfe deshalb nicht dem Anspruch folgen, eine "absolute Sicherheit" zu gewährleisten, wo diese den "Freiheitsrechten Dritter" entgegensteht. Eingreifen dürfe der Staat folglich nur dann, wenn es für den "Rechtsgüterschutz" zwingend erforderlich sei. Im Falle des Straßenverkehrs orientiere er sich letztlich daran, was die Mehrheit zu akzeptieren bereit ist:

Auch wenn gesellschaftliche Anschauungen dem Wandel unterliegen, so ist der Straßenverkehr derzeit trotz seines erheblichen Gefahrenpotentials gesellschaftlich im Grundsatz akzeptiert und unterliegt weniger strengen Maßstäben als etwa die Kernenergie. Für den Staat folgt daraus, dass er nicht sämtliche Risiken bis auf ein geringstmögliches Restrisiko reduzieren muss. Er ist aber verpflichtet, die aus dem allgemein akzeptierten Straßenverkehr resultierenden Gefahren für die Verkehrsteilnehmer und Dritte auf ein Mindestmaß zu begrenzen.

Jens Christian Keuthen

Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs verweist Keuthen unter anderem auf den "verfassungsrechtlichen Rang des betroffenen Schutzgutes":

"Art und Umfang der zu ergreifenden Schutzmaßnahmen (…) bestimmen sich insbesondere nach der Sicherheitsempfindlichkeit und dem verfassungsrechtlichen Rang des betroffenen Schutzgutes sowie der Art, Reichweite, Intensität und Wahrscheinlichkeit des drohenden oder sich bereits konkretisierten Übergriffs.

Jens Christian Keuthen

Was bedeutet das nun im Fall der Klima-Schutzpflicht, die sich auf das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit beruft – ein Recht, das laut BVerfG einen "Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung" darstellt?

Von der Corona-Bundesnotbremse zum Klima

Die CDU-nahe Denkfabrik R21 hat Mitte September eine Gesprächsrunde zum Thema "Covid und Klima – Grundrechte unter Vorbehalt?" veranstaltet.

Das Gespräch drehte sich um die Zulässigkeit von Freiheitseinschränkungen während der Corona-Krise im Allgemeinen sowie die Entscheidung des BVerfG zur sogenannten Bundesnotbremse im Besonderen.

Gesprächsteilnehmer waren neben der Brandenburger Verfassungsrichterin und Autorin Juli Zeh, der Rechtsanwältin Jessica Hamed und dem studierten Juristen und Autoren Heribert Prantl auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier.

Zum juristischen Umgang mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das auch als Rechtfertigung für die Maßnahmen der sogenannten Bundesnotbremse herangezogen wurde, bemerkte Papier Folgendes:

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von staatlichen Schutzmaßnahmen oder für die Beurteilung reicht es eben nicht (...) ganz abstrakt den Zweck des Schutzes der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung festzustellen und wegen der zweifelsohne abstrakten Hochwertigkeit dieses Schutzguts Leben und Gesundheit jedwede Freiheitsbeschränkung zu legitimieren.

Hans-Jürgen Papier

Maßnahmen als Teil eines "schlüssigen Gesamtkonzepts" zu betrachten, befreie das Gericht nicht von seinem Auftrag, jede einzelne Einschränkung präzise auf ihre Verhältnismäßigkeit zu prüfen, so Papier. In der Corona-Krise habe es diesen Auftrag jedoch allein schon aufgrund einer unzureichenden Datenlage nicht befolgen können.

Juli Zeh erbrachte anschließend die Transferleistung im Hinblick auf die schwierige Entscheidungsfindung beim Thema Klimaschutz und schnitt eine Reihe zentraler Aspekte an:

Wir hatten sowohl bei Corona – aber wir haben es erst recht bei dem Klima-Thema – mit Sachgebieten zu tun, wo ein ganz hoher wissenschaftlicher Unsicherheitsfaktor herrscht, [wo wir es] mit sehr komplexen, multikausalen – zwar algorithmisch immer wieder prognostizierten, dann aber erweislich auch wieder in der Prognose falschen – Zukunftsvorhersagen zu tun haben, auf die dann politische Maßnahmen gestützt werden und die dann hinterher auch noch justiziabel sein sollen. (…) wenn wir jetzt uns vorstellen, zum Klimaschutz werden Maßnahmen erlassen wie persönliche CO2-Kontingente (…) oder es werden bestimmte Flugbegrenzungen (...) kommen – dann müssten wir ja aus juristischer Sicht immer wieder fragen: "Ist das geeignet? hält das den Klimawandel auf? Ist das erforderlich? Ist das die mildest mögliche Maßnahme oder könnten wir irgendwas machen, was weniger einschneidend ist, und ist es am Ende verhältnismäßig?"

Juli Zeh

Abgesehen von der Komplexität der Sachgebiete, warf Juristin Jessica Hamed ein, erschwere auch das "menschliche Herdenverhalten", welches Themenbereiche in moralischen Kategorien gewichtet, eine nüchterne juristische Analyse.

Tyrannei des Kollektivismus

Folgt man der Rechtsphilosophie Giorgio Agambens, wie sie Telepolis bereits ausführlich dargestellt hat, kann man die Reduktion des juristischen Entscheidungsgegenstands auf das "nackte Leben" in der Debatte um Gesundheits- und Klimaschutz zudem als Zeugnis eines neuartigen Rechtsverständnisses interpretieren, das dem Individuum Freiheit nur noch unter dem Vorbehalt eines kollektiven Nutzens zugesteht.

Es ist nicht einmal erforderlich, dabei böse Absichten zu unterstellen. Dass auch eine prinzipiell wohlwollende kollektivistische Ideologie die Rolle des mündigen Bürgers untergräbt und totalitäre Züge annehmen kann, hat Le Monde Diplomatique-Autorin Évelyne Pieiller bereits Ende 2020 beschrieben:

Die Übernahme von Verantwortung in einer Pflicht zum Schutz der Verletzlichen zu fordern, erweist sich somit als ein Unterfangen, das viel radikaler dem Politischen zuzuordnen ist als dem vorsichtigen Realismus oder der bloßen ‚Menschlichkeit‘. Es wird ein neues Konzept des Bürgers entwickelt, dessen Herausforderungen nicht durch Sentimentalität, Schuldgefühle oder sogar die Großzügigkeit des Altruismus verschleiert werden dürfen.

Die Gesellschaft wird als ein organisches Ganzes betrachtet, das nur durch Zwang zum Guten geführt werden kann; politische Entscheidungen werden durch die Erwartung des Schlimmsten gerechtfertigt; Emanzipation erfolgt nicht mehr durch die Entwicklung eines kritischen Geistes, sondern durch die Anerkennung einer konstitutiven Fragilität und einer allgemeinen Interdependenz, Begriffe, die man im Zentrum der Aussagen der Kollapsologie oder der Befürworter der "Commons" (= der Allmende, des Gemeinschaftsbesitzes) wiederfindet.

Évelyne Pieiller: La tyrannie de la bienveillance, Le Monde Diplomatique, Dezember 2020

Wenn generalisierende, "schlüssige Gesamtkonzepte" das Primat vor der Souveränität des Bürgers genießen, laufen die politisch Verantwortlichen auch für den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Papier Gefahr, einer "autoritären Versuchung" zu erliegen und den "Werkzeugkasten" der Grundrechtseingriffe nicht mehr maßvoll, sondern maximal zu gebrauchen. Papier:

Ein Staat, der alle persönlichen Risiken seinen Bürgerinnen und Bürgern abzunehmen versucht, wird selbst zum Risiko für den Rechtsstaat. Es ist im Grundgesetz nicht Aufgabe des Staates – seiner Gesetzgebung, seiner Exekutive, aber auch nicht seiner Judikative – den Menschen im Einzelnen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben und was sie zu denken haben.

Hans-Jürgen Papier

Schließlich fügte Heribert Prantl der Diskussion noch einen wesentlichen Aspekt hinzu, als er in der Gesprächsrunde bemerkte:

Ich frage mich auch, ob es tatsächlich nicht einen Punkt gibt, wo man sagen muss: Das ist der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung, der muss so sicher sein, dass er jedweder Abwägungen entzogen ist.

Heribert Prantl

Allerdings stellt sich die Frage, ob die gegenwärtige Form, in der der Klimaschutz verfolgt wird, genau diese Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit noch dulden kann.

Darin würde sich eine bedenkliche Nähe zu dem scheinbar überholten Paradigma zeigen, das der öffentlichen Wahrnehmung zufolge nur die vergangenen beiden Jahrzehnte beherrscht haben soll: das des Sicherheits- und Überwachungsstaats.