Sechs Monate Ukraine-Krieg: Eine verheerende humanitäre Bilanz

Seite 2: Zukunft für die Ukraine sieht düster aus

Viele Menschen in der Ukraine leiden zudem unter den ständigen russischen Bombardierungen. So erklärte Oksana Dutchak, Soziologin und Mitherausgeberin des ukranischen Magazins Commons, gegenüber dem US-Programm Democracy Now:

Ich persönlich bin aus verschiedenen Gründen weggegangen, aber natürlich auch aus Angst um mein Leben und das meiner Kinder, und weil ich nicht unter dem ständigen Druck der Angst leben kann, den man mit den täglichen Beschüssen und den täglichen Sirenen und Warnungen über die Möglichkeit eines Angriffs hat.

Dazu kommen schwere Vorwürfe wie im Fall der ukrainischen Stadt Buschta, dass russische Truppen Kriegsverbrechen begangen haben. Währenddessen fliehen russische Dissidenten, die gegen den Angriffskrieg Russlands opponieren, ihr Land, nachdem sie Opfer von gewaltsamen Razzien geworden sind.

In einem Bericht von Amnesty International heißt es auch, dass die ukrainischen Streitkräfte das Leben von Zivilisten gefährden, indem sie in bewohnten Wohngebieten, darunter auch in Schulen und Krankenhäusern, Stützpunkte errichten und Waffensysteme einsetzen. Nach Ansicht von Amnesty verstoßen solche Kampftaktiken gegen das humanitäre Völkerrecht. Der Bericht löste eine wütende Reaktion von Präsident Wolodymyr Selenskyj aus.

Aggressionen gegen unseren Staat sind nicht provoziert, invasiv und, offen gesagt, terroristisch. Und wenn jemand einen Bericht erstellt, in dem das Opfer und der Angreifer angeblich in gewisser Weise identisch sind, wenn einige Daten über das Opfer analysiert werden, während etwas, was der Angreifer zu dieser Zeit getan hat, ignoriert wird, dann kann dies nicht toleriert werden.

In einer Erklärung sagte Amnesty International:

Dass sich das ukrainische Militär in einer Verteidigungsposition befindet, entbindet es nicht davon, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren.

Die Leiterin des ukrainischen Zweigs von Amnesty, Oksana Pokalchuk, ist aufgrund des Berichts bereits zurückgetreten. Mehrere Kollegen sind diesem Beispiel gefolgt, darunter der Mitbegründer von Amnesty Schweden und nicht weniger als achtzig Mitglieder von Amnesty Norwegen. Amnesty hält weiter an den Befunden der Untersuchung fest, hat aber eine Überprüfung eingeleitet.

Die Schäden für die Ukraine und die Infrastruktur sind im „Nebel des Krieges“ nur schwer abzuschätzen. Aber wie Rajan Menon von der Columbia University in einem Artikel auf Telepolis sagt:

Wie wir alle nur zu gut wissen, sind viele Städte des Landes schwer beschädigt oder liegen in Trümmern, einschließlich der Häuser und Wohnhäuser der Menschen, der Krankenhäuser, auf die sie sich einst verließen, wenn sie krank waren, der Schulen, in die sie ihre Kinder schickten, und der Geschäfte, in denen sie Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse kauften. Sogar Kirchen wurden getroffen.

Die Versorgungslage wird zunehmend prekär. So schildert Susanne Aigner auf Telepolis, wie die Belieferung mit Lebensmitteln ein Problem wird und Bauern verzweifelt versuchen, trotz Mangel an Saatgut und Treibstoff sowie den anhaltenden Bombardierungen, die Produktion aufrechtzuerhalten.

Die Zukunft für die Ukraine sieht düster aus, sollte der Krieg weiter gehen. Der britische Guardian verweist darauf, dass bei weitem nicht genug Geld für den Wiederaufbau vorhanden sei – und viele Häuser nordöstlich und nordwestlich von Kiew sind auch fünf Monate nach dem Abzug der Russen noch immer zerstört. Die verzweifelten Bewohner leben oft in Garagen oder provisorischen Gebäuden vor Ort.

Binnenvertriebene müssen oft in Schulen oder Kindergärten wohnen, also in provisorischen Unterkünften, in denen die Menschen nur schwer über einen längeren Zeitraum bleiben können. In der Ukraine klafft aufgrund des Krieges ein Haushaltsloch von fünf Milliarden Dollar pro Monat; Hilfe und Wiederaufbau werden ein Vielfaches davon kosten.

Es sollte daher vor allem aus humanitärer Perspektive oberste Priorität sein, auf eine diplomatische Lösung zur Beruhigung und Beendigung des Kriegs zu drängen. Doch bisher ist das leider von keiner Seite in Sicht.