Sehnsucht nach Stille

Nach Beginn der israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen: Die humanitäre Lage dort spitzt sich zu

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Der Einmarsch begann am Samstag kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Bereits Stunden zuvor hatten Artillerie und Kriegsmarine damit begonnen, unaufhörlich Ziele im Grenzgebiet zu beschießen. Direkt nach dem Beginn der Bodenoffensive teilten Einheiten den rund 50 Kilometer langen, dicht bevölkerten Landstrich in zwei Teile, während andere in vielen Ortschaften damit begannen, Haus für Haus nach Waffen, Sprengstoff und Raketen zu durchsuchen. Dabei stießen sie auf die heftige Gegenwehr von Kämpfern der Essedin-Al-Kassam-Brigaden, wie die Miliz der radikalislamischen Organisation, die den Gazastreifen regiert, offiziell genannt wird.

Auf der palästinensischen Seite starben über Nacht und am Sonntag mindestens 20 Menschen; Dutzende wurden verletzt. Die israelische Armee meldete mindestens 30 verletzte Soldaten und bestritt Angaben der Hamas, wonach drei Soldaten getötet und drei weitere gefangen genommen worden seinen. Dabei handele es sich um psychologische Kriegsführung, sagte ein Militärsprecher.

Psychologische Kriegsführung betreibt allerdings auch Israel momentan: Am Rande einer Kabinettssitzung am Sonntagmorgen lobten Premierminister Ehuld Olmert und Außenministerin Zippi Livni Entschlossenheit und Kampfgeist der Truppen, während Verteidigungsminister Ehud Barak die mehreren zehntausend Reservisten, die wohl in den kommenden Tagen eingezogen werden, und die Öffentlichkeit auf einen "langen Kampf bis zur Erfüllung der Ziele von Operation 'Gegossenes Blei'" einschwor.

Die Chefs des israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth und des Militärs gaben derweil erste Erfolge bekannt: Hamas bereue, den Waffenstillstand beendet zu haben, erklärte Avi Diskin, Leiter des Schin Beth, und Generalstabschef Gabi Aschkenasi sagte, die Hamas-Regierung in Gaza sei so hart getroffen worden, dass sie kaum noch handlungsfähig sei; eine Besatzung des Gazastreifen schloss er dennoch aus. Dort stehen die Menschen nun vor einer humanitären Katastrophe.

Samstag, später Nachmittag, Israel

Die Sonne ist gerade hinter Gaza im Meer versunken, als die Musikwelle des israelischen Militärrundfunks Schiri Maimons "HaScheketh scheNischar", "Die Stille die bleibt", spielt. Für einen Moment halten die Reservisten inne, die gelassen, so scheint es in diesem Moment, an Panzern lehnend oder in Zelten liegend vor sich hin dösen, lesen oder Backgammon spielen.

Nichts deutet hier, irgendwo an der nördlichen Grenze zum Gazastreifen, darauf hin, dass sie bereits am Mittag darüber informiert worden sind, dass der Beginn der Bodenoffensive, die aller Orten bereits seit Tagen erwartet worden war, kurz bevorsteht, nachdem die Luftwaffe immer wieder Ziele der Hamas in diesem schmalen Landstrich jenseits des hohen Grenzzaunes, der ihn von Israel trennt, beschossen hat. Nur das: Schon irgendwo am Nachmittag war überall in der Gegend der Strom ausgefallen; die Telefone funktionierten auch nicht mehr. Ungefähr gleichzeitig hatten in der Ferne Artilleriegeschütze damit begonnen, fast auf der gesamten Länge des Gazastreifen das Grenzgebiet zu beschießen.

Es ist eine surreale Szene, die sich hier, an diesem öden Ort, Kilometer weit entfernt von der nächsten menschlichen Behausung, abspielt: Man sieht sich um und sieht im diffusen Licht des späten Winternachmittages Männer, mit denen man noch vor ein paar Tagen in der Kneipe gesessen hat, wissend, dass sie irgendwann demnächst in den Krieg ziehen werden, und fragt sich, ob wohl alle auf beiden Beinen zurückkommen werden. Man wechselt ein paar Worte darüber, wie toll das war, als Schir Maimon 2005 beim Eurovision Song Contest mit "HaScheketh scheNischar" den vierten Platz geholt hat, bis dann irgendjemand fragt, ob das eigentlich so seine Richtigkeit hat, was da gerade so passiert, und irgendjemand anderes anwortet, irgendwas müsse ja wohl passieren, und mit der Hamas könne man ja auch nicht reden, weil die Israel zerstören wolle. Es klingt in diesen Momenten nicht so, als sei der Vater zweier Kinder wirklich davon überzeugt. "Ich wünsche mir Stille für unsere Bürger im Süden", sagt er: "Stille, die bleibt".

Samstag, später Nachmittag, Gazastreifen

Ein Kollege hat sich mühsam auf die andere Seite der Grenze durchgeschlagen, um ein möglichst unabhängiges Bild der Lage dort zu liefern, denn der Gazastreifen ist nach wie vor für Journalisten geschlossen. Die Wenigen, die von dort berichten, befinden sich schon seit Monaten dort und werden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit von der Hamas überwacht, die ein großes Interesse daran hat, der Berichterstattung ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Der Bericht des Kollegen ist rudimentär, weil die Telefonverbindung immer wieder für Stunden zusammen bricht, und der Kollege aus Sicherheitsgründen ständig in Bewegung bleiben muss.

Ein paar Kilometer weiter westlich, jenseits des hohen Grenzzaunes, haben die Menschen ebenfalls wahrgenommen, dass etwas anders ist. Zwar gehen die Luftangriffe nahezu unaufhörlich weiter, sind immer wieder nah und fern Explosionen zu hören, aber die israelische Armee setzt jetzt auch Artillerie ein, die ein furchtbar schlechtes Konzert der Furcht verbreiten. Hinter dem Grenzzaun ist es dunkel geworden; die Lichterpunkte, die den Menschen hier sonst vom relativen Wohlstand der israelischen Nachbarn künden, sind verschwunden. Die Telefone funktionieren im Moment auch hier nicht mehr.

Auf den Straßen ist es leer. „Schon vor Tagen“, sagt ein palästinensischer Freund - der seine Tür erst geöffnet hat, als er sich ganz sicher war, dass der Besucher niemanden mitgebracht hat, weil man hier, wie er sagt, in diesen Tagen am Besten niemandem vertraut und schon gar nicht der Hamas, weil da das "Berüßungsgeschenk eine Bombe auf dem Hausdach sein könnte" - „schon vor Tagen hätten sich die Meisten in ihren Häusern verbarrikadiert, in der Hoffnung, diesem Krieg so unbeschadet wie möglich zu entgehen“. Der Kühlschrank ist leer, "wir haben ja sowieso keinen Strom dafür“, witzelt der Freund im Kerzenlicht, „weil die Läden schon seit Tagen geschlossen sind und es außerdem ohnehin kaum noch etwas zu kaufen gibt“.

Nur mit Mühe lässt sich der Mann davon abbringen, einen der letzten Teebeutel, eine der letzten Flammen des Ofens einem Ausländer zu opfern. Eine Ausnahme? Nein. Ähnliche Szenen wie hier sind in diesen Tagen im Gazastreifen Alltag. Ist die Bevölkerung dort auf dem Weg in eine humanitäre Katastrophe? Nein. Sie ist schon angekommen, soweit das zu beurteilen ist. Die Vereinten Nationen haben ihre Hilfslieferungen eingestellt; an die 700000 Menschen, sagen ihre Sprecher, seien davon betroffen. Die Nahrungsmittel sind vielerorts ausgegangen; medizinische Versorgungsgüter eine wertvolle Rarität, nachdem die Ärzte in den Krankenhäusern bisher mehr als 2300 Verletzte haben versorgen müssen. "Mittlerweile versorgen wir nur noch jene, die eine Chance haben", sagt ein palästinensischer Arzt: "Wir haben keine andere Wahl."

Schwerverletzte zur Behandlung nach Ägypten und ja, auch das wurde bis Freitag gemacht, nach Israel zu schicken, das ist jetzt, wo allen klar wird, dass Operation "Gegossenes Blei", wie die israelische Regierung den Militäreinsatz nennt, oder der "Gaza-Krieg", wie er hier heißt, in eine neue Phase geht, absolut undenkbar geworden.

Man bemühe sich, zivile Opfer zu vermeiden, aber jeder in Uniform sei ein Ziel, sagen Sprecher der Armee seit einer Woche immer wieder. Die Vereinten Nationen hingegen haben errechnet, dass zwischen 25 Prozent und einem Drittel aller Opfer Zivilisten sind. Die Menschen in Gaza sollten sich endlich von der Hamas abwenden, fordern israelische Politiker immer wieder; das werde nicht passieren, halten linke Oppositionspolitiker und Kommentatoren dagegen: Man werde die Bevölkerung nicht gegen die Hamas ausspielen können. Dazu seien beide viel zu eng miteinander verbunden, und dass das so sei, daran trage Israel einen Teil der Verantwortung, so der ehemalige Parlamentsabgeordnete Jossi Beilin, einer der Architekten der Osloer Übereinkünfte Anfang der 90er Jahre, am Freitag:

Wir haben den Gazastreifen isoliert, verarmt, und die Menschen damit der Hamas überlassen, die sich um die Armen kümmert und ihnen eine Perspektive gibt - jene, dass man den Kampf gegen den übermächtigen Feind, der einem das angetan hat, gewinnen wird, ganz gleich, ob dass der Realität entspricht.

In diesen Tagen haben die meisten Menschen in Gaza einen Mittelweg gefunden: Man hat sich nicht von der Hamas abgewandt, aber man heißt sie auch nicht in den Häusern willkommen, in denen man sich verbarrikadiert hat. "Ich will einfach nur leben," sagt der Freund: "Es fällt mir schwer, Israel nach allem, was passiert ist, zu lieben oder einfach nur zu akzeptieren, aber ich könnte mit ihm in Frieden leben." Es ist ein Sentiment, das in diesen Tagen in Gaza oft zu hören ist, und der Führung der Hamas scheint es schwer zu fallen, das zu akzeptieren: Sie will den Kampf mit Israel, will ihre Machtposition dadurch. Aber in der Tat scheint das Gegenteil der Fall zu sein, wie palästinensische Journalisten in Gaza sagen:

Die Bevölkerung in Gaza will diesen Krieg nicht; die Hamas steht unter großem Druck, sich auf einen Waffenstillstand einzulassen und dafür ihre Forderungen herunter zu schrauben.

Denn auch hier wünscht man sich Stille, die bleibt.

Samstag, später Nachmittag, Israel

Wenige Minuten, nachdem Schiri Maimons Lied verklungen ist, es läuft gerade Madonna, beginnen jenseits des Grenzzaunes, zwischen Panzern und in Zelten, plötzlich die Funkgeräte zu knacken. Hektik setzt ein, noch bevor die Kommandeure ihre ersten Worten durch gegeben haben. Von Kriegsbegeisterung kann in diesen Minuten, an diesem trostlosen Ort, bei diesen Reservisten, die noch Tage zuvor das Leben in Tel Aviv, Haifa oder Jerusalem genossen haben, keine Rede sein, womit sie nicht alleine stehen, denn nur 20 Prozent der Bevölkerung sind für die Bodenoffensive, eine Zahl, die Stunden später steil nach oben gegangen sein wird, aber in diesen Minuten der Entscheidung, der Ungewissheit, ob man in ein paar Tagen noch am Leben sein wird, denn für die meisten ist es der erste Kampfeinsatz, ist eine gewisse Entschlossenheit zu spüren, die Sache mit den Raketen, jetzt, zu Ende zu bringen - eine Illusion?

Ja, sagen Kontakte aus dem Umfeld des Generalstabes, die gar nicht glücklich darüber sind, dass Soldaten so offen über ihre Gefühle sprechen:

Wir können durch den Militäreinsatz dafür sorgen, dass die Raketen weniger genau gezielt werden können, indem wir die Infrastruktur der Hamas schwächen und die Orte einnehmen, von denen aus die Raketen abgeschossen werden, aber vollständig verhindern werden wir die Kassam-Abschüsse wohl nie.

Eine, möglicherweise langfristige, Besatzung des Gazastreifen haben sowohl Israels Regierung als auch die Armeeführung ausgeschlossen. Stattdessen hat man auch jetzt, nach dem Beginn der Bodenoffensive, erneut äußerst moderate Ziele gesetzt - wohl um nicht am Ende an den in sich selbst gesetzten Erwartungen zu scheitern, wie es während des Libanon-Krieges im Sommer 2006 geschah, als man zunächst angab, man wolle die beiden damals entführten Soldaten befreien (deren Tod damals dem Militär auf Grund der forensischen Beweise bereits bekannt gewesen sein musste), um dann mehrere Male die Operationsziele zu ändern.

Sonntag, Gaza, Sderot, Jerusalem, Tel Aviv

Unaufhörlich, so scheint es, fliegen die Helikopter über die Köpfe der Menschen hinweg in Richtung Gaza, an ihrem Boden ihre tödliche Fracht tragend, um sie auf Häuser, Kasernen, Felder abzuladen, die dazu benutzt werden, Raketen in Richtung Israel abzuschiessen. Von Zeit zu Zeit ist an diesem Sonntagmorgen auf einer der einsamen Straße an der nördlichen Grenze zum Gazastreifen eine davon am Himmel zu sehen, nur ein paar Sekunden lang, bevor dann kurz darauf irgendwo in der Ferne eine Luftsirene und dann ein kurzer metallisch klingender Knall zu hören ist.

In der Ferne sind nach wie vor die Einschläge des israelischen Artilleriefeuers zu sehen; über dem Gazastreifen schweben Rauchwolken. Sonntag ist auf beiden Seiten der Grenze eigentlich ein geschäftiger Werktag. Doch das öffentliche Leben ist selbst in den etwas entfernt gelegenen Großstädten Aschdod und Aschkelon nahezu zum Erliegen gekommen. Dort haben die Menschen Angst, dass die viel zielsicher und weitreichender gewordenen Raketen an belebten Orten einschlagen könnten.

In Sderot und in anderen Städten an der Grenze zum Gazastreifen hat die Heimatfront, eine Abteilung des Militärs, die Schließung aller Unternehmen angeordnet. Denn wenn der Luftalarm ertönt, bleiben nur 45 Sekunden, um Schutz zu suchen und auf den Einschlag zu warten. Und das ist oft passiert, seit die Hamas den Waffenstillstand beendet hat. Die Situation sei unerträglich, sagen die Menschen hier, und einfach nur wegziehen könne man nicht, weil dazu das Geld fehle.

Und in Gaza fürchtet sich die Bevölkerung vor den israelischen Luftschlägen, die auch in der Nacht zum Sonntag weitergingen. Die Fortbewegung im Gazastreifen ist so gut wie unmöglich geworden. Regierungssprecher betonen stündlich, man werde alles tun, um die eigene Bevölkerung zu schützen. Und dennoch zeigt die anfänglich gestiegene Unterstützung in Israel für die Bodenoffensive erste Abnutzungserscheinungen: Die ersten Nachrichten treffen ein, 20 der 23 Toten in der Nacht seien Zivilisten gewesen; im Fernsehen sind Bilder von katastrophalen Zuständen in Krankenhäusern, von Toten und Verletzten, zu sehen.

Die Sprecher von Regierung und Militär sehen sich zunehmend schärferen Nachfragen der israelischen Nachrichtenleute ausgesetzt: Es sei schwierig, in dem dicht bevölkerten Landstrich zwischen Kämpfer und Zivilist zu unterscheiden, sagt einer von ihnen im zweiten israelischen Fernsehkanal. Warum man dann nicht nach anderen Wegen gesucht habe? Weil man eben keinen anderen Weg habe, die Bevölkerung zu schützen, sagt der Pressesprecher. Man müsse doch irgendwie für Stille sorgen. "Wenn das der einzige Weg ist, den wir haben, dann frage ich mich, was aus unserem starken Israel geworden ist," erklärt kurz darauf ein Kommentator.

In Jerusalem tagt derweil das Kabinett zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden. Mit großen Worten versuchen Premierminister Ehud Olmert und Außenministerin Zippi Livni, eine erklärte Advokatin des Sturzes der Hamas-Regierung, Stimmung für den Krieg und die zu erwartenden Verluste zu machen, die sich zu dieser Stunde bereits abzeichnen: Das Militär trifft in Gaza auf erbitterte Gegenwehr der Hamas-Kämpfer, mindestens 30 Soldaten, drei davon schwer, wurden bereits bis Sonntag abend verletzt.

Hohe Verluste können die öffentliche Meinung in Nullkommanichts zum Kippen bringen, wenn die Öffentlichkeit nicht vollends vom Kriegsziel überzeugt ist - auch diese Lehre hat Israels Regierung aus dem Libanon-Krieg mitgenommen. Die Chefs der Inlands- und Militärgeheimdienste sprechen davon, dass die Hamas bereue, den Waffenstillstand beendet zu haben. Generalstabschef Gabi Aschkenasi erklärt, die Hamas-Regierung sei kaum noch handlungsfähig. Und Olmert und Livni loben Kampfgeist und Entschlossenheit der Truppen, während Verteidigungsminister Ehud Barak wieder einmal vorwarnt, man müsse sich auf einen langen, erbitterten Kampf einstellen.

Die Nachricht ist angekommen, jedenfalls in Tel Aviv. Aber nicht so, wie die Regierung es sich erhofft hat: Hunderte haben sich innerhalb von Stunden eingefunden, um gegen den Krieg in Gaza zu demonstrieren. "Ich verstehe, dass etwas getan werden muss, aber es muss ein anderer, besserer Weg gefunden werden", sagt einer der Demonstranten, der 27jährige Juwal, der erklärt, dass er bei den Wahlen vor fast drei Jahren für die Arbeiterpartei gestimmt hat, deren Vorsitzender Ehud Barak jetzt als Verteidigungsminister einer der Hauptbetreiber des Krieges ist, und für die er deshalb nicht wieder stimmen will:

Es sind nicht allein die Israelis im Süden, die Stille verdienen - am Ende sehnt sich doch jeder nach Stille.