Sexarbeit und die Frage der pseudonymen Wirkungsmacht

"Gesichter der Prostitution" lautet ein Hashtag, unter dem die Vielfältigkeit der Prostitution dargestellt wird. Ein Blogbeitrag in der FAZ hierzu befeuert erneut die Debatte darum, wie vertrauenswürdig Pseudonyme sind.

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Prostitution (oder Sexarbeit) wird in vielen Medien einseitig dargestellt - und die Betroffenen selbst werden eher selektiv ausgewählt. Auf diese Weise wird Sexarbeit oft automatisch mit Zwang (durch Männer), Drogensucht, Menschenhandel und Gewalt verknüpft - und diejenigen, die darauf hinweisen, dass dies nur eine Seite der Sexarbeit ist, werden oft als Glorifizierer verunglimpft.

Hier sei erwähnt, dass gerade auch diejenigen, die sich um eine neutralere Sicht auf die Sexarbeit bemühen, diese negativen Aspekte weder verleugnen noch gutheißen. Sie versuchen, wie sie selbst auch stets betonen, jedoch aktiv dazu beizutragen, dass Sexarbeit beider Geschlechter möglich ist, gleichzeitig jedoch Wege gefunden werden, die negativen und kriminellen Aspekte zu bekämpfen. Zugleich wehren sie sich gegen Stereotype und Behauptungen, die Sexarbeiter stets als Opfer (sexueller Gewalt) und insbesondere der Männer darstellen.

75 Prozent der weiblichen Prostituierten wurden vergewaltigt, 95 Prozent körperlich missbraucht, 68 Prozent leiden unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung und die Mehrheit der Sexarbeiter finden nur aufgrund ihrer Missbrauchsgeschichte ihren Weg ins Gewerbe.

Diese (ohne jegliche Fakten untermauerte) Behauptung auf der christlichen Webseite Exodus Cry ist eine typischer Darstellung von Sexarbeit, weil sie nicht nur lediglich die weiblichen Sexarbeiter behandelt, sondern auch mehr auf Annahmen denn auf belegbare Zahlen setzte. Der Text nimmt an, dass viele Frauen zur Sexarbeit kamen weil sie "Pretty Woman" sahen - und nennt als Beispiel dafür eine Person, die von ihren negativen Erfahrungen berichtet. Illustriert ist der Artikel mit einem Bild von Brent Stirton, das als ikonisch für Sexarbeit im negativen Sinne gilt. Es zeigt die ukrainische drogensüchtige Sexarbeiterin Maria, ausgemergelt und verhärmt.

Selbstverständlich ist es legitim und auch notwendig, auf die negativen Seiten der Sexarbeit immer wieder hinzuweisen - doch ist dies nur eine Facette von vielen. Es gibt zum Beispiel Sexarbeit mit Behinderten, Telefon- oder Videosexhotlines, den Straßenstrich, Bordellen oder Spezialanbieter für Fetischphantasien. Ebenso vielfältig sind die Gründe dafür, solche Tätigkeiten als Erwerbstätigkeit auszuwählen.

Tilly Lawless, eine australische Sexarbeiterin, kommentierte diesen Artikel auf Instragramm mit einem Bild ihrer selbst, um darzustellen, dass Sexarbeiterinnen nicht immer dem Klischee der drogensüchtigen Armen entsprechen. Ihren Kommentar versah sie mit dem Hashtag #facesofprostitution - was zur Folge hatte, dass sich etliche Sexarbeiter unter dem Hashtag #facesofprostitution mit einem Selbstportrait auf Twitter präsentierten.

Despina Castiglione, die bei der FAZ blogt und sich speziell mit dem Thema Sexarbeit befasst, schrieb daraufhin, dass sie kein Photo von sich zur Verfügung stellen wird. Am Ende ihres langen Beitrages begründet sie dies wie folgt:

Mir ist wichtig, dass die Leute legal und somit sicher arbeiten können. Damit diese Rechnung aufgeht, muss die Legalität aber mehr Schutz bieten, als die Illegalität. Ob die aktuelle Berichterstattung zu einer sachlichen Diskussion beiträgt, die geeignet ist, solche Zustände herbeizuführen, halte ich für hinterfragenswert. Deswegen gibt es von mir leider weder ein Tegernseelfie noch ein #FacesOfProstitution.

Ohne Realname keine politischen Erfolge?

Unter den vielen Kommentaren zum Thema findet sich einer, der das Thema Pseudonyme aufgreift und es für politisch nutzlos hält, sich pseudonym zum Thema zu äußern und Veränderungen zu fordern. Dieser Einwand ist nicht neu. Er zeigt jedoch auch, welcher Druck oft auf Menschen ausgeübt wird, sich aus der "Deckung zu wagen".

Zwar verlangt der Kommentar dies nicht - doch er hält anonyme oder pseudonyme politische Aktivität für sinn- bzw. bedeutungslos. Dies ist kurzsichtig, denn schon immer lebte Politik auch von anonymen Helfern. Denn es gibt aus den verschiedensten Gründen Menschen, die sich politisch einbringen wollen, ohne dafür ihren Realnamen zu verwenden.

Auffällig ist in den Diskussionen auch, wie sich die Forderungen nach der Offenbarung eines Realnamens ergeben. Während oft Darstellungen und Meinungen, die die eigene Meinung widerspiegeln, als automatisch wahr und die Person dahinter als wahrhaftig wahrgenommen werden, richten sich die Outing-Forderungen meist an jene, die konträre Meinungen vertreten.

Gerade beim Thema Sexarbeit werden insofern Berichte über die drogensüchtigen, armen und misshandelten Sexarbeiter als wahr angenommen, auch wenn die Menschen selbst nicht mit ihrem Realnamen auftreten, während hinter einem Pro-Sexarbeit entweder Lobbyismus für Zuhälter oder aber ein Troll etc. vermutet werden. Sicherlich: Pro-Sexarbeit-Stellungnahmen könnten gefälscht oder beeinflusst sein. Andererseits könnten aber auch beide Schilderungen wahr sein - egal wer sie geschrieben hat oder um wen sie sich drehen. Nur einseitig Verifizierung zu fordern ist deshalb kurzsichtig und übt auch nur einseitig Druck aus (bzw. fragt nach Fakten).

Gerade beim Thema Sexarbeit sind Kommentare, die ausgewogen sind, eher selten zu finden. Die meisten sind sehr einseitig ausgerichtet. Aber egal zu welchem Thema: Pseudonyme oder anonyme Meinungen per se als wirkungslos zu betrachten, ist alleine schon deshalb grundfalsch, weil sie oft genug Anlass zur weiteren Recherche geben (oder aber Ansatzpunkt für Betrachtungen sind).

Es gab und gibt schon immer Meinungen, die nur anonym oder pseudonym vertreten werden: aus gesellschaftlichen Aspekten heraus wie z.B. bei Ellis und Currer und Acton Bell1), aus Angst vor Drohungen, vor beruflichen Schwierigkeiten oder weil jemand das, was er verlautbarte, aufgrund von Vereinbarungen nicht äußern durfte.

Die politische Wirkung sollte dadurch jedoch nicht angezweifelt werden: Es sollte die Meinung als solche zählen - nicht die Person dahinter. Das Realnamensyndrom führt oft genug auch dazu, dass Meinungen, die von einer angesehenen Person kommen, schon wegen der Person dahinter als sinnvoll oder wichtig angesehen werden - zahlreiche Fragen an irgendwelche Schriftsteller zur Lage der Nation zeugen davon. Der Diskurs sollte sich aber beim Thema stets um die Inhalte drehen, nicht um die Person dahinter.