"Shahid": Was passiert, wenn ein Märtyrer auf deutsche Bürokratie trifft?
Tradition und Repression: In ihrer Komödie erzählt Narges Kalhor davon, was westliche Demokratien der Freiheit der Frauen schuldig sind.
Der Geist des Urgroßvaters besucht Narges Shahid Kalhor. Er erzählt ihr von der ruhmreichen Geschichte einer Familie von islamischen Kämpfern und Kriegern. "Shahid" heißt auf Deutsch Märtyrer.
Der Film "Shahid" beginnt mit dieser Traumsequenz im Musical-Stil und wird zu einer wilden Mischung aus magischem Realismus, Comic-artiger iranischer Geschichtentradition, Film-im-Film-Drama und einer wilden Farce über die deutsche Bürokratie.
Theokratie und Bürokratie
Die Eröffnungsszene des Films erzählt in poetischen Bildern und in Zeitlupe von Narges Obsessionen: Tänzerinnen und Tänzer in schwarzen Gewändern erscheinen nicht nur in ihren Träumen, sondern umgeben sie und folgen ihr auf Schritt und Tritt, selbst wenn sie das Haus verlässt.
Diese Geister sind die Verkörperung der Märtyrerhelden, die Narges Familie geprägt haben und die sie jetzt im Namen ihrer Vorfahren verfolgen, bis hin zu den Ämtern der bayerischen Stadtverwaltung. Kurz nach Beginn wird eine lange Liste in Druckbuchstaben auf die Leinwand getippt: Das sind die benötigten Bescheinigungen, um einen bürokratischen Prozess in Deutschland zu beginnen.
Denn die Hauptfigur, die mit der Regisseurin nicht zufällig Ähnlichkeiten verbinden, will den Nachnamen "Shahid" zwischen Narges und Kalhor loswerden und hat nun auch mit den Geistern der deutschen Bürokratie zu kämpfen.
Psychologe von Ribbentrop
Aber was passiert, wenn ein Märtyrer auf eine solche Bürokratie trifft? Zunächst einmal müssen alle Unterlagen vollständig vorliegen. Es sind eine Menge. Wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten, wird das gesamte Verfahren gestoppt, wenn eine einzige Bescheinigung nicht vorgelegt wird.
In diesem Fall handelt es sich um ein Sachverständigengutachten, in dem die psychische Belastung durch den Namen bescheinigt wird. Darum sucht die Hauptfigur einen Psychologen auf.
Dieser Psychologe heißt – einer der vielen lustig-ernsten Einfälle – von Ribbentrop. Wie der Nazi-Außenminister, wie seine mit den Nazis paktierende Adels- und Industriellenfamilie. Auch mit ihrer eigenen Familie geht die Regisseurin/Hauptfigur streng ins Gericht: Denn sie ist um ein paar Ecken mit dem ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadinehjad verwandt.
Das bringen einige woke besorgte Statisten "ans Licht" und verkomplizieren die Realisierung des Films. Zumal die Regisseurin plötzlich – wegen ihrer Herkunft – bei einigen Neunmalklugen als "privilegiert" gilt, weil ihr "in nur drei Monaten" Asyl gewährt wurde. Und die arme Regisseurin macht sich solche Vorwürfe auch noch zu eigen.
Sie ahnt nicht, dass einige Leute aus dem Team, wenn sie sich unbelauscht glauben, darüber lästern, dass ihr Film "so ein Rich-Kids-Kunstfilm" werden würde.
Sollen wir im Namen von Diversität die Freiheit der heute lebenden Frauen einschränken?
Natürlich ist das alles in Wahrheit gar nicht so witzig, sondern bitterböser Ernst. Denn was bedeutet es für eine junge Frau, sich von ihrer Tradition zu lösen! Die kleinen Geschichten, die Kalhor erzählt, beschämen vor allem uns vermeintlich aufgeklärte, vermeintlich an Freiheit interessierte Demokraten.
Auf welche Seite sollten wir in den Demokratien des Westens uns positionieren? Sollen wir, kulturell verständig und offen, wie wir sein möchten, im Namen von Diversität und kultureller Identität, jedenfalls so wie wir sie verstehen und im Namen gerade angesagter postkolonialer Gewissensbisse die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der heute lebenden Frauen einschränken?
So argumentieren jene, die sagen, das Kopftuch, der Schador und andere Kleidungsunterdrückungsmechanismen seien als Teil einer kulturellen Tradition zu achten.
"Frau - Leben - Freiheit" - dieser Slogan der iranischen Demokratiebewegung ist weltweit bekannt geworden. Aber auch jenseits des Irans sind die Rechte muslimischer Frauen vielfältig bedroht: Insbesondere der Druck von Traditionen und Familien belastet diese Frauen.
Warum das so ist, und wie bereits ein bestimmter Name zu einer Belastung und Gefahr werden kann, davon erzählt die in München lebende, aus einer iranischen Emigrantenfamilie stammende deutsche Regisseurin Narges Kalhor (geboren 1984 im Iran) in ihrem Spielfilm "Shahid", der eine Menge biografische Züge besitzt. Sie tut dies in Form einer Komödie, die lustig, ironisch und souverän von der Last der Tradition handelt und davon, was westliche Demokratien der Freiheit der Frauen schuldig sind.
Der Märtyrer und seine Kumpel
Die erwähnte Anfangssequenz wird zu einer Art Leitmotiv des Films, und sie wird mehrmals wiederholt, aber immer wieder mit neuen und amüsanten Details angereichert: Narges – oder besser gesagt, die Schauspielerin, die hier die Rolle der Regisseurin spielt – kommt wieder aus dem Haus, umgeben von ihren Shahids und seinen "Kumpels", wie es im Film heißt.
Wenn Narges in der ersten Einstellung mit dem Fahrrad fuhr und der Reifen des Rades zerstochen wurde, geht sie jetzt zu Fuß und einer ihrer gemarterten Vorfahren folgt ihr zum Beispiel mit dem Fahrrad auf der Schulter.
Zwischen Realität und Fiktion, voller Poesie, mit Elementen von Theater, Film und Musical spielend, ist "Shahid" trotz der Komplexität seiner Thematik und Umsetzung ein unterhaltsamer Filmhybrid, der, ohne je in plumpe Didaktik zu verfallen, viele Anregungen und Denkanstöße bietet.
Darüber hinaus untersucht er mit Selbstironie die Schatten der Geschichte, die sich sehr oft selbst hinter kleinen Dingen wie einem vermeintlich einfachen Namen verbergen.
Mir ist es wichtig, dass sich die Zuschauer:innen nicht langweilen. Deshalb nutzen wir alle Möglichkeiten: Musik, Tanz, bildreiche Elemente. Uns beiden war von Anfang an bewusst, dass wir so viele Ebenen einbauen.
Diesen Film zum Beispiel kann keine deutsche Filmemacherin in Deutschland und keine Iranerin im Iran machen. Wir transformieren unsere Ideen und unseren Background in die deutsche Sprache. Für mich als Migrantin ist das etwas, das fehlt, wenn wir heute über Diversität reden.
Es geht nicht darum, nur ein paar neue Gesichter vor die Kamera zu stellen, sondern darum, dass auch die Mentalität der Filmschaffenden divers ist.
Narges Kalhor
Gegen Tradition und gegen Multikulti-Kitsch
Mit anderen Worten: Dies ist wirklich einmal der Fall einer deutschen Komödie, die das Wort subversiv und kritisch verdient. Einer Komödie, die nicht einverstanden ist mit dem Bestehenden, die weder konservative Familienideale propagiert, die mit der gelebten Wirklichkeit schon längst nichts mehr zu tun haben, noch naive Idealbilder von Diversität und Multikulti.
Diese Regisseurin weiß, worin die böse Macht der Traditionen liegt. Sie weiß, was die Unterdrückung von Frauen durch Väter wie Mütter bedeutet. Auch in ihren Lebensverhältnissen gilt: "Familie ist ein Terrorzusammenhang" (Alexander Kluge).
Auf gelassene, ironische, sehr souveräne Art macht sich dieser Film über die deutsche Bürokratie lustig und über all das, was in Deutschland schon lange schiefläuft.
Wenn es um die Lebensverhältnisse im Iran und um die Tradition des Islam geht, dann ist die Regisseurin verständlicherweise viel weniger gelassen. Ein Film gegen die Lebenslügen einer Gesellschaft, die immer noch keine Einwanderungsgesellschaft sein will, obwohl sie dies längst ist.