Sie haben sich schon die Sieger-Zigarre angesteckt?
Der Wahlabend 2002 in der Hauptstadt: der Möllemann-Block tuschelte, die Sozen grölten und die Schwarzen schluckten tapfer Rotkäppchen-Sekt
So richtig zum Feiern war eigentlich niemand zumute in Berlin an diesem verregneten Sonntagabend: Die Union hat unter Edmund "Wir haben die Wahl gewonnen" Stoiber zwar deutlich zugelegt - aber wird aufgrund einer hauchdünnen Mehrheit von Rot-Grün den Kanzler nicht stellen, überdies hat CDU/CSU es nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis auch nicht geschafft, die stärkste Fraktion im Bundestag zu sein. Die SPD hat deutlich Stimmen verloren, genauso wie die "Gysi-lose" PDS. Die FDP verschluckte sich an Führerfragen. Blieben theoretisch nur die Grünen als Stimmungskanonen - doch die hatten kein Freibier. Der wahre Winner der Wahl hieß Bill Gates.
Ein spannender Abend versprach es zu werden: Noch nie lagen im Vorfeld einer Bundestagswahl die Umfrageergebnisse der Realo-Koalitionsblöcke so eng beieinander wie in diesem Jahr. Echte Wechselstimmung konnten die Meinungsforscher zwar nicht ausmachen - große Zufriedenheit mit den Leistungen der rot-grünen Koalition schon allein angesichts der Wirtschaftskrise und vier Millionen Arbeitslosen allerdings auch nicht. Die große Frage des Tages war daher, wie man an der Urne abstimmen sollte - und die des Abends, welcher Party man die besten Stimmungseindrücke entlocken könnte.
Die FDP hatte vorab am meisten Stress gemacht mit der Akkreditierung, was natürlich die Neugier besonders weckte. Am Eingang des wie alle Parteizentralen von Funkwagen belagerten Thomas-Dehlers-Hauses in Mitte ging aber alles glatt und man schlüpfte quasi gleich mit Prominenten wie dem Berlin-Münchner Party-Löwen Florian Langenscheidt oder den vermeintlich in Sex-Affären-Verwickelten, jetzt aber eifrig Händchen haltenden Borer-Fieldings ins Getrubel. Im fast zu groß wirkenden Festzelt, das den gesamten Gartenbereich überlagerte, erfuhren die reichlich versammelten Reporter dann als erstes von plauderfreudigen Referenten, dass "einige Kollegen die letzte Nacht schon nicht schlafen konnten." Doch noch jagten über die an jedem freien Wandbereich zahlreich aufgestellten Fernsehbildschirme allein Prognosen, die als Blindflüge abgetan werden konnten.
Die Aufmerksamkeit bei der FDP galt nach den erneuten anti-israelischen Ausführungen des NRW-Politikers Jürgen Möllemanns natürlich ganz dessen Zukunft in der Partei. Über diese hatte sich die Führung bereits den ganzen Nachmittag noch vor dem Vorliegen des allerdings schon in der Luft liegenden Abschneidens der Liberalen bei der Wahl Gedanken gemacht. An einem Stehtisch versammelt tuschelte daher der vom Rest des Parteivolks argwöhnisch beobachte "Möllemann-Block" ganz unter sich, während die Kamerateams einfach jeden, der ihnen nicht sofort aus dem Schweinwerfer-Kegel ging, gnadenlos um Meinungen angingen. "Sie haben sich schon die Sieger-Zigarre angesteckt?", versuchte eine blonde Dame mit Reuters-Käppi mit einem eleganten Herrn ins Gespräch zu kommen. Die Kollegin vom ZDF testete einen Tisch weiter einen anderen Anreißer: "Sie schauen so skeptisch?"
Der bitterste Abend des Jürgen W. Möllemann
Um 19 Uhr verdichteten sich dann mit den ersten Hochrechnungen die Befürchtungen, dass die FDP anscheinend ihr Wahlziel 18 plus x glatt und um mehr als die Hälfte verfehlt hatte. Möllemann, der zwar in der Parteizentrale weilte, sich aber wohlweislich versteckt hielt, ließ daraufhin unter der Presse eine Notiz verbreiten, wonach der Abend "die bitterste Stunde während meiner Mitgliedschaft und Mitarbeit in der FDP" sei. Er wolle über alles, was da kommen möge, "nach gutem Brauch eine Nacht nachdenken".
Die Menge verlangte derweil lautstark nach "Guido, Guido, Guido", der dann auch kam und halbwegs tacheless redete: Das Wahlergebnis sei "enttäuschend", sagte er, nachdem die Hochrufe abgeebbt waren. Der Sündenbock war zum Glück aber dann ja leicht zu identifizieren, sodass die Verlautbarung der erhofften Katharsis die Guido-Jünger erneut zum Jubeln brachte: "Wir haben Jürgen Möllemann einstimmig gebeten", berichtete Westerwelle aus der Präsidiumssitzung, "seine Tätigkeiten niederzulegen".
Schließlich wolle man über die Zukunft reden, anstatt wie in der vergangenen Woche auf der Wahlkampftournee immer nur mit einer rückwärtsgewandten Debatte konfrontiert zu werden. Die FDP stehe für Toleranz, betonte der Parteivorsitzende, bevor er sich für den "wirklich gut tuenden Beifall bedankte" und zur Elefantenrunde eilte. Die nächste Hochrechnung interessierte bei der FDP dann schon keinen mehr wirklich: Als das Zweite zwischendurch statt Politiker kurz Ausschnitte einer Fuchsjagd zeigte, hingen die Blicke so manches Liberalen gebannter am Schirm als zuvor bei den bunten Tortendiagrammen.
Stimmung: noch unbestimmt
Bei den Genossen im Willy-Brandt-Haus in Kreuzberg warteten die Journalisten derweil rund um die Statue des Alt-Meisters auf den alten - und trotz des schlechten Ergebnisses wohl auch neuen Kanzler. Und warteten. Und warteten. Draußen zeigte sich Gerhard dann kurz den spärlich versammelten Schaulustigen auf zwei großen Video-Leinwänden und einer kleinen Bühne, erzählte etwas von "Interessensausgleich" und "Chancengleichheit" und dass die Mehrheit nun einmal die Mehrheit sei. Dann eilte er gleich wieder in den Reichstag, so dass die Kamerateams in ihren zu kleinen "Hauptstadtstudios" ausgebauten Separees im Inneren mit Wowi und Nieda-Dochmalda-Rümelin vorlieb nehmen mussten.
Die Print- und Online-Kollegen schwitzten in einem viel zu kleinen, mit den Düften eines Berliner Büffets angereicherten Arbeitsraum im dritten Stock. Norbert Eder, Sprecher der vom Kanzler mitgetragenen Initiative D21 brachte dort um punkt 20.52 Uhr die Stimmung auf den Punkt: "Wir wissen noch nicht genau, wie die Stimmung ist." Ein Stockwerk höher versuchten sich aber zumindest ein paar Hartnäckige in anmutigen Sprechgesängen auf der Balustrade wie "Alle werden Kanzler, nur der Stoiber nicht".
Fast schon Popstar-Charakter
In Tiergarten bei der Union im Konrad-Adenauer-Haus sprudelte gleichzeitig der zur Last-Minute-Wahlkampf-Besinnung auf den Osten passende Rotkäppchen-Sekt. Eddie wirkte sichtlich gelassen, wobei nicht ganz nachzuvollziehen war, ob aus Erleichterung über die Tatsache, dass er nun doch im schönen Bayern bleiben darf, oder aufgrund der "faktisch vier Prozent plus". "Wir haben die Wahlen gewonnen", wurde Stoiber jedenfalls nicht müde zu wiederholen, während er mit seiner im Wahlkampf taktisch klug im Hintergrund agierenden CDU-Freundin Angela Merkel sowie dem Generalsekretär Laurenz Meyer auf der Bühne fast zu scherzen schien und Schröder im Falle eines Falles eine schwere und kurze zweite Regierungszeit angesichts der knappen Mehrheit vorhersagte. Die muntere Runde der Unionshäuptlinge dürfte spätestens am Dienstag allerdings ein wenig angespannter wirken, wenn der oder die neue Fraktionsvorsitzende gewählt wird und die Führungsdebatte der Union neu startet.
Den größten Run gab es auf die Party der Grünen im Tempodrom unterm steinernen Zirkuszelt, schließlich hatte sich Joschka spätestens in den letzten Wahlkampfwochen "fast schon Popstar-Charakter" zugelegt. Das befand zumindest sein Parteikollege Volker Beck. Doch ob nun Grün wirkt, oder nicht: Fischer wirkte jedenfalls mindestens so ausgepowert wie nach einem Marathonlauf und konnte sich in seinem kurzen Auftritt im Rund vor der versammelten Multikulti-Masse nur noch bei der Basis bedanken und der Hoffnung Ausdruck geben, "Rot-Grün mit stärkerem Grün fortsetzen zu können".
Danach starrten die Versammelten mit einer Dose Becks in der Hand die längste Zeit auf die zumindest mit einem Sonnenblumen-Strauß angereicherte Bühne, während die zur Partei Gehörenden unter sich im VIP-Raum ihre Cola schlürften, oder zogen ein Häuschen weiter.
Doch hatte nicht schon vor dem Eingang ein anscheinend leicht enttäuschter Jungwähler mit lauter Stimme zu großen Erwartungen einen Dämpfer versetzt? "Alle Reps wählen beim nächsten Mal", hatte man da gehört. "Hier gibt's kein Freibier". Genauso wenig wie bei der PDS übrigens, die - anscheinend zu besseren Zeiten und noch mit Gysi als Frontmann - mit der "Arena" gleich Berlins größte Konzerthalle für die Party gebucht hatte und dort etwas verloren wirkte.
Klarer Gewinner des Abends war damit - Microsoft. Die Softwarefirma hatte es geschafft, ihr Firmen- und .net-Logo schön groß in die linke untere Bildschirmecke bei allen ARD-Hochrechnungen von dimap/Infratest zu bugsieren. Und welch Wunder: Die derart missbrauchten Fernseher stürzten nicht einmal ab. Auch wenn der Konzern in der legendären Schlacht um die Rechner im Bundestag teilweise eine Schlappe erleiden musste (Der Bundestag öffnet sich für Freie Software), war damit das Mitspracherecht bei der Sitzverteilung im Parlament endlich bewiesen.