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Seite 6: Es gab wieder offen sichtbar Jüdinnen und Juden

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Laut einer Volkszählung vom Juni 1933 gab es in Deutschland etwa eine halbe Million Jüdinnen und Juden, von etwa 65 Mio. Menschen insgesamt, also nicht einmal 1% der Bevölkerung.

Nach dem Krieg waren es etwa noch 5 Prozent dieser halben Million:

In den 1950er- und 60er-Jahren lebten etwa 20.000 bis 30.000 Menschen jüdischen Glaubens in der Bundesrepublik Deutschland, zum großen Teil waren das Ältere und Kranke, die nicht in die USA oder nach Palästina emigrieren konnten. Vor diesem Hintergrund konstituierte sich aber langsam ein neues jüdisches Gemeindeleben, wobei die Juden osteuropäischer Herkunft in der Mehrzahl waren und die Repräsentanz überwiegend von Juden deutscher Herkunft besetzt war.

Archiv Kinofenster

Zu diesem neu erwachenden jüdischen Leben gehörte auch, dass in den 1970/80ern Künstlerinnen und Künstler auftauchten, die aus ihrer jüdischen Identität keinen Hehl machten, z. B. Esther und Abi Ofarim, der Showmaster Hans Rosenthal, Ilja Richter, der Bluessänger Abi Wallenstein und der Schauspieler Michael Degen, der bis in die 1970er Jahre hinein vor allem an Theatern auftrat.

Daliah Lavi, eine jüdisch-israelische Künstlerin mit deutschen Wurzeln, machte in Deutschland Karriere. Die einer Sinti-Familie entstammende Sängerin Marianne Rosenberg hat erst sehr spät dieses "Geheimnis" gelüftet.

Während sowohl Öko- als auch Friedensbewegung ein Problem mit rechten Weggenossen hatten, tauchten auf den Demos Teilnehmer auf, die KZ-Häftlingskleidung trugen. Holocaust-Überlebende begannen, öffentlich ihre Geschichte zu erzählen und auch in Schulen als Zeitzeuginnen und Mahner aufzutreten. Einer davon war der bereits erwähnte Peter Gingold, eine andere die Künstlerin Esther Bejarano. Deren Tochter Edna hatte Anfang der 1970er mit "The Which" von den "Rattles" Weltkarriere gemacht.

In den 1980er Jahren wurde der Grundstein gelegt für das, was wir heute als "Erinnerungskultur" kennen: Die Geschichte von Jüdinnen und Juden, lokalem jüdischen Leben und Einrichtungen wurde erforscht, die Grundlagen zur Errichtung von Gedenkstätten wurden geschaffen, die ersten waren schon eingerichtet, z. B. in Dachau. Das ganze Ausmaß der Gräueltaten kam nach und nach ans Licht, die Namen der Verantwortlichen wurden publik.

Die Grundlage dafür wiederum hatten bereits die Nürnberger Prozesse von 1946-49 sowie Persönlichkeiten wie der Frankfurter Staatsanwalt Fritz Bauer und die von ihm angestrengte Auschwitz-Prozesse, die im Zeitraum von 1963-81 geführt wurden, gelegt.

Das jüdische Leben hat sich indes bis heute nicht normalisiert. Im Gegenteil, antisemitische Übergriffe und Anschläge erreichen aktuell ein bislang in der Zeit nach 1945 hierzulande nicht gekanntes Ausmaß.

Aber Jüdinnen und Juden sind wieder da, sie nehmen wahrnehmbar einen Platz ein in unserer Gesellschaft. In Hamburg z. B. entwickelte sich im Grindelviertel wieder jüdisches Leben, vor 1933 lebten in der Umgebung etwa 70% aller Jüdinnen und Juden Hamburgs. Die dort beheimatete Talmud Tora Schule, heute Joseph-Carlebbach-Schule, wird von einem Polizeiposten bewacht, schon lange, nicht erst, seitdem die Übergriffe wieder zunehmen.

Alle jüdischen Einrichtungen in Deutschland, alle jüdischen Schulen, Kindergärten, Museen, etc. stehen in Deutschland unter Polizeischutz. Jüdische Cafés und Restaurants, für die dieser Schutz nicht gilt, wie z. B. das "Feinbein" in Berlin oder das "Shalom" in Chemnitz, werden immer wieder zur Zielscheibe antisemitischer Übergriffe. Dabei ist häufig nicht klar, von welcher Seite diese Angriffe kommen: Neonazis, türkische Faschisten, religiöse Extremisten oder Linksradikale.