Sinnlose Wege

Neben der Spur: MP3, Raumklang und eine ganze Menge mehr Musik

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Niemand würde sagen, dass MP3-Erfinder Prof. Dr. Ing. Karlheinz Brandenburg einer Werbefigur der iPOD-Ads gleicht. Auch wenn er hüpfend im Vorlesungssaal steht und freudig von 40 Prozent MP3- oder AAC-Usern unter allen Computerbesitzern weltweit spricht. Euphorie ist trotzdem im Raum. Die eines grandiosen Technikers. Und Bedarf?

Brandenburg ist der Miterfinder des MP3-Standards. Am Fraunhofer Institut in Erlangen haben in den späten 80ern die Entwicklungen stattgefunden, die uns jetzt in den Ohren hallen. Sie stehen in der Tradition der Entdeckungen von psychoakustischen Effekten durch Zwicker und Terhardt: Verdeckende Frequenzen maskieren die darunterliegenden. Löst man diese aus dem Datenvolumen heraus, bleibt für menschliche Ohren der Höreindruck von Klängen weitestgehend erhalten. Soweit die Theorie. In der Praxis hat ein an "Tom`s Diner" von Suzanne Vega entwickeltes Komprimierungsverfahren zuerst niemand interessiert; MPECG-1 Audio Layer 3. Das Internet half dann ein wenig nach.

Die Geschichte von MP3 ist eine der knappen Geldmittel. Weil für eine durchsetzungskräftige Vermarktung das Geld fehlte, setzten die Forscher des Fraunhofer Instituts von Anfang an das Internet als Marketinginstrument ein. Sie streuten einen Demo-Decoder. Und das war einer der Unfälle: der 128kB-Standard war als Demo gedacht. Es konnte doch niemand wissen, dass der reichen würde, um Popmusik annehmbar gut zu kopieren und über das Netz zu verbreiten. So audiophil denken Nutzer am Modem nicht.

Am 14. Juli wiederholt sich der Geburtstag des Namens MP3 zum 21. Mal. Die damals noch übliche 8.3-Konvention erforderte drei Buchstaben als Datei-Endung. Und ".BIT" erschien den Forschern dann doch als zu banal. Und nur zwei Jahre später setzt explosionsartig der Siegeszug des Formats ein. Durch den Diebstahl eines Decoders. Ein australischer Student kaufte mit einer gefälschten Kreditkartennummer aus Thailand einen Profi-Decoder (damals um die 900 USD) und verbreitete ihn zusammen mit einem Windows-GUI auf amerikanischen Uni-Servern. Das war es dann. Ein paar Jahre später werden 70% des Datentraffics genau auf diesen Datenleitungen kopierte Musikstücke von Studenten und Dozenten sein.

Der Rest ist Justizgeschichte. Die RIAA klagte wild um sich und prägte spätestens seit den Prozessen um Napster den Begriff der Musikpiraten. Heute sind Kopierschutzmassnahmen, wieder ein Unfall für sich, so unglücklich implementiert, dass selbst ordentlich erstandene Musik auf manchen Geräten wegen industrieller Paranoia und Unflexibilität nicht abspielbar ist.

Professor Dr. Ing. Brandenburger lächelt euphorisch in einem fensterlosen Zürcher Vorlesungssaal und spricht über die Zukunft von intelligenten Stereoanlagen, die genauso Zukunft seien, wie 1994 die Vision eines "Stereoplay"-Redakteurs, dass man digitale Musik "in 10 Jahren" auf zigarettenpackungsgroße Geräte laden und abspielen kann. Gut, das hat schon einmal funktioniert. In der Zwischenzeit arbeitet das Team des Erlanger Fraunhofer Instituts an Highend-Projekten wie der 32-Kanal Raumklang-Anlage der Bregenzer Seebühne.

Ein Satz kommt immer wieder in den Zukunftsvisionen von Brandenburger vor: "Quantität wird zur neuen Qualität." Je mehr MP3-Files auf mehr Kanälen den Usern zur Verfügung stehen, desto mehr steigt die Qualität des Services. Denn er findet "seine" Musik unabhängig von einem Trägermedium.

Gut. Stimmt. Gleichzeitig dudelt Paul McCartneys Altherrenmucke im Starbucks, weil die alten Vertriebskanäle nicht mehr funktionieren. Es gibt zu viel von allem und jederzeit. Das nennt sich "Inflation", nicht "Innovation" - und drückt die Preise. Eine Industrie, deren Marchen ständig sinken, hat kein Interesse an immer mehr in immer mehr Kanälen. Sie verdient nichts mehr daran. Und die neuen Vertriebsmodelle machen die Vertreiber wie Apple und Telekommunikationsunternehmen reich. Nicht die Produzenten. Neuer Bedarf entsteht vermutlich kaum, denn Medienzeit ist bereits im Großen und Ganzen belegt und ausgenutzt. Mehr Musik kann neben mehr Musik nicht mehr Menschen erreichen. So passiert es vielleicht, dass die Technik den Markt überdreht. Das ist faszinierend, aber letztendlich nutzlos, wenn man es ökonomisch betrachtet. Grenzenlose Verfügbarkeit von Ressourcen ist ein alter Menschheitstraum. Das Bild vom Schlaraffenland. Genutzt hat Überfluss bisher nur wenigen.