Skandal-Flüchtlingsgipfel: Sind Araber weniger wert als Ukrainer?

"Where is the world?": Bewacht von ungarischem Sicherheitspersonal protestierten syrische Flüchtlinge auf dem Bahnsteig des Budapester Keleti-Bahnhofs in der "Flüchtlingskrise" am 4. September 2015. Bild: Mstyslav Chernov / CC BY-SA 4.0

Flüchtlinge sollen an den Grenzen in de-facto-Gefängnissen festgehalten werden. Darum geht es heute beim EU-Innenministertreffen. Warum Ukrainer davon ausgenommen sind.

Die EU-Innenminister werden heute über ein gemeinsames Asylsystem beraten. Schon im Vorfeld wurde von allen Seiten klargemacht, worum es bei dem Treffen in Luxemburg gehen soll.

Die anvisierten Mittel sind: Verlagerung der Prüfung des Asylanspruchs an die EU-Außengrenzen – inklusive verschärfter Grenzverfahren, Lagersystemen, die wie Gefängnisse funktionieren, und erschwertem Rechtsbeistand –, Absenkung der Schutzstandards, um Abschieben in unsichere Drittstaaten zu ermöglichen, weitere Verschärfung des Dublin-Systems, Aushöhlung des Solidaritätsmechanismus innerhalb der EU und Legitimierung von Pushbacks als präventiver Grenzschutz.

Alle diese Maßnahmen gehen in eine Richtung: Die virtuellen und realen Mauern für Schutzsuchende, die an sich schon extrem sind und für die meisten unüberwindbar, an den Außengrenzen noch höher zu ziehen. Fortress Europe soll zur unerreichbaren Raumstation ausgebaut werden.

Auch die Meinungsmacher:innen bringen sich wieder in Stellung. Sie proklamieren: Wir brauchen mehr Schutz gegen die Schutzsuchende, im Zweifelsfall auch Zäune und Mauern. Dabei ist der reichste Kontinent der Welt mit einer halben Milliarde Menschen längst durch jahrzehntelange "Flüchtlingsbekämpfung" (so Ex-Kanzlerin Angela Merkel zustimmend) hermetisch abgeriegelt.

In Ungarn stehen Zäune, an denen Schutzsuchende gewaltsam zurückgeschoben werden, in Polen gibt es eine fast 200 Kilometer lange Zaunanlage gegen Geflüchtete. Die Türkei sichert mit EU-Geldern und einer hunderte Kilometer langen, drei Meter hohen Betonmauer mit Natostacheldraht die Südflanke Richtung Syrien und Iran ab.

In Griechenland gibt es Konzentrationslager, in Libyen Foltergefängnisse. In Kroatien werden Flüchtende zurückgeprügelt. Und Italien hat unter der Neo-Faschistin Giorgia Meloni den Notstand ausgerufen, während die Häfen für Rettungsschiffe mit Flüchtlingen verschlossen bleiben.

Aufgrund von harschen Restriktionen ist es Flüchtlingen ohnehin nicht möglich, per Visa, also legal mit Fähre, Flugzeug oder Bus, in die EU zu gelangen.

Aber das alles scheint noch nicht zu reichen. Es soll nun ein finales Signal vom Gipfel ausgesendet werden, dass Flüchtlinge südlich des Mittelmeers, also Araber:innen, Mulim:innen und Afrikaner:innen, in der EU nicht erwünscht sind.

Wohlgemerkt, es geht bei dem Flüchtlingsgipfel nicht um weiße, meist christlich geprägte Ukrainer:innen. Für sie hat die Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union schon im März letzten Jahren, im Übrigen zum ersten Mal in ihrer Geschichte, einen gesetzlich geregelten Mechanismus in Gang gesetzt, der die vor dem russischen Krieg Fliehenden unbürokratisch aufnimmt.

Mit dem eingesetzten Notfallmechanismus konnten Ukrainer:innen sofort und kollektiv (d. h. ohne vorherige Prüfung von Einzelanträgen) Schutz gewährt werden – inklusive sicherer Zugang in die Union. Auf diese Weise wurde der Druck auf die nationalen Asylsysteme verringert und den Vertriebenen ermöglicht, überall in der EU harmonisierte Rechte in Anspruch zu nehmen.

Hierzu zählen ein Aufenthaltstitel, der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Wohnraum, medizinische Versorgung und der Zugang zu Bildung für Kinder. Das hat größtenteils wunderbar und geräuschlos funktioniert, trotz aller Widrigkeiten.

Wie schon bei den DDR- und Osteuropa-Flüchtlingen zu Zeiten der Sowjetunion zeigt Europa erneut, dass es auch anders geht. Zwischen 1988 und 1992 sind innerhalb von fünf Jahren mehr als 2,2 Millionen Bürger aus den ehemals kommunistisch regierten Ländern Osteuropas allein in die Bundesrepublik Deutschland eingewandert. Warum wurden diese Flüchtlinge aufgenommen? Weil sie während des Kalten Krieges für den Antikommunismus politisch nützlich waren.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vor einem Jahr sind jetzt rund vier Millionen Ukrainer:innen in die EU gekommen und wurden willkommen geheißen. Das traditionell migrationsfeindliche Polen nahm 1,4 Millionen von ihnen auf, während die polnische Bevölkerung die Flüchtenden mit Spenden und Hilfe unterstützte.

Deutschland hat in der Zwischenzeit ein unbürokratisches Aufnahmeverfahren für Ukrainer:innen eingerichtet, die mühsamen Asylanträge ausgesetzt und meist auch die entwürdigenden Massenunterkünfte übergangen. So konnten ohne viel Aufhebens eine Million Ukrainer:innen aufgenommen werden, die eben kein Asylverfahren durchlaufen müssen.

Das war absolut richtig. Aber es ist heuchlerisch und rassistisch, wenn jetzt plötzlich wieder – oft aus politischem Kalkül – Panik vor Flüchtlingen geschürt wird, die gezielt gegen Afrikaner, Araber und Muslime gerichtet ist.

Wenn der Mainstream die Politik der Rechtsextremen macht

Es gibt auch keinen Grund, "Überlastung" zu schreien, wenn das Angebot dem Bedarf angepasst wird (was den Kommunen aber verwehrt wird – ein Schuft, der Böses dabei denkt), selbst wenn nach Jahren sinkender Zuzüge die Zahlen wieder ein wenig nach oben gehen.

Die Zahl der neu nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden im Jahr 2022 lag bei rund 193.000, also noch unter der seitens der konservativen Parteien immer wieder geforderten Begrenzung auf 200.000. Für 2023 ist allerdings eine höhere Zahl zu erwarten, aber auch dann immer noch ein Rinnsal, angesichts von 100 Millionen Schutzsuchenden weltweit.

Obwohl die Asylsuchenden nur einen kleinen Teil der Aufgenommenen darstellen, stehen sie im Mittelpunkt der Mediendebatte, die wieder auf Abschottung, Abschiebungen und Abwehr fokussiert, wie schon bei der letzten "Flüchtlingskrise" – die de facto eine Abschottungskrise gewesen ist, die mit noch mehr Abschottung beantwortet wurde.

Der CDU-Vorsitzende und Unions-Fraktionschef Friedrich Merz spricht erneut von einer "Grenze der Belastbarkeit", die erreicht sei – als ob das eine feststehende, in Stein gemeißelte, von Politik unbeeinflussbare Größe sei.

Die AfD und der neue Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen Joachim Stamp (FDP) fordern Asylzentren nicht nur an den Grenzen, sondern in afrikanischen Ländern selbst.

Eine reine Schnapsidee, ein populistisches Ablenkungsmanöver ohne Bodenhaftung, das den Menschen Sand über die Realität, auch die des internationalen Rechts, in die Augen streut. Afrikanischen Staaten haben sie längst als "neokolonial" zurückgewiesen.

Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, der deutsche Politiker Manfred Weber (CSU), spricht davon, dass die EU "schlafwandelnd in eine neue Migrationskrise" mit Hunderttausenden von "illegalen Migranten" hineinschlittert, und betont: "Mauern sollten nur als letzter Ausweg gebaut werden, aber wenn es keine andere Möglichkeit gibt, die illegale Einwanderung zu stoppen, müssen wir bereit sein, Zäune zu bauen" – als ob die relativ kleine Zahl von "illegalen Migranten" ohne jegliche Rechte, die dazu verdammt sind, im Untergrund zu leben, ein Problem für die EU wäre.

Weber und alle anderen wissen sehr genau: Abschottung ist nicht gegen "illegale Migranten" gerichtet, sondern gegen Flüchtlinge, die des Schutzes bedürfen. Sie sind das "Problem", weil sie Bleibe- und Schutzrechte genießen und die auch einklagen können. Und die meisten der "illegal" Eingereisten sind genuine Flüchtlinge. Die bereinigte Schutzquote von Asylbewerber:innen in Deutschland (also bereinigt um Rücküberweisungen an andere EU-Länder) liegt bei 72 Prozent.

Bei den Grünen regt sich nun Widerstand an der Parteibasis ob der europäischen Flüchtlingsbekämpfungs-Offensive, die die deutsche Regierung mitträgt. In einem offenen Brief, den hunderte Mitglieder unterzeichnet haben, wird ein Kurswechsel hin zu einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik gefordert.

Timon Dzienus, Sprecher der Grünen Jugend, gehört zu den Unterzeichnern des offenen Briefes. Da die Bundesregierung die Verschärfungen unterstütze, sieht er sie "in den Chor der europäischen Rechtspopulisten" einstimmen.

In einem weiteren offenen Brief haben bereits eine Reihe von Prominenten die Asyl-Politik der Ampelregierung scharf kritisiert. Zu den Unterzeichnern gehören unter anderem der Musiker Herbert Grönemeyer, der Moderator Klaas Heufer-Umlauf, die Schriftstellerin Sibylle Berg sowie die Schauspielerin Katja Riemann und die Band Kraftklub.

Sie opponieren gegen Einsperrungen von Menschen und Schnellverfahren an den Grenzen. "Statt pragmatisch und unbeirrt an wirksamen Lösungen festzuhalten, droht der migrationspolitische Aufbruch in einer populistischen Debatte zu ersticken", heißt es in dem Brief.

Die Organisation ProAsyl fordert zum Protest gegen die "Asylverfahren an den Außengrenzen" auf. Mit einem rechtsstaatlichen Vorgang habe das nichts mehr zu tun.

Ein Horrorszenario droht – und das mit Unterstützung der Bundesregierung: Flüchtlinge erreichen einen Staat an der EU-Außengrenze. Sie bitten um Asyl. Sofort werden sie inhaftiert. Alles, was sie ab diesem Moment von Europa noch zu sehen bekommen, sind Mauern, Stacheldraht und Sicherheitspersonal.

Eine Frage, die wir den politisch Verantwortlichen stellen sollten, ist: Warum wird das mit dunkelhäutigen, oft muslimischen Menschen aus dem Süden gemacht, nicht jedoch mit weißen, meist christlichen aus dem Osten? Was ist der Grund für die extreme Diskrepanz?

Wir sollten ihnen dabei nicht gestatten, sich mit dünnlippigen Erklärungen aus der Frage herauszuwinden. Solange die Frage nicht ehrlich beantwortet werden kann, ist die Chance, dass Humanität in die europäische Flüchtlingspolitik einzieht, die für alle Menschen gilt, egal, woher sie zu uns fliehen, eher gering.

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