"Smart Voting" in Russland: Warum Nawalny vor allem Kommunisten empfiehlt
Die Kampagne, die Anti-Kreml-Wahltaktik über eigene Überzeugungen stellt, kann in manchen Wahlkreisen am Wochenende bei der Duma-Wahl entscheidend sein
Die Wahlempfehlungen des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny und der von ihm initiierten Kampagne "Smart Voting" zur Duma-Wahl am Wochenende in Russland haben es in sich. Nur Unbedarfte werden sich wundern, dass auf der Liste vor allem kommunistische Direktkandidaten stehen, obwohl Nawalnys Bewegung und die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) keine freundschaftlichen Beziehungen pflegen.
"Smart Voting" ist eine pur auf taktisches Wahlverhalten ausgerichtete Kampagne eines Teils der außerparlamentarischen Opposition in Russland. Es geht darum, in jedem Wahlkreis konzentriert den aussichtsreichsten Konkurrenten des Vertreters der Regierungspartei "Einiges Russland" zu wählen. Egal welcher Partei dieser selbst angehört. Die übermächtige Stellung der Partei der Behörden soll so in jedem Fall geschwächt werden. Die Initiatoren sehen in ihrem Weg die einzige Möglichkeit, das politische Establishments im Land zu schwächen.
"Smart Voting"-Unterstützer machen dabei geltend, dass jede Stimme für eine der zahlreichen Splitterparteien, die voraussichtlich nicht die Fünf-Prozent-Hürde bei der russischen Parlamentswahl überspringt, aus ihrer Sicht die kremltreuen Kräfte stärkt, da diese Stimmen (wie in Deutschland) bei der Sitzverteilung unter den Tisch fallen. Deshalb – und auch wegen des Wahlrechts – erreichte die Kreml-Partei "Einiges Russland" etwa bei der Duma-Wahl 2016 mit einem Stimmenanteil von 54,2 Prozent eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament.
2021 rechnet man laut Umfragen mit einem um etwa zehn Prozent niedrigeren Ergebnis der Regierungskräfte. Doch eine Sitzmehrheit ist dennoch möglich, da jeder fünfte Wähler aktuell beabsichtigt, eine Partei zu unterstützen, die noch nicht im Parlament sitzt.
"Smart Voting": Oppositionspolitiker wenig begeistert
Die Unterstützer der Kampagne sind radikal: Der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow befand in einem Interview mit der Onlinezeitung Medusa, es spiele keine Rolle, wer im Rahmen der Taktik konkret unterstützt werde, es müsse nur ein Konkurrent des Kreml-Kandidaten mit Gewinnchance sein.
Wolkow spielt nach Nawalnys Inhaftierung bei "Smart Voting" organisatorisch eine große Rolle. Seine Meinung ist aber selbst innerhalb der außerparlamentarischen Opposition nicht unumstritten. So hat die liberale Partei der Volksfreiheit (Parnas), die bei der Wahl selbst nicht antritt, eine generelle Wahlempfehlung für die zugelassene Partei Jabloko abgegeben. Wo es keine liberalen Kandidaten gibt, empfiehlt sie niemanden und widerspricht damit dem taktischen Vorgehen der Nawalnisten.
Auch die empfohlenen Kandidaten sind über die Unterstützung zumindest offiziell selten begeistert und vermeiden es, mit der Kampagne in Verbindung gebracht zu werden. Das gilt selbst für einige Liberale wie den Petersburger Jabloko-Politiker und Parlamentskandidat Boris Wischnewski, der aussagte, dass es sich nicht lohne, für irgendwelches Gesindel zu stimmen, nur weil der Gegenkandidat regierungsfreundlicher sei. Wischnewski ist am Wochenende selbst in seinem Wahlkreis die Empfehlung von "Smart Voting".
Dass die KPRF die mit Abstand am häufigsten empfohlene Partei der Liste ist, liegt auch nur daran, dass sie nach Einiges Russland über das im Schnitt zweitgrößte Wählerpotenzial im Land verfügt - gerade außerhalb der großen Städte. So stellen die Kommunisten am häufigsten den größten Konkurrenten des Establishments. Auch Kandidaten der Parlamentspartei Gerechtes Russland, der viele wegen ihrer Regierungsnähe eine echte Oppositionseigenschaft absprechen, finden sich zahlreich auf der "Smart Voting"-Liste.
Erfolgreich vor allem in Metropolen
Dennoch ist der Unterstützerkreis für "Smart Voting" recht groß und geht weit über den vergleichsweise kleinen Kreis der Russen hinaus, die zu Nawalnys persönlicher Anhängerschaft gehören. Bei der letzten Kommunalwahl in Russland 2020 wurde das System bereits angewendet. Der Sankt Petersburger Professor Michail Turtschenko und sein Kollege Grigory Golosow haben für ihre Heimatstadt empirisch untersucht, welchen Unterschied die Unterstützung durch "Smart Voting" ausmachte.
Sie kamen dabei auf einen stolzen Wert von durchschnittlich knapp 7,5 Prozent zusätzlicher Stimmen für Smart-Voting-Kandidaten - einen manchmal durchaus wahlentscheidenden Wert. Der österreichische Russland-Experte Gerhard Mangott glaubt unter anderem aufgrund der aktuellen Liste an deutliche Stimmengewinne der KPRF.
Diese bereite Unterstützung kommt dadurch zustanden, dass oppositionell gesinnte Russen in der Tat die Übermacht der Kreml-Partei Einiges Russland als erdrückend empfinden und in hohem Maße bereit sind, taktisch zu wählen. Hauptsache es schadet der Obrigkeit. Selbst wenn die Einstellung des damit gewählten Kandidaten der eigenen Weltanschauung weitgehend widerspricht. Denn einem überzeugten Liberalen kann es bei "Smart Voting" durchaus unterkommen, dass er einen Rechtspopulisten von Wladimir Schirinowskis LDPR unterstützen soll.
Der Politologe Konstantin Kalatschew erklärte in der Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta, dass vor allem Wähler, die nicht explizit Anhänger einer bestimmten Partei seien, sich von solchen taktischen Wahlempfehlungen beeinflussen lassen. Der Wert der Liste sei dabei so hoch wie die Richtigkeit der Vorhersage, wer wirklich dem Kreml-Kandidaten, der überall ein Favorit ist, gefährlich werden könne.
Hierbei muss allerdings berücksichtigt werden, dass der Einfluss der Kampagne in den Metropolen wie Sankt Petersburg größer ist als etwa auf dem flachen Land, wo es überhaupt keine Schätzungen gibt, welchen Unterschied der "Smart Voting"-Support ausmacht. Doch er ist nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg hoch. Russland verfügt noch über mehr Metropolen mit urbaner Wählerschaft. Jekaterinburg, Nischni Nowgorod, Ufa, Samara, Tscheljabinsk oder Nowosibirsk sind ebenfalls Millionenstädte, in denen Nawalnys Organisationen vor ihrem Verbot und ihrer Einstufung als extremistisch über örtliche Strukturen verfügten.
Aus Behördensicht vom westlichen Ausland gesteuert
Die Eigenschaft der Initiatoren als extremistisch führt auch dazu, dass die russischen Behörden aktiv versuchen, die Verbreitung der Empfehlungen von "Smart Voting" zu verhindern. Sie gelten nach russischem Recht als extremistische Betätigung, die aus dem westlichen Ausland gesteuert werde. Tatsächlich richtet sich die Kampagne auch rein destruktiv gegen die bestehenden Machtverhältnisse. Die Internet-Aufsichtsbehörde Roskomnadzor hat Sozialen Netzwerken, die eine Verbreitung von "Smart Voting" nicht unterdrücken, Millionenstrafen angedroht.
So war es kein Zufall, dass die Nawalnisten die Liste erst wenige Tage vor der Wahl veröffentlichten. Für umfangreiche Gegenmaßnahmen der Behörden wie Netzsperren oder Drosselungen der Geschwindigkeit von "Smart Voting"-Seiten ist es nach Meinung des Politologen Kalatschew nun vom technischen Standpunkt aus gesehen zu spät.