So ist Europa in den zweiten Kalten Krieg geschlittert

Seite 3: Schaden für US-Präsident Biden nicht abzusehen

Schon jetzt ist erkennbar: Der Westen hat die russischen Sicherheitsinteressen in den letzten Wochen und schon in den vergangenen Jahren eklatant missverstanden. Westliche Diplomatie war bar jeglicher überzeugender militärischer Abschreckungsfähigkeit. Die Eskalationsdominanz lag und liegt weiterhin in Moskau.

Der Schaden für das Ansehen von US-Präsident Joseph Biden ist noch gar nicht abzuschätzen. Eine solche Niederlage gegenüber Russland wird gerade die antirussisch eingestellten Kräfte in den USA in einem erheblichen Maße verstören. Biden wird weiter an Zustimmung verlieren.

Aber ihm sind mit Blick auf die Ukraine die Hände gebunden. Er wird sich ebenso wenig wie die Nato militärisch engagieren. Der Westen wird diese geostrategische, politische und diplomatische Niederlage unter Protest und mit weitgehend wirkungslosen Sanktionen mit der Faust in der Tasche hinnehmen müssen.

So hat der zweite Kalte Krieg Europa wieder im Griff. Doch anders als einst hat sich die Machtbalance drastisch zuungunsten der freien Demokratien verschoben. Besonders bitter ist: Deutschland konnte und wollte zu keinem Zeitpunkt seine entspannungspolitischen Fähigkeiten einsetzen.

Ein mutiger Vorstoß beziehungsweise Vorschlag einer neutralen Ukraine-Lösung hätte nicht zwingend Erfolg bringen müssen. Aber es wäre einen Versuch wert gewesen.

Halbherzigkeit, Arroganz und Naivität im Gespräch mit dem Kreml haben ein Übriges dafür getan, dass das autoritäre Russland weiter an Einfluss gewinnt und seine revisionistische Politik der Einflusssphären auch jetzt, nach der Einverleibung der Krim, weiter erfolgreich ist.

Die Krise ist damit nicht zu Ende; sie setzt sich fort und eine weitere Eskalation ist nicht ausgeschlossen. Auch China wird die Unentschlossenheit, die Uneinigkeit und die Schwächen der USA mit Blick auf Taiwan sehr genau beobachten. Das verspricht nicht mehr Sicherheit in Asien.

Das krisenpolitische Erdbeben, das von der Besetzung der beiden Volksrepubliken ausgeht, beschränkt sich nicht auf die Ukraine, nicht allein auf Europa. Die weltpolitischen Konsequenzen werden wir erst in den kommenden Monaten voll erkennen.

Noch einmal: Die Politik der Halbherzigkeiten, der Arroganz und der Naivität gegenüber der machtpolitischen Entschlossenheit Putins hat auf ganzer Linie versagt. In dem Maße, in dem der Westen – nicht zuletzt durch die Politik der Osterweiterung der Nato in Europa und der sogenannten humanitären Interventionen – realpolitisch immer schwächer wurde, haben Putins Selbstvertrauen und seine geopolitischen Ambitionen zugenommen. Der Westen hat Putin erst stark gemacht; das ist die bittere Erkenntnis des heutigen Tages.

Der Westen agiert dennoch stoisch weiter in einer idealisierten Weltordnung: regelbasiert und auf Kooperation sowie Gleichberechtigung aufgebaut. Die faktische Annexion der beiden "Volksrepubliken" durch Russland zeigt, dass der Westen angesichts der machtpolitischen Realpolitik Russlands auch geistig umrüsten bzw. umdenken muss. Sonst steht er weiterhin fest mit beiden Beinen … in den Wolken.

Christian Hacke ist Politikwissenschaftler und Konfliktforscher. Er lehrte als Professor an der Universität der Bundeswehr Hamburg sowie an der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.