So ist Europa in den zweiten Kalten Krieg geschlittert

Die bittere Wahrheit ist: Der Westen hat Putin erst stark gemacht. Und sein Agieren wird von einer weiteren Großmacht genau beobachtet

Mit der faktischen Annexion von Teilen der ostukrainischen Oblaste Donezk und Luhansk hat sich Russland vermutlich endgültig gegen den Westen und für ein strategisches Bündnis mit China entschieden. Das bedeutet, dass der demokratische Westen in einer Neuauflage des Kalten Krieges – dieses Mal in globaler Dimension – in Europa und Asien auf zwei verbündete und stark autoritäre Weltmächte trifft.

Im asiatischen Raum wird Russland in seiner Rolle als asiatische Ordnungsmacht den Einfluss der Antidemokraten zusammen mit China noch weiter verstärken. Die faktische Annexion von Teilen der beiden Ostprovinzen der Ukraine durch Russland könnte also ein weiterer Schritt in Richtung einer weltweiten Machtverschiebung zugunsten der autoritären Kräfte sein.

Das schwindende Ansehen und eine offensichtliche Ohnmacht des Westens lassen weitere Konflikte und die Wiederkehr eines Kalten Krieges mit neuen – auch technologisch gesehen – ungeahnten Dimensionen erahnen.

Der Politikwissenschaftler Christian Hacke war Professor an der Universität der Bundeswehr Hamburg und der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Wer verliert dabei am meisten? Alle, vor allem aber die armen Länder. Eine gemeinsame Bekämpfung der Coronapandemie, des Klimawandels, des islamistischen Terrors, der Armut in der Dritten Welt und vieles mehr bleiben auf der Strecke.

Die Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine durch die russische Regierung unter Wladimir Putin ist ein Schurkenstreich erster Güte, ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, eine widerrechtliche Annexion fremden Territoriums.

Putin jüngste Rede zeigte zugleich seine tiefe Enttäuschung über die gescheiterten Versuche der letzten Jahre, den Westen auf die sicherheitspolitischen Interessen Russlands aufmerksam zu machen.

Niemand hat auf ihn gehört. Niemand hat in den vergangenen Wochen mit echten Kompromissvorschlägen auf Putins Vertragsoffensive geantwortet.

Stattdessen hat der Westen Putin davor gewarnt, eine militärische Drohkulisse aufzubauen. Die Ukraine wurde in ihrer Politik aus dem Westen zwar halbherzig, aber rhetorisch kraftvoll unterstützt.

Die Ukraine-Lösung lag auf dem Tisch

Noch auf der Münchener Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende hätte eine Kompromissplattform geschaffen werden können. Hätte der Westen diese Chance nur erkannt und genutzt! Als der chinesische Außenminister etwa eine neutrale Ukraine-Lösung vorschlug.

Diese realistische Kompromisslösung wurde seit Jahren, mehr noch, seit Jahrzehnten von westlichen Politikern und Wissenschaftlern vorgeschlagen. Er wurde sogar von einem ausgemachten Russland-Gegenspieler wie Zbigniew Brzezinski unterstützt.

Keiner dieser Vorschläge wurde gehört, keine dieser Initiativen hatte Erfolg.

Mit dieser Unflexibilität verspielten Kiew und der Westen die letzte Möglichkeit einer Lösung, die den Einfluss von Ost wie West auf das Land hätte einhegen können. Dies aber wäre die einzige Option zur Bewahrung der territorialen Integrität der Ukraine gewesen. Die Minsker Abkommen hätten weiterhin Basis eines diplomatischen Weges bleiben können. All das ist nun Geschichte. Putin diktiert noch mehr und noch dominanter das Geschehen.

Was also ist weiter denkbar?

Krieg im Donbass (12 Bilder)

Ein Infanteriepanzer in der Nähe der Ruinen des internationalen Flughafens Donezk (2015). Bild: Mstyslav Chernov / CC-BY-SA-4.0

Die beiden "Volksrepubliken" sind für die Ukraine ebenso unweigerlich verloren wie die Krim. Über kurz oder lang werden sie in die Russische Föderation eingegliedert. Die russische Truppenpräsenz dort soll abschrecken.

Putin hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bildlich gesprochen im Schwitzkasten: Selenskyj hat nur die Möglichkeit jetzt zu sagen: "Es ist genug, ich gebe auf!" Er könnte dann hoffen, dass Putin es beim neuen Status quo belässt. Selenskyj hätte dann zwar verloren, bliebe aber vorerst weiter Regierungschef in Kiew.

Alternativ ist denkbar, dass Selenskyj zur Befreiung der beiden Republiken aufrufen könnte und das ukrainische Militär in Marsch setzt. Doch darauf wartet Putin nur: Denn ein solcher Angriff auf russisch besetztes Territorium wäre – aus Putins Sicht – der willkommene Anlass, russische Truppen in einem propagandistisch verbrämten "Befreiungskrieg" gegen Kiew in Marsch zu setzen. Dann könnte Putin umfassend zuschlagen; im Osten gegen Mariupol vorstoßen, weiterhin zur See und von Norden aus mit russischen Truppen aus Weißrussland auf Kiew marschieren.

Es hängt jetzt völlig von Selenskyj sowie von dessen Beratungen mit den USA und der Nato ab, wie weiter verfahren wird.

Schaden für US-Präsident Biden nicht abzusehen

Schon jetzt ist erkennbar: Der Westen hat die russischen Sicherheitsinteressen in den letzten Wochen und schon in den vergangenen Jahren eklatant missverstanden. Westliche Diplomatie war bar jeglicher überzeugender militärischer Abschreckungsfähigkeit. Die Eskalationsdominanz lag und liegt weiterhin in Moskau.

Der Schaden für das Ansehen von US-Präsident Joseph Biden ist noch gar nicht abzuschätzen. Eine solche Niederlage gegenüber Russland wird gerade die antirussisch eingestellten Kräfte in den USA in einem erheblichen Maße verstören. Biden wird weiter an Zustimmung verlieren.

Aber ihm sind mit Blick auf die Ukraine die Hände gebunden. Er wird sich ebenso wenig wie die Nato militärisch engagieren. Der Westen wird diese geostrategische, politische und diplomatische Niederlage unter Protest und mit weitgehend wirkungslosen Sanktionen mit der Faust in der Tasche hinnehmen müssen.

So hat der zweite Kalte Krieg Europa wieder im Griff. Doch anders als einst hat sich die Machtbalance drastisch zuungunsten der freien Demokratien verschoben. Besonders bitter ist: Deutschland konnte und wollte zu keinem Zeitpunkt seine entspannungspolitischen Fähigkeiten einsetzen.

Ein mutiger Vorstoß beziehungsweise Vorschlag einer neutralen Ukraine-Lösung hätte nicht zwingend Erfolg bringen müssen. Aber es wäre einen Versuch wert gewesen.

Halbherzigkeit, Arroganz und Naivität im Gespräch mit dem Kreml haben ein Übriges dafür getan, dass das autoritäre Russland weiter an Einfluss gewinnt und seine revisionistische Politik der Einflusssphären auch jetzt, nach der Einverleibung der Krim, weiter erfolgreich ist.

Die Krise ist damit nicht zu Ende; sie setzt sich fort und eine weitere Eskalation ist nicht ausgeschlossen. Auch China wird die Unentschlossenheit, die Uneinigkeit und die Schwächen der USA mit Blick auf Taiwan sehr genau beobachten. Das verspricht nicht mehr Sicherheit in Asien.

Das krisenpolitische Erdbeben, das von der Besetzung der beiden Volksrepubliken ausgeht, beschränkt sich nicht auf die Ukraine, nicht allein auf Europa. Die weltpolitischen Konsequenzen werden wir erst in den kommenden Monaten voll erkennen.

Noch einmal: Die Politik der Halbherzigkeiten, der Arroganz und der Naivität gegenüber der machtpolitischen Entschlossenheit Putins hat auf ganzer Linie versagt. In dem Maße, in dem der Westen – nicht zuletzt durch die Politik der Osterweiterung der Nato in Europa und der sogenannten humanitären Interventionen – realpolitisch immer schwächer wurde, haben Putins Selbstvertrauen und seine geopolitischen Ambitionen zugenommen. Der Westen hat Putin erst stark gemacht; das ist die bittere Erkenntnis des heutigen Tages.

Der Westen agiert dennoch stoisch weiter in einer idealisierten Weltordnung: regelbasiert und auf Kooperation sowie Gleichberechtigung aufgebaut. Die faktische Annexion der beiden "Volksrepubliken" durch Russland zeigt, dass der Westen angesichts der machtpolitischen Realpolitik Russlands auch geistig umrüsten bzw. umdenken muss. Sonst steht er weiterhin fest mit beiden Beinen … in den Wolken.

Christian Hacke ist Politikwissenschaftler und Konfliktforscher. Er lehrte als Professor an der Universität der Bundeswehr Hamburg sowie an der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.