Software soll Musikvielfalt fördern

Mit neuen Empfehlungstools können Internetnutzer Musiker zu Stars machen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Softwareentwickler machen sich auf die Spurensuche nach den geheimen Musikwünschen der Internetnutzer. Die neuen Tools könnten die Charts bald verändern und die Marketingmacht der Musikkonzerne aufbrechen.

Irgendwann stand die Idee im Raum, das Internet würde sich vorzüglich dazu eignen, das Diktat der Musikkonzerne zu brechen und künstlerische Werke direkt dem Konsumenten zugänglich zu machen. Der Musikschaffende wäre dann nicht mehr vom Goodwill der Marketingleute in den Konzernen abhängig und User könnten abseits der Mainstream-Hitparadenkultur selbst entscheiden, was sie gerne hören wollen.

Heute finden sich auf den Musiktauschbören wie Napster oder MP3 durchschnittlich 700.000 Musikfiles von über 100.000 Musikschaffenden. Die Sache hat nur einen Haken: Auch in den Download-Hitparaden führen die Superstars der traditionellen Musikwelt. Madonna, Eric Clapton und Faith Hill gelten derzeit unter den Nutzern der Musiktauschbörsen als besonders schick und hip. Nur wenige Indie-Bands schaffen es sporadisch, bis in die Höhen des MP3-Rankings durchzubrechen.

So blieb das grundlegende Problem bis dato ungelöst. Wie nämlich kann der User in der Fülle des Angebots seinen Bedürfnissen entsprechende Musikstücke überhaupt finden beziehungsweise eine entsprechende Auswahl treffen? Um dieses Hindernis am Weg zur selbstbestimmten, freien Musikkonsumkultur zu überwinden, begeben sich jetzt Softwareentwickler auf die Spurensuche nach geheimen Musikwünschen. Sie versuchen Empfehlungstools für User zu entwickeln, die dem Konsumenten seinem Geschmack entsprechende Stücke auf Abfrage anzeigen können. Wie Salon berichtet, bietet das Bostoner Unternehmen Media Unbound derartige Software an, ebenso wie Mubu auf listen.com und die Firma Gigabeat, deren gleichnamige Entwicklung erst unlängst von Napster gelauncht wurde.

Personalisierung heißt der Schlüssel zum Erfolg. Die Software funktioniert im wesentlichen nach folgendem Prinzip: Der User gibt eine Frage oder bestimmte Eigenschaften ein, dann werden ihm Musiktipps präsentiert, die andere Konsumenten mit ähnlichem Geschmack als empfehlenswert eingestuft haben. Ganz neu ist diese Entwicklung freilich nicht. Bereits 1996 versuchte sich darin das amerikanische Unternehmen Firefly in Kooperation mit dem Media-Lab MIT. Der große Wurf gelang mit dem Empfehlungstool "BigNote" nicht. Firefly scheiterte in der Praxis.

In einem Artikel auf intern.de wurden dafür Probleme mit Privacy-Regelungen sowie ein Eigentümerwechsel verantwortlich gemacht. Andere Branchenkenner wiederum behaupten, dass die meisten Personen nur Stars empfahlen. Das heißt, Firefly konnte die kritische Masse an Usern nicht erreichen, um das System mit entsprechenden Breite an Auswahlsvarianten auszustatten. Schließlich muss der Content ja analysiert, kategorisiert und Kompatibilitätskriterien für den suchenden User erstellt werden. Von der Komplexität der Systematisierung kann man sich bei Gigabeat überzeugen, wo anhand einer Grafik die Funktionsweise des Produkts erklärt wird. Die Plattform integriert schlussendlich eine Fülle von Datensuchsystemen und Matching-Algorithmen, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden.

Sollte sich Software wie Media Unbound oder Gigabeat durchsetzen, könnten sich über kurz oder lang ganz andere Musiker durchsetzen als jene, die von den Konzernen gefördert werden. Denn bisher wurden Stars mit enormen Marketingaufwand von den großen Konzernen, den Majors, systematisch aufgebaut. Entsteht nun eine Fangemeinde quasi von unten durch die Masse von Userempfehlungen, würde die starke Abhängigkeit des Künstlers vom Produzenten ein wenig reduziert. Bisher profitierte nämlich primär die Musikindustrie von der komplizierten Entwicklung des Star-Fan-Verhältnisses. Peter Tschmuck, der an der Wirtschaftsuniversität Wien lehrt, erklärte diesen Aspekt in einem Vortrag zu Internetökonomie und Musikwirtschaft eingehend und beschrieb mögliche Veränderungen durch das Internet folgendermaßen:

"Diese einseitige Abhängigkeit der Fans von ihren Idolen konnte sich die Musikindustrie zunutze machen. Dadurch, dass sie die Musiker und Interpreten marktfähig machen, bevor sie berühmt waren, können sie mit ihnen sehr stringente Verträge ('Knebelungsverträge‘) aushandeln, die auch nach eingetretenem Erfolg dafür sorgten, dass der Künstler weiter bei seinem Label unter Vertrag bleiben muss. Der Schneeballeffekt auf Konsumentenseite sorgte dann dafür, dass der Erfolg von wenigen Stars die Verluste des gesamten Repertoires mehr als wettmacht.

Die Digitalisierung schafft nun aber neue Bedingungen für die Künstler-Fan-Beziehung. Mit dem Surfen durch die Musikseiten des Internet spart der Konsument Transaktionskosten. Musiker, die bereits bekannt sind und ihre Musik zum einfachen Herunterladen ins Netz stellen, haben so die Möglichkeit, den Vertragszwängen mit den Majors zu entkommen und den Großteil des Gewinns für sich allein abzuschöpfen (Bsp. Public Enemy, Prince, David Bowie). Aber auch noch nicht bekannte Musiker bedienen sich der neuen technologischen Möglichkeiten. So hat die Internet-Firma MP3.com bereits 10.000 Künstler unter Vertrag, die ihre Originalwerke auf der Firmenhomepage platzieren und im Fall einer CD-Bestellung 50 % des Preises als Einnahmen verbuchen können und Eigentümer des Master-Bandes bleiben."

Musterprozesse, wie beispielsweise jener gegen Napster, haben allerdings gezeigt, dass verfrühte Euphorie nicht angebracht ist. Die Verschärfung von Copyrightbestimmungen schließlich spielt bei genauerer Betrachtung ebenfalls eher den Konzernen in die Hände. So betonte Martin Kretschmer bei einer Veranstaltung des Mica Wien:

"Wir hören ja immer: 'die Interessen der Majors und der Künstler sind dieselben‘ ... 1996 gab es eine Untersuchung der britischen Monopoly and Mergers Commission. Die Kartellbehörde hat sich die Performing Right Society (PRS) angeschaut, die die musikalischen Aufführungsrechte in Großbritannien verwertet. Und was wir natürlich sehen, ist hier, dass 10% der Komponisten 90% der Tantiemen kriegen. Das heißt: Das Gerücht, dass man als Künstler vom Urheberrecht leben kann, ist einfach schlicht falsch. Die meisten Musiker haben andere Einnahmequellen, und es wäre an der Zeit, dass die Politik das endlich versteht."

Ein grundsätzliches Verständnis durch die Politik wäre wünschenswert ebenso wie die öffentliche Förderung der Musikvielfalt. Eine sinnvolle Maßnahme könnte die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Entwicklung spezieller Empfehlungssoftware sein, die Unabhängigkeit bei der Kategorisierung der Musiktitel gewährleistet. Die Betonung liegt dabei auf Unabhängigkeit. Denn der Verkauf von Gigabeat an Napster, um ein Beispiel zu nennen, impliziert die Gefahr, dass ökonomische Interessen der Eigentümer letztlich die Auswahlmöglichkeiten wieder einschränken. Die Empfehlungsliste ist ganz einfach zu manipulieren.

Hingegen könnte bei der interessenfreien Programmierung der Tools den Musikschaffenden zu einer Stärkung ihrer Marktpositionierung verholfen werden. Indem sie nämlich vom Konsumenten selbst entdeckt und zu potenziellen Stars gemacht werden, wären Knebelverträge, die sich ja wesentlich in der Marketinggewalt der großen Konzerne begründen, bedeutend schwieriger abzuschließen. Die Herstellung und Vervielfältigung eines Songs kostet inzwischen keine Unsummen mehr. Mit den neuen technischen Möglichkeiten würden vielleicht viele Künstler zunächst kleinere Labels als Produzenten wählen, mit denen sie bessere Verträge abschließen können und erst mit höherem Bekanntheitsgrad zu den marktdominierenden Konzernen wechseln, wenn sie das überhaupt noch wollen.

Die großen Player beherrschen derzeit immerhin 80 Prozent des Weltmusikmarkts. Die Vorstellung, diese Machtkonzentration aufzubrechen, hat zweifelsohne Charme. Mit der Weiterentwicklung dieser Empfehlungssoftware könnte ein neues Kapitel der Musikindustrie zugunsten der Musikschaffenden und Konsumenten geschrieben werden.