Solidarität, Triumph und Demütigung: Die Geschichte der Arbeiter

Seite 3: Die Norm als Befreiung

Es waren also Normen, Kollektivregeln, Standards, die die Situation der Industriearbeiter Schritt für Schritt verbesserten und ihrem Leben allmählich Sicherheit, Planbarkeit und Stabilität gaben. Ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals arbeitete in den westlichen Ländern im Schnitt jeder zweite Beschäftigte in der Industrie, und viele waren gewerkschaftlich organisiert. Der Zusammenhalt in den Belegschaften war groß und die Industriearbeiterschaft als gesellschaftliche Gruppe entsprechend einflussreich. Die aus diesem Milieu entstandenen und damals noch in ihm verankerten linken Parteien erzielten Stimmengewinne und übernahmen in vielen Ländern die Regierung. Eine solide Berufsausbildung versprach zu jener Zeit ein Leben in sozialer Sicherheit, steigende Einkommen und Aufstiegsmöglichkeiten. Selbst ein Angelernter konnte sich hocharbeiten.

Die Erzählung der Arbeiter

Die große Erzählung der Industriearbeiterschaft, die in Befragungen auch heute noch durchscheint, ihre Blütezeit allerdings im 20. Jahrhundert hatte, entstand aus diesen Erfahrungen. Sie war getragen vom Stolz auf die eigene Arbeit, die den materiellen Wohlstand produziert, auf den die gesamte Gesellschaft angewiesen ist. Und sie lebte vom Selbstbewusstsein einer sozialen Schicht, die es durch ihren Zusammenhalt und ihre Solidarität geschafft hatte, ihren Interessen gesellschaftliche Geltung zu verschaffen: gegen das Management, gegen das Kapital und überhaupt gegen die da oben. Wir-Bewusstsein, Gemeinschaftsorientierung, Solidarität und gegenseitige Verantwortung waren Grundpfeiler dieses Weltbilds. Nur Belegschaften, die zusammenhielten, hatten im Betrieb eine Chance gegenüber Vorgesetzten und Management. Vereinzelung bedeutete Wehrlosigkeit. Individualisierte Verträge waren schlechtere Verträge.

Auch in den Wohnvierteln der Arbeiter waren gegenseitige Hilfe und Unterstützung oft überlebenswichtig. Der Zusammenhalt wurde dadurch erleichtert, dass man sich kannte und einander vertraute. Immerhin arbeiteten viele Industriearbeiter ihr Leben lang im selben Betrieb, in dem oft schon der Vater seine Brötchen verdient hatte. Die Arbeiterschaft war daher überwiegend sesshaft und heimatverbunden. Wer aus diesen sozialen Bezügen und Gemeinschaften herausgerissen wurde, etwa weil er zu Hause keine Arbeit mehr fand, war arm dran. Wunsch nach Sicherheit und Kontinuität Bis heute bestätigen Befragungen, dass der Wunsch nach Sicherheit und Kontinuität eine zentrale Rolle im Leben der Arbeiter spielt.

Geregelte Arbeitszeiten, ein fester Rahmen für Firma, Haus und Familie, die Planbarkeit des eigenen Lebens, das möglichst bis zur Rente durch nichts aus der Bahn geworfen werden soll, gehören zu elementaren Bedingungen für das, was viele Arbeiter unter einem guten Leben verstehen. Ein Leben, das sie mittlerweile immer seltener führen können. "Ich muss heute wissen, was morgen ist", beschreibt ein Facharbeiter, der sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet hat, in einem soziologischen Interview-Band seine Lebensmaxime. "Ich muss heute wissen, was morgen ist", ist die verständliche Leitlinie derer, die schnell und tief fallen können und die Abwechslung deshalb nicht in erster Linie mit aufregenden Erlebnissen und interessanten neuen Erfahrungen in Verbindung bringen, sondern mit gefährlicher Unsicherheit, die im sozialen Absturz enden kann.

In allen westlichen Ländern genoss die harte Arbeit der Industriearbeiter Mitte des 20. Jahrhunderts hohen Respekt, ihre Werte und wichtige Elemente ihres Weltbildes prägten die öffentliche Debatte. Das galt für Frankreich und Großbritannien vielleicht noch mehr als für Deutschland.

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