Solidarität, Triumph und Demütigung: Die Geschichte der Arbeiter

Seite 2: Ein Machtungleichgewicht

In allen Ländern machten die Arbeiter bereits im 19. Jahrhundert eine Grunderfahrung, die für ihr Weltbild und ihre Werte elementar werden sollte: dass sie nur eine Chance hatten, wenn sie sich mit ihresgleichen zusammentaten. Das zentrale Ziel kapitalistischen Wirtschaftens besteht darin, aus Geld mehr Geld zu machen. Es geht also darum, möglichst billig zu produzieren und möglichst teuer zu verkaufen. Das können Unternehmen durchaus auf Wegen erreichen, die mit dem Allgemeinwohl und auch mit den Interessen ihrer Arbeiter nicht kollidieren. Hohe Gewinnchancen bergen beispielsweise innovative Güter, für die es zunächst keine Konkurrenten gibt und die sich deshalb teuer verkaufen lassen.

Bei funktionierendem Wettbewerb dagegen lässt sich der Verkaufspreis nicht beliebig erhöhen, hier wird die Senkung der Kosten zum Schlüssel. Kostensenkungen wiederum lassen sich durch den Einsatz neuer Techniken bewerkstelligen, die die Arbeit produktiver machen und damit den in jedem produzierten Gut enthaltenen Lohnkostenanteil verringern. Der Anreiz, neue Produkte zu entwickeln und arbeitssparender zu produzieren, ist der Grund dafür, dass der Kapitalismus 150 Jahre lang die technologische Entwicklung vorangetrieben und die materiellen Grundlagen für unseren gesellschaftlichen Wohlstand vervielfacht hat. Aber technologischer Fortschritt ist nicht das einzige Mittel, um Kosten zu verringern und höhere Gewinne zu erzielen.

Das gleiche Ergebnis lässt sich auch durch niedrigere Löhne, Abstriche beim Arbeitsschutz oder quälende Überstunden, die nicht bezahlt werden, erzielen. Um solche Kostensenkungen durchzusetzen, hilft dem Unternehmer ein Machtungleichgewicht, das es überall da gibt, wo der Arbeiter auf den Arbeitsplatz mehr angewiesen ist als der Unternehmer auf just diesen Arbeiter.

Burger-Brater oder Sternekoch

Dieses Machtungleichgewicht, das den Arbeiter erpressbar macht, existiert vor allem dort, wo Arbeitsplätze keine besondere Qualifikation, kein überdurchschnittliches Geschick und keine originellen Fähigkeiten erfordern. Je anspruchsvoller eine Tätigkeit und je höher die für sie erforderlichen Qualifikationen, desto kleiner ist der Kreis möglicher Bewerber und desto stärker naturgemäß die Stellung eines Beschäftigten. McDonald’s kann seine Burger-Brater jederzeit ersetzen, entsprechend schlecht behandelt und bezahlt das Unternehmen sie. Ein Restaurant, das einen Sternekoch beschäftigt, wird dagegen alles tun, um den geschickten Küchenmeister bei Laune zu halten.

Die kapitalistische Industrialisierung motivierte daher von Beginn an nicht nur zum Einsatz arbeitssparender Produktionsmethoden. Sie bevorzugte immer auch Technologien, die die Arbeit soweit möglich entqualifizierten. Die einzig erfolgversprechende Gegenstrategie der Arbeiter angesichts des Machtungleichgewichts war, sich zusammenzuschließen und die Löhne und Arbeitsbedingungen nicht mehr individuell, sondern kollektiv auszuhandeln. Die Gewerkschaften kämpften also um die Fixierung standardisierter Arbeitsentgelte durch Tarifverträge und gegen die Dequalifizierung der Arbeit. Sie bemühten sich, Bildungszertifikate für bestimmte Arbeiten verbindlich vorzuschreiben und mit festen Gehaltstarifen zu verbinden.

Hinzu kam in allen Ländern früher oder später noch ein umfassendes Bündel von Leistungen aus der Sozialversicherung, die großenteils ebenfalls standardisiert und gesetzlich mit dem Arbeitsvertrag verbunden waren. Außerdem gab es gesetzlichen Kündigungsschutz, festgelegte Aufstiegsmöglichkeiten im Betrieb und feststehende Lohnerhöhungen im Zuge einer längeren Betriebszugehörigkeit.

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