Solidarität, Triumph und Demütigung: Die Geschichte der Arbeiter

Seite 4: Die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft"

Die große Erzählung der Bundesrepublik der fünfziger bis späten siebziger Jahre war die der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft", in der es keine krassen sozialen Gegensätze mehr gibt und jeder, der sich anstrengt und an die Regeln hält, die Chance auf sozialen Aufstieg und ein Leben in solidem Wohlstand erhält. Mit dieser Erzählung verbanden sich Werte wie Leistung, Fleiß, Disziplin, Ordnung, Sicherheit, Stabilität und Normalität, die von der Arbeiterschaft wie von den traditionellen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten geteilt wurden. Die Gesellschaft wurde als eine gemeinsame Angelegenheit betrachtet, in der sozialer Zusammenhalt, Gemeinsinn und Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere zählen.

Außerdem wurde den oberen Zehntausend eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Es war die Zeit von Maß und Mitte, in der es als unschicklich galt, Reichtum zur Schau zu stellen - vielleicht auch, weil das die Erzählung vom Verschwinden der großen Unterschiede gestört hätte. Verantwortung für das gemeinsame Ganze zu tragen, das hieß zum einen, seinem Beruf nicht nur des Geldes wegen nachzugehen, sondern etwas Nützliches zu leisten, auf das man stolz sein konnte. Wer diesen Wertekanon verinnerlicht hatte, wollte nicht einfach nur seine Arbeit machen, er wollte sie gut machen. Die Produkte, an deren Herstellung man beteiligt war, sollten sich nicht nur verkaufen lassen, es sollten auch gute Produkte sein. Hoch geschätzt wurden daher Professionalität, Gründlichkeit und Solidität. Diese Werte waren in der Arbeiterschaft, aber auch im Handwerk, bei Kleinunternehmern und im Mittelstand lebendig.

Was für das französische Nationalbewusstsein Jeanne d’Arc, die Französische Revolution und die Résistance waren, wurden für das deutsche das Wirtschaftswunder, ordentliche Ingenieurarbeit und Qualitätsprodukte, die weltweite Anerkennung genossen. Die Verantwortung für andere hatte aber noch eine zweite Seite, die vor allem von der Sozialdemokratie, aber auch von den Anhängern der katholischen Soziallehre innerhalb der Union betont wurde: die Verantwortung des Stärkeren für die Schwächeren. Ohne breite Akzeptanz dieser Sichtweise in den Mittelschichten wäre der Ausbau der gesetzlichen Sozialversicherungen und des progressiven Steuersystems kaum möglich gewesen.

Denn es war schon damals in erster Linie die Mitte und keineswegs die Oberschicht, die den Sozialstaat und die öffentlichen Aufgaben finanzierte.

Millionenfache Aufstiegserfahrung

Genau besehen war die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft" natürlich ein Mythos. Der Unterschied zwischen dem Lebensstandard eines ungelernten Arbeiters und dem der Wirtschaftseliten, deren Besitztümer Nazidiktatur und Weltkrieg vielfach unbeschadet überstanden hatten, war nach wie vor riesig, und es gab nicht nur unverändert großen Reichtum, sondern auch nach Jahren des Wirtschaftswunders immer noch viele Menschen, die sich nach der Decke strecken mussten und ziemlich arm waren.

Dass die Erzählung von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" dennoch so überzeugend wirkte, lag daran, dass im Deutschland der fünfziger bis siebziger Jahre beruflicher Aufstieg eine millionenfache Lebenserfahrung wurde und letztlich jeder in irgendeiner Form vom Wirtschaftswachstum profitierte, wenn auch einige mehr und andere weniger. Hintergrund dessen war, dass der Staat dem Gewinnstreben Regeln und Beschränkungen auferlegt hatte, dass er mit hohen Körperschaftsteuern und Spitzensteuersätzen aktiv in die Einkommensverteilung eingriff, durch ein Netz sozialer Leistungen Sicherheit gewährleistete und viele lebenswichtige Bereiche von Bildung und Wohnen über die Strom- und Wasserversorgung bis zu Krankenhäusern und Kommunikationsdiensten weitgehend aus der Logik von Profit und Kommerz herausgelöst hatte und in öffentlicher Regie anbot.

Die Aufstiegserfahrung bezog sich anfangs noch kaum auf die Möglichkeit für Kinder aus dem Arbeitermilieu, ein Gymnasium besuchen und studieren zu können. Diese Chance gab es für eine größere Zahl erst Ende der sechziger Jahre. Zunächst wesentlich prägender war die Möglichkeit, mit einer soliden Berufsausbildung und mehreren Jahren Berufserfahrung einen Lebensstandard zu erreichen, der Zugang zu den meisten Annehmlichkeiten der damaligen Konsumgesellschaft eröffnete, vom eigenen Auto über Fernseher und Waschmaschine bis zur Urlaubsreise.

Sicherheit durch Normalität

Eine wichtige Rolle spielte auch ein für viele völlig neues Gefühl sozialer Sicherheit. Die Normalbiografie machte das Leben planbar, das Normalarbeitsverhältnis garantierte allmählich steigende Löhne und vielfach auch eine berechenbare Karriere, die Normalfamilie mit der zumindest in Zeiten der Kindererziehung nicht berufstätigen Frau wurde erstmals auch für Arbeiter und einfache Angestellte erschwinglich. Und alle lebten in der Erwartung, dass es ihren Kindern dereinst noch besser gehen würde als ihnen selbst.

Öffentlicher Wohnungsbau und Eigenheimförderung, aber auch die Bereitstellung von Werkswohnungen sorgten zudem für sozial durchmischte Wohnviertel, in denen der Facharbeiter, der Postbeamte und der leitende Angestellte eines mittelgroßen Betriebs nicht selten Nachbarn in der gleichen Reihenhaussiedlung waren. Und während der Einfluss der Kirchen zurückging und die alte Vereinskultur mehr und mehr zerfiel, also wichtige Institutionen verschwanden, die vorher sozialdemokratische wie katholische Milieus konstituiert, aber auch voneinander abgegrenzt hatten, wurde jetzt der abendliche Fernsehkonsum zur wichtigsten das Denken und Fühlen prägenden Aktivität.

Fernsehen wiederum, das waren damals exakt zwei öffentlich-rechtliche Hauptprogramme, die - mit gewisser parteipolitischer Nuancierung - die gleichen Botschaften in die einfachen wie die komfortablen Wohnzimmer sendeten. Auch das trug sicher zu dem breit geteilten Gefühl bei: "Wir sind jetzt alle Mittelschicht." Insofern gab es zwar nie eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", aber es gab in allen westlichen Ländern eine Epoche, in der es tatsächlich für nahezu alle, und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärts ging. Sie endete in den achtziger Jahren.

Sahra Wagenknecht ist promovierte Volkswirtin, Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke und Autorin mehrerer Bücher. Von 2010 bis 2014 war sie Stellvertretende Parteivorsitzende, von 2015 bis bis 2019 Ko-Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Ihr neues Buch „Die Selbstgerechten: Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ ist diesen Monat im Campus-Verlag erschienen. Dieser Artikel ist eine Schlüsselpassage daraus.

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