Solidarität als Ideologie: Die "freie Welt" gegen "Putins Russland"

Seite 2: Die Freiheit in der Ukraine verteidigen

Die Solidarität ist einesteils symbolisch: Sie wird auf Massendemonstrationen, im Hissen der ukrainischen Flagge auf öffentlichen Gebäuden und ihrer Darstellung in Facebook-Profilen, im Teilen des Hashtags #StandWithUkraine – sogar auf U-Bahn-Fahrplänen – bekundet. Zahlreiche Institutionen und Unternehmen äußern öffentlich, dass sie den Kampf der Ukraine "für Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit" unterstützen. Die Solidarität ist aber auch materiell: In großer Anzahl engagieren sich Menschen in Spendenkampagnen, besorgen Medikamentenlieferungen, organisieren Flüchtlingstransporte.

Diese Solidarität hilft in ehrlicher Empathie den Menschen und ist zentral, um das Kriegsleid zu lindern. Zugleich ist sie etwas ganz anderes, denn sie ist nicht einfach nur durch die Empathie für das Leiden der Menschen motiviert, sondern weil die Ukrainer:innen zu "uns" gehören, weil Europa, und damit in gewisser Weise auch "wir selbst", angegriffen werden. Es sind ja diesmal "echte Flüchtlinge" (Marc Felix Serrao in der NZZ), anders als zum Beispiel bei den Tausenden, die bei der Flucht übers Mittelmeer ertrinken.

"Wir" sind mit der Ukraine solidarisch, weil "die Freiheit" bedroht ist. Die Solidarität mit den konkreten Menschen hebt sich von sich selbst ab und wird zu ihrem Gegenteil, zur Solidarität mit den abstrakten Ideen der Freiheit und der ukrainischen Nation, gleichgültig, wie es den Menschen dabei geht.

Dadurch ist die Solidarität zugleich sehr selektiv: Sie richtet sich nur an als "echte" Ukrainer:innen geltende Menschen, nicht an Migrant:innen in der Ukraine und schon gar nicht an Muslima und people of color. Diese Willkommenskultur ist reale Solidarität, ist aber als solche zugleich eine Willkommensideologie.

Zwar fängt diese Ideologie damit an, mit dem Leid der Menschen in der Ukraine zu empfinden. Aber daraus zieht sie den eigenartigen Schluss, dass "die Freiheit" in der Ukraine angegriffen wird und "wir" mithelfen müssen, sie zu verteidigen. Sie lädt das Leid der Ukrainer:innen mit der abstrakten Idee der Freiheit auf.

Die Solidarität mit den Ukrainer:innen ist daher zynisch: Es geht um die betroffenen Menschen nur insofern, als es um "die Freiheit" geht. Dabei ist diese "Freiheit" nur das freundliche Antlitz der kapitalistischen Klassenherrschaft im Westen und der imperialistischen Vorherrschaft des Westens über den Rest der Welt.

Diese Zweischneidigkeit zeigt sich auch daran, dass man zur Empathie verpflichtet wird. So hat Gregor Gysi Sahra Wagenknecht ihre Empathielosigkeit vorgeworfen. Wem man keine Empathie ansieht, der wird als empathielos verurteilt. Die Empathie wird damit aber eine zur Schau gestellte Betroffenheit, die wiederum etwas anderes bedeutet, nämlich, dass die Europäer:innen sich wechselseitig ihrer Sensibilität und ihres moralischen Edelmuts versichern. Wer moralisch integer ist, der spürt Empathie – was tatsächlich heißt: der stellt Empathie öffentlich aus, gleich, was daraus folgt und wem sie wirklich hilft, und gleich, ob er sie wirklich spürt oder nicht.

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