Solidarität als Ideologie: Die "freie Welt" gegen "Putins Russland"

Seite 3: Solidarität heißt Waffenlieferungen

Den militärischen Beistand hat die europäische Öffentlichkeit lange mit Nachdruck gefordert, bevor die Regierungen ihn in substanziellem Ausmaß beschlossen haben. Nun kann man mit vielen guten Argumenten gegen den militärischen Beistand sein, da er unter anderem die Gefahr eines Atomkriegs steigert.

Doch diesen Argumenten wird mit Fragen begegnet: Du bist gegen Waffenlieferungen? Willst du also den Menschen nicht helfen? Willst du die Leute in der Ukraine sterben lassen? Soll es Schule machen, dass man sein Nachbarland überfallen kann, wenn einem die dortige Regierung nicht gefällt?

Es sind rhetorische Fragen, die keine Alternative zulassen. Man kann ja nicht antworten: Ja, ich will, dass die Leute sterben. Diese Fragen lassen nur eine einzige Antwort zu und sind daher vorweg schon entschieden: Solidarität heißt, Waffen zu liefern, eine Flugverbotszone einzurichten und die Ukraine in EU und NATO aufzunehmen. Die Ideologie setzt Solidarität also mit militärischem Beistand gleich und duldet keine Alternativen dazu.

Was aber, wenn die Waffenlieferungen gar keine Menschenleben retten, sondern nur das ukrainische Militär dazu befähigen, die militärische Auseinandersetzung gegen die russische Übermacht in die Länge zu ziehen? Um der Unabhängigkeit der ukrainischen Nation willen – eines ideologischen Konstrukts – und um der Souveränität des ukrainischen Staats willen – eines repressiven Herrschaftsapparats mit einer rechtsliberalen und sich offen faschistischer Kräfte bedienenden Regierung – ist diese merkwürdige Solidarität bereit, zig Menschenleben zu opfern.

Man kann – wenn man eine Beziehung zu Waffenlieferungen an progressive Bewegungen wie die kurdische Autonomie herstellt – diskutieren, ob es staatsunabhängige Milizen gibt, an die Waffenlieferungen gehen könnten, oder inwieweit gezielte Waffenlieferungen an bestimmte gesellschaftliche Gruppen Leben oder Infrastruktur schützen könnten, auch, inwiefern unter gegenwärtigen Bedingungen solche Lieferungen am ukrainischen Staat vorbei überhaupt möglich sind. Aber um solche Feinheiten geht es dieser ideologischen Solidarität gar nicht, eben weil es ihr um Staat und Nation geht. Wer gegen den militärischen Beistand ist, dem wird sogleich vorgeworfen, ein Helfershelfer Putins zu sein und den Krieg mitzuermöglichen.

"Durch nichts zu rechtfertigen"

Russland sei nämlich auf Gedeih und Verderb zu verurteilen. Nicht für den Angriff, sondern überhaupt. Das wird seither auf breiter Ebene praktisch durch Beziehungsabbrüche und Russenhass auch getan.

Eine Vielzahl von Konzernen und zivilgesellschaftlichen Institutionen hat ihre Kooperationen mit russischen Akteuren abgebrochen. Aus der Bevölkerung heraus werden Russ:innen körperlich angegriffen, russische Waren boykottiert, die Behandlung russischer Patient:innen abgelehnt.

Unternehmen, Zivilgesellschaft und Bevölkerung werden hier also kollektiv politisch aktiv und meinen, so an den Sanktionen gegen Russland teilzunehmen. Dass sich diese "Sanktionen" gar nicht gegen den russischen Staat richten, sondern die russische Gesellschaft treffen, die man andererseits als "russisches Volk im Widerstand gegen den Autokraten Putin" glorifiziert, dieser Widerspruch kümmert da nicht weiter.

Was diese "Sanktionen" daher tatsächlich vollbringen können, sind eher antiwestliche Ressentiments in Russland und ein Zusammenrücken des "Volkes" mit der Staatsführung als ein Einlenken derselben in der Kriegsfrage.

Weil der Abbruch solcher Kooperationen offensichtlich kaum eine solche Wirkung auf die Kriegsfrage zeitigen wird, kann diese nur ein vordergründiges Motiv darstellen. Eigentlich geht es um Moral: Es gehört sich nun mal nicht, bei Russen zu kaufen oder mit Russen zu tun zu haben.

Die Wucht dieser Moral bekommt zurzeit auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder zu spüren. Man muss diesen Menschen, der den ersten Krieg der Bundeswehr und Hartz IV zu verantworten hat, nicht mögen. Aber es lag sicher nicht in seiner Absicht, dass Russland in der Ukraine einmarschiert. Eigentlich geht es in der Kampagne gegen ihn (unter anderem ein mittlerweile angestrengtes Parteiordnungsverfahren) um Kontaktschuld: Gerhard Schröder gehört zu den Bösen, weil er mit ihnen befreundet ist. Dass Millionen deutsche Haushalte weiterhin mit russischem Gas heizen, scheint da nicht weiter aufzufallen.

Versucht man, Russland nicht einfach zu verurteilen, sondern sein Handeln aus seinen Interessen heraus zu erklären – und verweist dabei auch auf das vorherige Handeln der NATO, durch das sich Russland bedroht sah –, so wird man als "Putin-Versteher" zur Rechenschaft gezogen. Man rechtfertige Putins "durch nichts zu rechtfertigenden" Angriffskrieg. Das Anliegen, in friedenspolitischer Absicht nach einer Erklärung zu suchen, wird nicht als Erklärung, sondern als Rechtfertigung wahrgenommen – und damit als unverzeihlicher moralischer Lapsus.

Warum kann diese Erklärung nur durch die moralische Brille wahrgenommen werden? Weil in ihr das Handeln der NATO zu den Vorbedingungen des russischen Angriffs gerechnet wird. Doch die NATO ist innerhalb der aktuellen Ideologie per definitionem das Verteidigungsbündnis der freien Welt. Sie habe in ihr keine imperialistischen Interessen, sondern verteidige die Menschenrechte und die Freiheit.

"Die NATO hat Putin nie bedroht", sagte Friedrich Merz im Bundestag. Es ist der Kern "unserer" kollektiven Identität, dass der Westen und damit die NATO eben nicht imperialistisch, sondern nur im Namen der Freiheit und des Friedens agiere. Ausgerechnet den Linken und den friedenspolitisch Aktiven wird hier die Mitschuld für den Krieg aufgeladen, und nicht denjenigen Hetzern im Westen, die die NATO unbedingt bis auf die Ukraine ausdehnen wollen und schon seit Monaten gegen Russland ideologisch mobil gemacht haben.

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