Solidarität als Ideologie: Die "freie Welt" gegen "Putins Russland"

Seite 4: Ein neuer Burgfrieden?

Empathie und Solidarität wurden nach Kriegsbeginn nicht nur mit ihrem Gegenteil aufgeladen, sondern bald auch tatsächlich etwas anderes, nämlich ein Instrument für die ideologische Mobilisierung für die Aufrüstung Deutschlands und die Einstimmung auf mögliche zukünftige Kriege der NATO mit Russland. Am 27. Februar, nur drei Tage nach dem Angriff, hatte die Bundesregierung die erhebliche Aufrüstung der Bundeswehr beschlossen, durch die sie das drittstärkste Militär der Welt werden wird.

Es sind wieder rhetorische Fragen, durch die das alles legitimiert wurde: Du willst der Ukraine wirksam helfen? Also musst du sie militärisch supporten. Das können wir im Augenblick aber nicht. Du willst Deutschland und die Freiheit in Deutschland verteidigen? Auch das können wir nicht. Also müssen wir uns wehrfähig machen und aufrüsten.

Unmittelbar nach Kriegsbeginn hat sich in Deutschland ein politischer Wille entwickelt, der durch alle politischen Lager (außer vielleicht der Linkspartei) hindurchging und die Parteien sofort über ihre politischen Differenzen hinwegsehen ließ. Die größte Oppositionspartei CDU hat sofort erklärt, die Regierung bei dem gigantischen Aufrüstungsprogramm von 100 Milliarden Euro, einem zusätzlichen militärischen Sonderetat, zu unterstützen. Ihr Vorsitzender Friedrich Merz erklärte, er werde da "nicht im Kleinen herummäkeln".

Das erinnert unselig an Kaiser Wilhelms II. "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!" zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist in gewisser Hinsicht ein solcher politischer Burgfrieden. Allerdings stimmt die historische Analogie nur ungefähr: Der Burgfrieden betraf damals ja vor allem die SPD in der Opposition, die zuvor internationalistisch und auf Überwindung des Kapitalismus und damit auch der kaiserlichen Herrschaft ausgerichtet war.

Von der CDU war dagegen eher nicht zu erwarten, dass sie sich gegen Aufrüstung einsetzen werde. Darüber hinaus ging es beim Burgfrieden um den Kriegspatriotismus Deutschlands, in der jetzigen Ideologie geht es um den militärischen Beitrag der europäischen Staaten zur NATO, sie ähnelt daher eher der Ideologie des Kalten Kriegs und der Ideologie des "Clash of Civilizations" zwischen Islam und Abendland: hier die moralisch erhabene freie Welt, dort der dämonische Widersacher Russland.

Doch gerade diese Aufrüstung dreht an der Rüstungsspirale und steigert die Kriegsgefahr ungemein; sie ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Hochkonjunktur der prowestlichen Ideologie liefert dieser brandgefährlichen Politik eine von rechts bis links reichende lärmende Massenbasis.

Auch wenn dieses Spektakel so laut tönt, so dicht ist, dass mäßigende, warnende Stimmen gegen den Krieg schon jetzt nur mehr schwer dagegen ankommen, ist es dennoch das Gebot der Stunde, sich jetzt antimilitaristisch zu organisieren, um dies dennoch zu schaffen.

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