Soziologie als "Kampfsport"

Der Soziologe Stephan Lessenich über Charles Wright Mills und die "Soziologische Phantasie"

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Eine Wissenschaft, die nur zum ihren Selbstwillen praktiziert wird und nicht bereit ist, sich mit den konkreten Problemen der Menschen ernsthaft auseinanderzusetzen, war dem US-amerikanischen Machtstrukturforscher Charles Wright Mills ein Dorn im Auge (Journalismus: Scheuklappenrealismus über Ländergrenzen hinweg). Er war einer jener Wissenschaftler, die ähnlich dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu (Staatskritik, symbolische Macht und Herrschaftsverhältnisse), die Soziologie als eine Art Kampfsport betrachtet und betrieben hat. Beide haben mit den "Waffen" der Soziologie interveniert und gesellschaftliche Missstände freigelegt und kritisiert. Im Telepolis-Interview geht Stephan Lessenich vom Institut für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München auf eines der Hauptwerke von Mills ein, das nun wieder auf dem deutschen Markt in neuer Übersetzung erhältlich ist.

Das Buch mit dem Titel "Soziologische Phantasie", das der US-amerikanische Soziologe Charles Wright Mills 1959 veröffentlichte, kann man als einen Rundumschlag betrachten. Ohne Zurückhaltung setzt sich Mills, der durch seine Theorie der Machtelite bekannt wurde, mit seiner Disziplin kritisch auseinander. Mills wagt mit seinen "soziologischen Phantasien" einen Angriff nach "innen", auf sein eigenes Fach. Er nimmt sich sowohl die Theoretiker wie auch die Empiriker seiner Zeit vor und entlarvt Zug um Zug eine Gesellschaftswissenschaft, die, obwohl sie die gesellschaftlichen Verwerfungen so nah vor Augen hat, doch immer wieder auch an ihnen - aus oft fragwürdigen Gründen - vorbei schaut.

Mit "Sociological Imagination" , wie der Titel im Original heißt, hat Mills ein Buch, das für alle Sozialwissenschaftler, die sich vor einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Disziplin nicht scheuen, ein Muss ist - auch wenn es bereits über ein halbes Jahrhundert alt ist.

Obwohl Mills, wie er in "The Power Elite" gezeigt hat, soziologische Texte geradezu mit schriftstellerischer Qualität verfassen konnte, kann einem "Soziologische Phantasie" bisweilen etwas trocken vorkommen. Doch die Lektüre lohnt. Immer wieder lassen sich auch für diejenigen, die nicht in den Gesellschaftswissenschaften beheimatet sind, aber mit einem kritischen politischen Auge durch die Welt gehen, darin "Gedankenperlen" finden. Alleine schon die Begriffe, mit denen Mills ohne Umschweife benennt, was er wahrnimmt, haben ihren Reiz und lassen erahnen, was den Leser des Buches erwartet. Geradeaus spricht Mills etwa von einer "professionellen Unfähigkeit", die bei den Angehörigen bestimmter Berufsgruppen anzutreffen sei. Er spricht von "Begriffsklempnern", "Gutwettermoralisten" oder von "munteren Idioten", eine Rolle, die bisweilen Sozialwissenschaftlern zugesprochen werde, da man zu oft von ihnen erwarte, dass am Ende ihrer Forschung gefälligst ein positiver Ausblick zu stehen habe.

Das "konstruktive Programm" oder dem "hoffnungsvollen Ton" in den Vordergrund zu schieben, ist für Mills "oft ein Zeichen für die Unfähigkeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken, auch wenn sie ausgesprochen unerfreulich sind". Aussagen wie diese sind es, die mit dazu beitragen, dass Mills' Werk bis in die Gegenwart reicht.

Das Buch "Soziologische Phantasie", das Charles Wright Mills vor über 57 Jahren verfasst hat, ist eine ziemlich schonungslose Auseinandersetzung mit seiner Disziplin. Nun haben Sie es zusammen mit Rahel Jaeggi und Hans-Peter Müller neu herausgegeben. Was hat Sie dazu gebracht?
Stephan Lessenich: Ich hatte das Buch schon einmal während meines Studiums in den 1980er Jahren in der Hand, es aber dann eigentlich erst wieder Anfang 2009 entdeckt, als ich gemeinsam mit Klaus Dörre und Hartmut Rosa an dem Schlusskapitel unseres gemeinsamen Buches "Soziologie - Kapitalismus - Kritik" saß. Da feierte es gerade 50. Geburtstag - und ich war verblüfft, wie aktuell viele seiner Diagnosen waren, als gesellschaftliche Zeitdiagnosen wie auch als Diagnosen des Zustands der Soziologie oder allgemeiner der Sozialwissenschaften.
Allerdings fiel mir dabei auch auf, wie schwer und manchmal auch seltsam sich die deutsche Fassung von "The Sociological Imagination", die 1963 bei Luchterhand erschienen war, las. Ich griff daher zum amerikanischen Original und entschied, mich bei erstbester Gelegenheit für eine Neuübersetzung einzusetzen - was im Rahmen unserer Reihe "Edition Theorie und Kritik" bei Springer VS nun erfreulicherweise geklappt hat. Der Band enthält übrigens auch ein Nachwort des Göttinger Kollegen Oliver Römer, der die an sich sehr interessante Geschichte der deutschen Erstübersetzung rekonstruiert hat.
Dann ähnelt Soziologische Phantasie einem anderen Werk von "Mills: The Power Elite" bzw. auf Deutsch: "Die US-amerikanische Machtelite". Auch dieses weist in der deutschen Übersetzung so seine Probleme auf, aber, und das ist nun zentral: Auch Mills‘ The Power Elite ist auch heute noch, also 60 Jahre nach seiner Veröffentlichung in weiten Teilen aktuell. Zunächst einmal ganz allgemein die Frage: Wie gelingt es einem Soziologen, eine Arbeit auf die Beine zu stellen, die so weitreichend ist, dass sie auch über ein halbes Jahrhundert später für die Gegenwartsproblematik von Relevanz ist? Oder, anders gefragt: Was wissen Sie über Mills? Was für ein Mensch war er?

Mills war ein Verrückter

Stephan Lessenich: Nun, das sind ja gleich mehrere Fragen. Was Mills' Persönlichkeit angeht, so muss man wohl sagen, dass er ein Verrückter war: verrückt nach der Soziologie, verrückt nach Erkenntnis, Einsicht und Aufklärung, aber darin auch arbeitswütig ohne Grenzen und ohne Rücksicht auf Verluste, auch was seine eigene Gesundheit anging. Nicht umsonst ist er keine 50 geworden.
Er ist bereits im Alter von 45 an einem Herzinfarkt gestorben.
Stephan Lessenich: Ja. Man muss sich ihn jedenfalls wohl als jemanden vorstellen, der voll und ganz für die Wissenschaft lebte - bzw. für eine bestimmte Weise, Sozialwissenschaft zu betreiben. An "Soziologische Phantasie" soll er über einige Monate hinweg wie im Rausch, Tag und Nacht, geschrieben haben. Aber Arbeitswut und Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst machen natürlich noch keinen guten Soziologen aus. Mills gelang es tatsächlich, Strukturmerkmale der Gesellschaft seiner Zeit zu sehen und kenntlich zu machen, z.B. ihre politischen Herrschaftsverhältnisse oder die Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit, die sich auch heute noch erkennen lassen, die nach wie vor wirksam sind und die Lebensschicksale der Menschen bestimmen. Allerdings gehören zu guter Gesellschaftsdiagnose auch immer zwei: der oder die Diagnostiker/in und die Gesellschaft.
Was meinen Sie damit?
Stephan Lessenich: In gewisser Weise kam Mills auch die gesellschaftliche Zeit zugute, in der er schrieb: am Ausgang des Zweiten Weltkrieges, zu Beginn von Jahrzehnten relativer weltgesellschaftlicher Stabilität - was zur fortdauernden Gültigkeit seiner Beobachtungen beigetragen hat. Und dennoch: Danach kamen noch die Implosion des Staatssozialismus, die kapitalistische Globalisierung und 9/11 - trotz all dieser gesellschaftlichen Umbrüche haben seine Arbeiten in gewisser Hinsicht etwas Zeitloses.
Mills zielt in Soziologische Phantasie vor allem auf die Großtheorien in der Soziologie, aber auch den abstrakten Empirismus. Damit dürften viele, die nicht aus der Gesellschaftswissenschaft kommen, kaum etwas anfangen können. Klären Sie uns doch bitte mal auf: Was sind "Großtheorien" in der Soziologie? Und warum kritisiert Mills diese so klar?
Stephan Lessenich: Die - will heißen: DIE - soziologische Großtheorie zu Mills' Zeiten war der sogenannte Strukturfunktionalismus, für den als Großtheoretiker der US-Soziologe Talcott Parsons stand. Diese Theorie hatte den Anspruch, Struktur und Dynamik der modernen Gesellschaft umfassend und gewissermaßen universell erklären zu können. Ihre Grundannahmen bestanden darin, dass Gesellschaften Systeme sind, die sich ihrer Umwelt anpassen müssen - bei Strafe ihres Untergangs, wenn ihnen dies nicht gelingt.
Im historischen Entwicklungsprozess setzen sich also diejenigen Gesellschaften durch, die besonders anpassungsfähige - und in diesem Sinne "funktionale" - Strukturen entwickeln: Strukturen der Organisation des Wirtschaftens, der Ermöglichung und Begrenzung sozialer Ungleichheit, der Durchsetzung politischer Entscheidungen. Parsons entwickelte ein gigantisches, komplexes Theoriegebäude, das für sich in Anspruch nahm, letztlich "alle" gesellschaftlichen Phänomene kategorisieren und erklären zu können. Und die übrigens auch offenkundige politische Implikationen hatte: Was Parsons bei der Formulierung seiner Theorie "der" modernen Gesellschaft vor Augen stand, war das US-amerikanische Gesellschaftsmodell, das damit auf eine Weise auch zum Vorbild gesellschaftlicher Funktionalität wurde: Was dort real war, galt - überspitzt gesagt - auch als gut. Und als Entwicklungsmodell für alle noch nicht "modernen" Gesellschaften, in der (damaligen) Zweiten wie Dritten Welt.
Mills' Kritik an Parsons ist geradezu vernichtend. Und sie betrifft nicht nur den Anspruch, eine allgemeine - und damit letztlich auch überhistorische - Theorie der Gesellschaft zu entwickeln. Sondern auch die Abgehobenheit der Parsonschen Theoriesprache. Also nicht nur den Inhalt, sondern auch die Form des Denkens - was bei Parsons eng beieinander lag.

Mills saß zwischen allen Stühlen

Was ist unter "abstraktem Empirismus" zu verstehen? Und: Was stört Mills daran?
Stephan Lessenich: Parallel zum akademischen Erfolg von Parsons und seiner Theorie vollzog sich in der amerikanischen Soziologie der Nachkriegszeit der Aufstieg der empirischen Sozialforschung, also der auf statistische Methoden gestützten, quantifizierenden Untersuchung sozialer Sachverhalte. Hier spielten insbesondere die Wahlforschung und die Einstellungsforschung eine große Rolle - das, was heute "Meinungsforschungsinstitute" privatwirtschaftlich betreiben und was gesellschaftlich wie politisch ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfährt. Mills sah in dieser Art soziologischen Arbeitens eine ganze Reihe von Gefahren.
Nämlich?
Stephan Lessenich: Zum einen die, dass sich die Forschenden in kleinteiligen, aktualistischen Fragestellungen verlieren - "Was würden Sie wählen, wenn am Sonntag Bundestagswahlen wären?" - und ihnen größere gesellschaftliche und historische Zusammenhänge aus dem Blick geraten. Dann, dass sie zu reinen "Datentechnikern" werden, die sich mehr für das Raffinement ihrer Methoden interessieren und faszinieren als für die sozialen Sachverhalte, die mit deren Hilfe erforscht werden sollen - dass ihnen also ihre Mittel zum Zweck geraten. Schließlich auch, dass sie zu bloßen Informationslieferanten für Politik und Verwaltung degradiert werden - oder dass sie ihre Wissenschaft zum Geschäft machen und Datenanalysen für privatwirtschaftliche Auftraggeber zu ihrer Hauptbeschäftigung wird.
Der US-amerikanische Soziologe Michael Burawoy hat vor einigen Jahren die Unterscheidung von "professional sociology" und "policy sociology" getroffen - dass die Soziologie zur Politikberatungswissenschaft werde, war die Befürchtung von Mills. Oder besser gesagt das, was er zu seiner Zeit im Gange sah.
Mit dieser Sichtweise dürfte Mills in seiner Disziplin ziemlich angeeckt sein, oder?
Stephan Lessenich: Allerdings. Auf eine Weise saß Mills zwischen allen Stühlen - oder setze sich genussvoll genau dorthin: Er kritisierte die reinen Theoretiker nicht minder scharf als die bloßen Empiriker seiner Profession, die "Meisterdenker" ebenso wie die "Erbsenzähler" - und macht sich damit die einen wie die anderen zu Feinden. Oder jedenfalls nicht zu seinen Freunden. Dazwischen oder daneben blieb dann nicht mehr viel bzw. blieben nicht mehr viele. Man mag auch sagen, dass diese Kritik arrogant war. Sicher war sie in Teilen überzogen oder wenigstens zugespitzt. Aber sie traf doch auch einen richtigen Punkt: Dass Theorie häufig ohne empirische Bodenhaftung betrieben wurde und Empirie ebenso häufig ohne theoretischen Anspruch, war genau das Problem, das Mills aufs Korn nahm. Gute Soziologie verbindet beides, setzt beides zueinander in Beziehung.
Nun war Mills durch und durch ein politischer Soziologe. Mills, das wird in vielen seinen Werken deutlich, verschloss die Augen vor den Problemen, vor denen seine Gesellschaft, aber auch die einzelnen Menschen in ihr stehen, nicht. Im Gegenteil: Er war ein Soziologe, den man mit Pierre Bourdieu vergleichen könnte, also einer, der mit den Waffen der Wissenschaft "intervenierte", indem er in seiner Arbeit Missstände klar benannte und dabei sich auch nicht scheute, quasi unhinterfragbare Glaubenssätze kritisch zu beleuchten. Was sollte aus ihrer Sicht eine kritische Soziologie leisten? Fehlt es an Wissenschaftlern wie Mills?
Stephan Lessenich: Gute Wissenschaftler - und Wissenschaftlerinnen - kann es nie genug geben. Und solche, die einen kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit richten, auch nicht. Sicher ist es immer auch problematisch, einzelne Personen zu überhöhen - oder kulturkritisch zu behaupten, "früher" sei alles besser gewesen, u.a. eben die Wissenschaft kritischer oder die kritischen Geister größer.
Davon abgesehen aber zeichnete sich Mills tatsächlich durch etwas aus, das man soziale Empathie nennen könnte: Wenn er "soziologische Phantasie" als die Deutung individueller Probleme im Lichte gesellschaftlicher Phänomene verstand, dann sprach er sich dafür aus, die Leute - die berühmten "ganz normalen Menschen draußen auf der Straße" - wissenschaftlich nicht allein zu lassen, sondern Wissenschaft, vielleicht etwas unangemessen pathetisch gesagt, "für die Menschen" zu machen. Das bedeutet aber nichts anderes, als den Gebrauchswert von Soziologie herauszustellen. Sie kann das gesellschaftliche - individuelle wie kollektive - Bewusstsein dafür schärfen, dass das, was wir alltäglich erleben, was uns widerfährt, sei es nun die Suche nach einem Ausbildungsplatz oder der Übergang in die Rente, die Geburt eines Kindes oder die Scheidung einer Ehe, nicht nur etwas bloß "Individuelles" ist, sondern immer auch Teil des gesellschaftlichen Geschehens: durch dieses beeinflusst und auf dieses Einfluss nehmend, wie gering und unerkannt dieser Einfluss zunächst auch sein mag.
Insofern war Mills' Soziologie einfach nah dran am gesellschaftlichen Geschehen - ohne aber die analytische Distanz aufzugeben und einfach nur den Deutungen der Leute eine Stimme zu geben. Das macht meiner Einschätzung nach kritische Soziologie aus: gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse offenzulegen und Spielräume für kleine Freiheiten innerhalb derselben aufzuzeigen. Insofern ist der Vergleich mit Bourdieu durchaus passend: Beide verstanden sich als intervenierende Wissenschaftler, und beide praktizierten Soziologie als - wie Bourdieu sich ausdrückte - "Kampfsport".
Mills spricht in "Soziologische Phantasie" sinngemäß von "Hebeln" in Gesellschaften, mit denen man Strukturen verändern oder aber beibehalten könne. Er spricht von Akteuren, deren gesellschaftliche Position es ihnen erlaube, zu "intervenieren", also den "Hebel" zu ergreifen, oder aber es eben sein zu lassen. Hier wird deutlich, dass Mills sich nicht davor scheut, sozusagen "runter" zur Ebene der Subjekte zu gehen. Ist es nicht bemerkenswert, wie es Mills gelang einerseits den Blick auf die Strukturen und die komplexen Mechanismen einer Gesellschaft zu richten, andererseits aber auch nie die konkret handelnden Akteure aus den Augen verloren hat. Oder sehen Sie das anders?
Stephan Lessenich: Nein, ich sehe das genauso. Und dass es bemerkenswert erscheint, liegt wohl tatsächlich daran, dass eben dies in der Soziologie nicht unbedingt die Regel war und ist. Zwar ist die Vermittlung von Struktur und Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen gewissermaßen der eigentliche Gegenstand der Soziologie, aber dass beides wirklich zusammengedacht und zusammen erforscht würde ist halt doch eher selten der Fall.
Mills hat immer deutlich gemacht, dass es in Gesellschaften um Macht geht - und das Macht ungleich verteilt ist bzw. die einen mit ihren Entscheidungen oder den von ihm und Ihnen benannten "Hebeln" Dinge in Bewegung setzen oder zum Halten bringen können, mit deren Bewegung oder Halt sich andere auseinandersetzen und "irgendwie" einen Umgang finden müssen. Mills war ganz auf der Linie von Marx, wenn dieser sagte, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber unter vorgefundenen und von ihnen nicht frei zu bestimmenden Bedingungen. Und Mills wies darauf hin, dass wie schon zu Marx' Zeiten manche Menschen freier sind, die Bedingungen ihres Handelns zu bestimmen, als andere. Darauf hinzuweisen und die Umstände zu benennen, unter denen es zu dieser ungleichen Freiheit kommen kann und unter denen sie aufrechterhalten werden kann, ist eine Aufgabe der - kritischen - Soziologie.
Kann es sein, dass die Soziologie sich vielleicht auch deshalb so schwer mit diesem Spagat zwischen der notwendigen theoretischen Abstraktion einerseits und einer klaren Herausarbeitung von Problemen und politischen Fehlentscheidungen, also: Ross und Reiter zu nennen, tut, weil sie selbst nicht frei von "Herrschaftseinflüssen" ist?
Um einmal Mills zu zitieren. Er schreibt, "dass ein Großteil der neueren politischen Wissenschaft zwar nicht zum Verständnis wichtiger politischer Realitäten beiträgt, aber viel zur wissenschaftlichen Schönrednerei der Politik und ihrer Fehler". Und Mills weiter dazu: "Ich möchte ... den Leser daran erinnern, dass die Sozialwissenschaft ihrer Relevanz für bürokratische Routinen und ideologische Zwecke nicht ausweichen kann, dass die Vielfalt und Konfusion der heutigen Sozialwissenschaften auch etwas mit diesem Sachverhalt zu tun hat und dass man die politischen Konnotationen der Sozialwissenschaften besser aufdecken als sie weiterhin verschleiern sollte." Solche Aussagen muss man erst einmal sacken lassen, oder?
Stephan Lessenich: In der Tat. Soziologie hat ja grundsätzlich ein Nähe-Distanz-Problem, weil sie ja ein Teil dessen ist, was sie in den Blick nimmt, erforscht und kritisch befragen will: die Gesellschaft. Diese enge und letztlich nicht ganz auflösbare Verflechtung der Soziologie mit ihrem Gegenstand muss durch eine besondere Reflexivität der Soziologie gegenüber ihrer eigenen Forschungspraxis konterkariert werden.
Was die Soziologie aber ja auch durchaus tut.
Stephan Lessenich: Ja, das muss man an dieser Stelle auch einmal sagen: Kaum eine Wissenschaft hat diese Selbstreflexion - manchmal bis zur Selbstzerfleischung oder zur unproduktiven Nabelschau - so breit und intensiv betrieben wie die Soziologie.
Ich würde behaupten, dass etwa die Politikwissenschaft oder auch die Geschichtswissenschaft der Gefahr der Politik- bzw. Staatsnähe, wie Mills sie beschrieben hat, noch sehr viel unmittelbarer ausgesetzt sind als die Soziologie. Und ehrlich gesagt sieht man das auch immer wieder - viele politikwissenschaftliche Analysen sind bloße Dopplungen der Selbstbeschreibungen der Politik (man beobachte nur mal die "Wahlanalysen" der TV-Politologen), und zu Historikerkongressen kommt regelmäßig die politische Elite zwecks Grußworten angereist - bei Soziologiekongressen überlegen sich die Oberbürgermeister der ausrichtenden Universitätsstadt, ob nicht doch der Termin beim Taubenzüchterverein wichtiger sein könnte. Und trotzdem: Die "Herrschaftseinflüsse" - und seien es nur die in stillschweigender Vorwegnahme selbstgetätigten - sind auch in der Soziologie allgegenwärtig und nicht zu verleugnen.
Mills findet in seiner "Soziologischen Phantasie" auch ein paar sehr klare Worte über die jungen Wissenschaftler seiner Zeit. Damit der Leser eine Vorstellung hat, wie deutlich Mills seine Kritik vortrug, zitiere ich an dieser Stelle einen längeren Abschnitt:
"Selten habe ich bei einem dieser jungen Leute, wenn sie erst einmal richtig dazugehören, Anzeichen von echtem intellektuellen Zweifel entdeckt. Und niemals habe ich bei ihnen ein leidenschaftliches Interesse an einem wichtigen Problem gesehen, jene Art von Neugier, die den Geist zwingt in alle Richtungen zu wandern, alle Mittel zu nutzen und, wenn nötig, ganz neu anzusetzen, bloß um etwas herauszubekommen. Die jungen Leute sind weniger unruhig als methodisch, weniger phantasievoll als geduldig; sie sind aber vor allem in jedem historischen und theologischen Sinn des Wortes dogmatisch... ich bin überzeugt, dass diese Eigenschaften bei den Forschungstechnikern des abstrakten Empirismus besonders ausgeprägt sind...
Aber wenn ein junger Mensch erst einmal drei oder vier Jahre mit diesen Dingen verbracht hat, kann man mit ihm wirklich nicht über die Probleme bei der Erforschung moderner Gesellschaften reden. Seine Position und seine Karriere, sein Ehrgeiz und schon sein Selbstwertgefühl beruhen weitgehend auf dieser einen Perspektive, diesem einen Vokabular, diesem einen Set von Techniken. Er kennt buchstäblich nichts anderes. Bei einigen dieser Nachwuchskräfte ist die Intelligenz von der Persönlichkeit abgespalten und wird von ihnen als eine Art wohltrainiertes Zubehör angesehen, das sich hoffentlich gut verkaufen lässt. In einer humanistischen Perspektive gehören diese Leute zu jenen geistig Verarmten, aus deren Wertekanon alles ausgeschlossen ist, was sich aus dem Respekt für menschliche Vernunft ergibt. Sie sind Teil jener dynamischen und ehrgeizigen Technikerzunft, der ein zerrüttetes Bildungswesen und korrumpierende Karrierechancen den Weg zur soziologischen Phantasie versperren. Man kann bloß darauf hoffen, dass viele von denen, die es zu einer außerplanmäßigen Professur bringen, dank irgendeiner geistigen Mutation zu der Einsicht gelangen, dass sie nun nicht mehr von Kaisern ohne Kleider abhängen." Würden Sie diesen Abschnitt bitte einmal kommentieren?
Stephan Lessenich: Nun, ich würde dazu zweierlei sagen. Zum einen: Man spürt hier geradezu Mills' Zorn über den akademischen Betrieb seiner Zeit - und darin ist er sicher auch ungerecht, verallgemeinernd und verletzend. Ich halte generell wenig davon, die jeweils nachfolgenden Generationen als wahlweise unpolitisch, unkritisch oder un-was-auch-immer zu schelten - manchmal hat das mit mangelndem Einblick in die tatsächlichen sozialen Praktiken innerhalb dieser Generationen zu tun, in jedem Fall atmet es aber immer auch den Geist der Selbstgerechtigkeit.
Zum anderen aber steckt auch hier, gerade wenn man die gegenwärtigen akademischen Verhältnisse beobachtet, sicher viel Richtiges drin. Nehmen wir nur die Figur der "korrumpierenden Karrierechancen": Jeder, der oder die sich im universitären Betrieb der Gegenwart auskennt, wird damit etwas anfangen können - auch in der Soziologie. Die institutionalisierten akademischen Karrierewege und die mittlerweile allgemein oder jedenfalls weit akzeptierten "Exzellenz"-Indikatoren - von den Veröffentlichungen in bestimmten Journalen bis zum Forschungsaufenthalt an den richtigen Einrichtungen - führen zu einer Standardisierung und Normalisierung, zu einem Mainstreaming des Wissens und der Wissenspräsentation, die schon bemerkenswert sind - und in deren Rahmen eine Soziologie und soziologische Intervention, wie sie Mills vorschwebten, eigentlich keinen Platz haben. Der muss heute daher immer auch gegen die Konventionen und Konkurrenzen des akademischen Betriebs erkämpft werden. Kein leichtes Unterfangen.
Nun einmal von den angehenden Soziologen abgesehen: Wie zur Zeit in der Mills lebte, gibt es auch heute viele gesellschaftspolitische Probleme, die es doch erforderlich machen, dass sich auch jene mit einer etwas lauteren Stimme Gehör verschaffen müssten, die aufgrund ihres speziellen Blicks, aufgrund ihres Wissens über "die Gesellschaft", eigentlich auch etwas sagen könnten. Aber wo sind die kritischen politischen Soziologen? Wo sind ihre hörbaren "Interventionen"?
Stephan Lessenich: Naja, ich finde, da ist das Glas durchaus halb voll. In den letzten Jahren ist eine "kritische" bzw. sich selbst explizit als kritisch positionierende Soziologie doch deutlich hoffähiger geworden - ein Begriff, der aber gleichzeitig auch das Problem und die Grenzen ihrer Wirksamkeit deutlich macht. Kritische politische Soziologen sind im Aufschwung, aber häufig eben am Rande oder jenseits der breiteren öffentlichen Aufmerksamkeit - in Zirkeln und Publikationsorganen, die nicht ins Zentrum der gesellschaftlichen Wahrnehmung reichen. Übrigens gilt dies auch und gerade für die - altväterlich ausgedrückt - "jüngere Generation".
Wo kritische Soziologen und Soziologinnen es doch zu etwas mehr Prominenz und in die Mitte des politischen Diskurses schaffen, da drohen ihre Positionen natürlich auch gleich wieder abgeschliffen zu werden - das ist ein ewiges Dilemma, dem kaum zu entkommen ist. Und dennoch: Meines Erachtens steht es um die kritische politische Soziologie hierzulande nicht so schlecht, wie dies für gewöhnlich behauptet wird und wie diese es sich interessanter- und paradoxerweise selbst zuschreibt.
Nehmen wir doch mal ein konkretes Beispiel. Seit längerer Zeit können wir an Wahlergebnissen ablesen, dass "etwas nicht stimmt". Wir beobachten, dass die sogenannten Volksparteien immer mehr Wähler verlieren, dass regelrechte Wählerwanderungen stattfinden und dass neue Parteien, die eben noch gar nicht existierten, es mehr oder weniger aus dem Stand in die Parlamente schaffen. Was sagt dazu der politische Soziologe in Ihnen?
Stephan Lessenich: Er sagt, mit Mills: Da werden individuelle Probleme - die Wahrnehmung von persönlichen Bedrohungen etwa durch Zuwanderung - nicht mit gesellschaftlichen Phänomenen in Verbindung gebracht: der Migrationspolitik Deutschlands und der Europäischen Union, dem Welthandelsregime, dem Sozialstaatsumbau der letzten Jahrzehnte, den Interessenlagen machtvoller Akteure, dem Alltagsrassismus und Sozialchauvinismus in reichen Gesellschaften. Eine kritische politische Soziologie hat genau diese Verbindungslinien zu ziehen.
Nachdem Sie sich mit Mills auseinandergesetzt haben: Was glauben Sie, woran würde Mills sich wohl heute reiben? An welchen Stellen würde er mit seiner Soziologie heute anecken?
Stephan Lessenich: Ich bin mir sicher, dass er zu dem, was sehr schnell politisch-medial als "Flüchtlingskrise" bezeichnet wurde, was aber viel eher eine Krise der europäischen Gesellschaften, ihres Selbstverständnisses und ihrer Fähigkeit zur stabilen Selbstreproduktion widerspiegelt, viel zu sagen hätte - und Vieles, mit dem er bei der Mehrheitsmeinung außer- wie innerhalb der Soziologie Widerspruch ernten würde. Aber genau das wäre ja heute gefragt.
Allerdings hat Mills nicht den Widerspruch, sondern die Indifferenz gefürchtet: das Ausblenden, das Ingnorieren, das Totschweigen und Totgeschwiegen-Werden. Auch deswegen hat er vermutlich alle wissenschaftlichen und sprachlichen Register gezogen - und bisweilen auch überzogen. Aber wenn er das gemacht hat, dann nur deswegen, weil er meinte, an einem kürzeren "Hebel" zu sitzen als andere.

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