Spaniens Schwenk in der Flüchtlingsfrage
Die Abschottung rückt immer stärker auf die Tagesordnung und Marokko nimmt verstärkt Flüchtlinge und Migranten nach EU-Millionenversprechen fest
Es gab bereits Anzeichen, dass auch Spanien verstärkt auf Abschottung gegen Flüchtlinge und Migranten setzen würde. Das Land, das nach dem Regierungswechsel einen Schwenk hin zu einer humaneren Politik angedeutet hatte, ändert nun seinen Kurs. Gehofft hatten einige, der neue sozialdemokratische Regierungschef Pedro Sánchez werde einen Gegenpol zu den Hardlinern in Europa setzen, weil er das Rettungsschiff Aquarius im Juni mit 629 Flüchtlingen aufgenommen hatte. Das erweist sich nun als Fehleinschätzung.
Nach massiver Kritik der rechten Opposition - auch seine Widersacherin in der Partei blieb nicht still - wollte auch Sánchez die Aquarius, die am Sonntag einen Hilferuf ausgesendet hatte, nicht erneut aufnehmen. Sie hat 141 Flüchtlinge an Bord (Rettungsschiff Aquarius: Gibraltar droht mit Entzug der Flagge). Madrid hat argumentiert, Spanien sei kein "sicherer Hafen". Nach dem internationalen Seerecht sei das "der nächste Hafen".
Im Juni war das der Regierung egal, als sie sich einen progressiveren Anstrich geben wollte. Da wurde die Aquarius noch nach Barcelona geholt. Jetzt wurde das nicht gemacht, obwohl die katalanische Regierung angeboten hat, auch diese Flüchtlinge aufzunehmen.
Inzwischen wird aber berichtet, dass eine Lösung für die Aquarius gefunden worden ist, an der sich sechs Länder beteiligen. Spanien übernehme nur noch 60 der 141 Flüchtlinge, 30 übernimmt Portugal und der Rest werde auf Frankreich, Deutschland, Luxemburg und Malta verteilt. Auf der Mittelmeerinsel wird die Aquarius an Land gehen, hat die Regierung Maltas mitgeteilt.
Keine "Abschiebungen", sondern eine "Verhinderung des Eindringens"
Der spanische Schwenk wird in einer anderen Frage aber noch viel deutlicher. Die Sozialdemokraten (PSOE) hatten in ihrem Wahlprogramm versprochen, das "Knebelgesetz" wieder abzuschaffen. Versteckt darin hatten die konservativen Vorgänger versucht, die sogenannten "heißen Rückführungen" nach Marokko aus den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla gesetzlich als "Ablehnung an der Grenze" abzusichern.
Das "verletzt internationale Schutzrechte und das Recht, einen Asylantrag zu stellen", hatte die PSOE das Vorgehen der Konservativen angeprangert. Auf eine Twitter-Anfrage der Journalistin Helena Maleno antwortete der heutige Regierungschef Sánchez im vergangenen September eindeutig: "Ja Helena. Wir fordern die vollständige Aufhebung des Knebelgesetzes und weisen die heißen Rückführungen entschieden ab."
Das ist aber Schnee von gestern. Das kann man sehr deutlich an einem Schreiben des Ministeriums für Staatsanwaltschaft feststellen, das gerade an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg geschickt wurde. Die rechten Vorgänger hatten dort Widerspruch gegen ein Urteil aus dem vergangenen Oktober eingelegt, mit dem Spanien wegen heißer Abschiebungen verurteilt worden war. Im 76-seitigen Schreiben übernimmt die Sánchez-Regierung Wortwahl und Argumentation der Vorgänger, schreibt sogar die Zeitung El País, die den Sozialdemokraten nahe steht.
Es gäbe keine "Abschiebungen", sondern eine "Verhinderung des Eindringens". Die Flüchtlinge hätten den "europäischen Rechtsraum" nicht betreten, weil sie die "Polizeilinie" nicht überwunden haben. Die Grenze wird demnach auch für die neue Regierung nicht mehr durch die mit gefährlichem Klingendraht gespickten sechs Meter hohen Zäune markiert. Sie wird als "flexibel" definiert, wie es die rechten Vorgänger taten. Diese Definition lehnten der EGMR und auch die PSOE in der Opposition noch ab. Diese Argumentation hatte kürzlich schon der umstrittene Innenminister und Hardliner Fernando Grande-Marlaska angewendet, weshalb diese Linie absehbar und vorhersehbar war.
Marokko: "Rassistische Razzien in den wichtigsten Städten und Zwangsdeportationen"
Auch in Marokko zeigt der Schwenk der spanischen Regierung schon Wirkung. Um die Abschottung von den Exklaven oder den Küsten weg ins Innenland zu verlagern, hatte Sánchez bei der EU-Kommission darauf gedrängt, die Auszahlung von 55 Millionen Euro an Marokko und Tunesien für den Grenzschutz zu beschleunigen.
Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker hatte erklärt, er teile mit Sánchez, dass es "dringenden Handlungsbedarf" gäbe und schnell etwas getan werden müsse. Deshalb räumt er dem spanischen Ersuchen "Priorität" ein. Juncker sei sich "bewusst", dass die Notwendigkeiten in Marokko sogar eines deutlich höheren finanziellen Einsatzes bedürften.
Aus dem nordafrikanischen Land meldet die Journalistin Maleno "rassistische Razzien in den wichtigsten Städten und Zwangsdeportationen von tausenden Menschen". Der spanischen Menschenrechtsaktivistin, die in Marokko lebt, hatte Sánchez einst versprochen, dass heiße Abschiebungen beendet werden.
Bestätigt haben der spanischen Zeitung eldiario.es auch Betroffene die Deportationen. In einer Aktion seien etwa 600 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, festgenommen und von der Polizei ins südmarokkanische Innenland nach Tiznit verfrachtet worden. Sie seien mitten in die Wüste, 800 Kilometer entfernt von den Exklaven am Meer, gebracht worden, berichtet ein Betroffener per Telefon.
"Die Razzien, Festnahmen und Abschiebungen von Menschen aus subsaharischen Ländern haben begonnen, nachdem die EU akzeptiert hat, dem Land dutzende Millionen für 'Kooperation und Entwicklung' zu bezahlen", schreibt die Zeitung. Die marokkanische Menschenrechtsvereinigung AMDH klagt, auch Frauen und Kinder im Lager von Bolingo von der Polizei angegriffen und misshandelt worden seien.
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