Spektakel über Spektakel

Der Sommer ist vorbei. Die olympischen Spiele, der Bombenanschlag in Atlanta, der Absturz der TWA-Maschine, die Parteitage zur Präsidentschaftswahl und der Stein der NASA, der ein Beweis für das Leben auf dem Mars sein soll, haben in den Medien das Sommerloch gefüllt. Gibt es eine Verbindung zwischen diesen Medienspekatakeln? Timothy Druckrey interpretiert sie als Symptome einer Welt, die gegenüber jeder kritischen Hinterfragung resistent geworden ist.

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Nachdem mehrere Milliarden Augen auf das Telespektakel der olympischen Spiele starrten, scheint die Macht der Medien, ein internationales Publikum zu elektrisieren, ganz offensichtlich zu sein. Damit ging im amerikanischen Fernsehen eine ununterbrechungslose Werbung mit planetarischen Metaphern einher - Planet Reebok, Planet Coke, Planet UPS, Planet AT&T, Planet Internet, Planet irgendwas. Das ist eine Art postnationaler Werbefeldzug, in dem Geschwindigkeit in China genauso hoch im Kurs steht wie in Kalifornien.

Das Internationale Olympische Komitee versteht die Ökonomie des Sponserns sowohl als eine der Produktion als auch als eine des Gewinns. Die Berichterstattung über die olympischen Spiele erfolgte parallel zu einer

Wird es für Amerika nicht Zeit, zur wirklichen Welt zurückzukehren?

pausenlosen Präsenz des TWA-Absturzes, dem Bombenanschlag in Atlanta, dem Versagen der Computer vom olympischen Meßsystem der IBM, dem Zusammenbruch von AOL und dem Parteitag der Republikaner. Die Mobilmachung der Medien durch programmierte Inhalte, die so gefangen sind zwischen direkter Propaganda, tyrannisierenden ideologischen Verkündigungen und vermischten Nachrichten über Gewalt, Terrorismus, privatwirtschaftlichem multinationalen New-Age-Spiritualismus und Zugang zu Techniken führt zu schwindelerregenden Überlegungen. Dazu gehört auch die Bemerkung in der Rede eines texanischen Abgeordneten während des Parteitages: "Wird es für Amerika nicht Zeit, zur wirklichen Welt zurückzukehren?" Die roboterhafte Menge antwortete in einer lautstarken Einheit mit einem zentralen politischen Mem: "Ja!"

In einem Sommer, umrahmt vom Film Independence Day, von den wilden Spekulationen der NASA über das Leben auf dem Mars und den Parteitagen der Republikaner und Demokraten, wurden die üblichen Sommerlöcher von unheilvollen Simulationen extraterrestrischer Wesen, politisch günstigen wissenschaftlichen Illusionen und einer in perverser Weise inszenierten Spontaneität durchbrochen, die eher zu Talkrunden im Fernsehen als zu politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen paßt.

Der große wirtschaftliche Erfolg von Independence Day (der in der ersten Woche mehr als 100 Millionen Dollar und bis jetzt 240 Millionen Dollar eingespielt hat) wurde von Lobbyisten der NASA, die bald zu Allegoristen werden, sicher nicht übersehen. Sie konnten einen Werbecoup landen, der zu einer finanziellen Förderung in einer Zeit führen konnte, in der die Demokraten Kürzungen im Verteidigungshaushalt versprachen, aber auch

Aliens als neue Feinde im globalen Dorf?

irgendeine Version eines Star-Wars-Verteidigungssystems wieder gefördert werden könnte, wie es der republikanische Präsidentschaftskandidat Dole ankündigte. Die NASA könnte, obwohl es sich mehr um Science Fiction als um wissenschaftliche Sachverhalte handelt, auf jeden Fall dabei gewinnen, indem sie entweder aus der Faszination der Öffentlichkeit an Aliens oder an der Neuerfindung einer Voodoo-militärischen Wirtschaft oder aus beidem Profit schlägt.

Es ist keine Überraschung, daß Bob Dole Independence Day (oder Forest Gump) als einen guten Film für das Gefühl schätzt. Ich glaube, er ließ die vielen Tausend nuklearen Sprengköpfe außer Acht, die im Dienst des Sieges detonierten, und die Hunderte von Millionen, die durch den Angriff der Aliens starben. Die Interessen hinter den ruhigen Angriffen auf die Werte von Hollywood sind nicht so sehr reaktionär, sondern vielmehr regressiv. Sie zeigen eine Anerkennung der gesellschaftlichen Macht der Medien und geben einen Hinweis auf die von Bob Dole vorgeschlagene Ausrichtung des Unterhaltungsmarktes. Über Independence Day konnte man in der New York Times lesen: "Fremde Wesen aus dem All werden ganz offensichtlich zur Antwort Hollywoods auf den Mangel an Schurken im postkommunistischen Zeitalter."

In einer Koinzidenz kosmischen Ausmaßes "findet" die NASA dann einen "Beleg" für "Leben" auf dem Mars, na gut, sie fand einen Stein in der Antarktis mit möglichen Spuren, die auf organisches Material hinweisen könnten. Natürlich reagierte die Werbung für Independence Day sofort mit einer Filmszene, in der Harvey Firestein voller Angst schreit: "Leben auf anderen Planeten!!!" Die Szene geht über zu einem Screen Shot in voller Bildgröße eines Ausrufs der gegenwärtigen amerikanischen Kultur: "Duh!"

Die NASA, die größeren Zwängen unterliegt, steht nicht weit zurück. Trotz eines gewaltigen Interesses seitens der Medien und der Öffentlichkeit war die Pressemitteilung der NASA überraschend zurückhaltend. Unbestimmte Formulierungen überwogen wie "läßt stark vermuten", "könnte existiert haben", "könnte sein", "möglicherweise" oder "Merkmale, die so interpretiert werden können, daß sie auf vergangenes Leben hinweisen." Der im Science Magazine veröffentlichte technische Bericht ging methodischer in der Präsentierung von Belegen und Begründungen seiner Position vor: "Wir schließen daraus, daß es Beweise für ein primitives Leben auf dem Mars gibt."

Einige Monate zuvor konnte man auf der Titelseite einer Boulevardzeitung die Überschrift lesen: "Mitteilung von der NASA: Vom Hubble-Teleskop wurde der Himmel fofografiert." Der Artikel berichtete, bestimmt von der NASA nicht gebilligt, einige wilde Vermutungen: "Trotz offiziellen Schweigens gaben Insider der Organisation zu, daß die NASA 'etwas entdeckt habe, daß die Zukunft der Menschheit verändern wird.'"

Das ist der Kontext, durch den sich manche der Komplexitäten der dynamischen Beziehung zwischen der "Instabilität" einer Welt, die in den Nachwehen der Geopolitik taumelt, der aktuellen Wissenschaft und der Ausbreitung oder Verleugnung einer Politik in der Informationswelt verstehen lassen. Gibt es einen besseren Weg, über den Zusammenhang zwischen den durchlässigen Grenzen und der Bedeutung von Bildern in der Informationsökonomie nachzudenken, die trotz der ganzen Aufregung über die Netze noch immer vom Fernsehen und Kino beherrscht wird? Berauscht von planetarischen Metaphern kam der Logos (in beiden Bedeutungen des Begriffs) eines vernetzten Info-/Ökosystems zur rechten Zeit, auch wenn es der Planet Erde des Planeten Mars war!

Fernsehen, Film, Imagination und Wissenschaft sind durch die Visualisierungstechniken verbunden, die darstellen können, was so leicht als unabweisbarer Beweis trotz problematischer Vorannahmen, direkter

Vom infotainment zu Infomercials

Falschheit oder zweifelhaftem Ursprung konstruiert werden kann. Diese verschwindende Grenze stellt die Rolle der Repräsentation im sozialen, wissenschaftlichen, geschichtlichen und ästhetischen Spektrum in Frage. Beeindruckend an den Verknüpfungen dieser Ereignisse sind die medialen Strategien, die sie stützen und in einen Kontext setzen.

Die Inszenierung des Verhaltens, die Psychologie der Rezeption oder die Kontrolle der Imagination kehren, mehr und mehr von einer Systemlogik angetrieben, in den Vordergrund zurück - nicht nur als Beispiele einer Cyborg-Ideologie, sondern als Phänomene einer Medienumwelt, in der das "triumphierende Künstliche" (Frederic Jameson) ohne Beschränkung durch Rechtfertigung oder Sachverhalte allegorisiert wird. Alles wird zu "Infomercials", wie man die neuen Inhalte nennen sollte, da die Programmideologie, wie sie in der Konsolidierung der Medienmächte als Werbeabteilungen der multinationalen Unternehmen zum Ausdruck kommt, die Information in der Zange hält - ABC wird von Disney kontrolliert, CBS von Westinghouse, CNN geht mit TimeWarner zusammen. NBC wird MSNBC, Gannett monopolisiert Nachrichten in den Druckmedien). Das war besonders bei der Inszenierung des republikanischen Parteitages der Fall. Die Beschränkung der Berichterstattung ermöglichte es, daß die pathetische Trivialisierung als nationale politische Debatte ausgegeben werden konnte. Man konnte dies auch an der Überprüfung des Geldbeschaffungsprojekts seitens der NASA sehen, das auf dem Fund eines Steins in der Größe einer Kartoffel basierte. In der Reziprozität zwischen den Epistemologien der Wissenschaft, der Politik, der Medien, der Theologie, der Teleologie und der Ontologie und mit den Umgangsformen mit einer stets poröser werdenden Realität erscheint die Stabilität des Gegenwärtigen als Zufall. Es verwundert daher kaum, daß die reaktionäre Politik sich in der verschleierten Hoffnung niederschlägt, daß wir im Kosmos nicht allein sind oder daß die Metapher des olympischen Dorfes ähnlich wie die des globalen Dorfes am Ende der Medien des Jahrtausends eine Einheit herbeiführt und die Andersheit auslöscht.

Doch die Dezentrierung des "anthropologischen Monopols" (Peter Weibel) in den wirklich dynamischen Diskursen über die Beziehungen zwischen Repräsentation und Wissen, Erkennen und Epistemologie, Spekulation und Evidenz, dem Wirklichen und dem Möglichen etc. erschüttert einerseits die Grundlagen der westlichen Kultur und eröffnet andererseits regressive und begriffliche Sprünge. Die Faszination am Alien und der nostalgische Hang zur Vorhersagbarkeit stehen zu beiden Seiten der Notwendigkeit, die Probleme weniger allegorisch und eher politisch aufzugreifen. Die Herausforderung ist schrecklich, besonders wenn man auf zirkusähnliche Kollisionen mit dem VR-Guru Howard Rheingold stößt, der das virtuelle Büro in Fernsehwerbeclips für eine Kette von Copy-Shops propagiert (wo die Reproduzierbarkeit mit der Virtualität zusammengeht), oder wenn in der Zeitschrift Wired die Werbung für Absolut Vodka nach Absolut Warhol, Absolut Haring, Absolut ... nun auf Absolut Kelly (also Kevin Kelly) mit einem Schwarm von Roboterfliegen mit der Überschrift "Die Zukunft der Maschinen ist die Biologie" kommt Bestimmt hatten sie nicht gewußt, daß irgendwo in den Bemerkungen des Wissenschaftlers David McKay über Beweise für das leben auf dem Mars steht: "Wir behaupten nicht, daß wird einen absoluten Beweis gefunden haben." Seien Sie nicht allzu überrascht, wenn einer erscheint!

In der Vermischung der wissenschaftlichen und kulturellen Diskurse über Künstliches Leben, synthetischen

Rausch an der Unmittelbarkeit - Resistenz gegenüber Kritik

Darwinismus aus biologischer und philosophischer Perspektive, Konnektionismus, Cybersapce, Technowerbung, Ökonomie, Multinationalismus, Technologie oder Tatsachen verschmelzen politische, allegorische und zum Beweis dienende Dinge. Sie rühren an den Kern der zeitgenössischen Erfahrung und werden in einer Medienumwelt konstituiert, die immer weniger zum Nachdenken und zur Kritik fähig ist. Das geht so weit, daß vom Physiker Alan Sokal in der Zeitschrift Social Text ein skandalöser scheinwissenschaftlicher Artikel erschienen ist, der die "postmoderne" Leichtgläubigkeit der Editoren offenbaren sollte und auf der Titelseite der New York Times entlarvt wurde. Das geschah während der "Erfolge" der Kosmologie, die von einem vier Pfund schweren und dreieinhalbmillionen Jahre alten, in der Antarktis entdeckten Meteoriten weggespült wurde, und die tonnenschweren Gründe für den Absturz der TWA-Maschine trotz intensiver forensischer Untersuchungen ein Geheimnis bleiben.

Medienwissenschaft, Medienpolitik und Mediengeschichte sind aus den Verhaltensmodellen der Massenpsychologie - und -soziologie entstanden, auch wenn das Modell der Netzwerke, das mehr mit der Kognitionswissenschaft als mit dem Behaviorismus verbunden ist, die kritischen Diskussionen beherrscht. Die übertriebenen Beanspruchungen wissenschaftlicher Entdeckungen, die unverschämten Schauspiele der Solidarität einer Partei und der passive Journalismus sind nur der Brennstoff einer Gesellschaft, die von der Unmittelbarkeit berauscht und resistent gegenüber Auseinandersetzungen ist.

In einer Zeit, in der Repräsentation und Politik so eng verbunden sind, wäre es ein fataler Irrtum, auf die Mystifizierung der Information hereinzufallen, ohne ernsthaft über die Virtualisierung der kritischen Theorie oder die Befreiung der Kommunikation von der Ideologie nachzudenken.

Aber ein "memetischer" Darwinismus, die Befreiuung der Cyborgs, die noosphärische Illusion einer Ganzheit oder der Triumph der Künstlichkeit scheinen historische Modelle zugunsten systemischer oder technologischer Modelle über Bord zu werfen. Das ist ein Symptom radikaler Kontingenz im Zeitalter des methodischen Chaos und der algorithmischen Einheit.

Stephen Jay Gould schrieb in einem Essay in der New York Times: "Der Ursprung des Lebens kann eine virtuell automatische Folge der Kohlenstoffchemie und der Physik selbstorganisierender Systeme sein - unter der Voraussetzung günstiger Umweltbedingungen und notwendiger anorganischer Bestandteile. ... Wenn daher auf der Erde bakterielles Leben so schnell entstanden ist und wenn der Mars einst ähnlich günstige Bedingungen bot, dann sollten wir die Evolution irgendeiner Lebensform auf der Stufe von Bakterien auch auf dem Mars antizipieren ... ein wirkliches Fossil vom Mars wäre ein unbezahlbarer Schatz, die Auflösung der Frage nach der universellen Allgemeinheit des Lebens (es sei denn, daß angrenzende Planeten unseres Sonnensystems sich gegenseitig durch die Sendung eines solchen Meteoriten "impfen" können, wie sie der Stein vom Mars zur Erde gebracht hat). Ein hypothetisches Argument für die mögliche Existenz von Fossilien auf dem Mars ist jedoch kaum den Aufwand einer Email wert. ... Wir haben gute Gründe dafür, daß Leben in seiner geringsten komplexen Form unter der Voraussetzung von Planeten mit geeigneten Bedingungen eine ganz vorhersagbare Folge gewöhnlicher Chemie und Physik ist. Komplexes, selbstbewußtes Leben entsteht auf dem äußerst unterschiedlichen weg von unweiderholbaren und schwerlich voraussagbaren geschichtlichen Ereignissen.

Auf der Erde hat in 3,5 Milliarden Jahren nur eine Art eine solche geistige Macht entwickelt - und auf einem Planeten, der sich noch im Zeitalter der Bakterien befindet und so vollständig von Insekten unter den multizellulären Komponenten beherrscht wird, können keine allgemeinen Trends in dieser Richtung erkannt werden. ... Das Leben auf dem Mars eröffnet einen beweiskräftigen Schritt zur Universalisierung des Zeitalters der Bakterien, doch die Menschen bleiben ein so wunderbarer Zufall wie in der Vergangenheit."

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer