Staatskritik, symbolische Macht und Herrschaftsverhältnisse

Seite 3: Wie sieht staatlicher Rassismus heute aus?

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Nochmal zu der Frage: Wie verhält sich der Staat heute? Was beobachten Sie?

Jens Kastner: Wie schon gesagt, es gibt einerseits seit drei Jahrzehnten diesen Rückzug zu beobachten, andererseits ist das natürlich auch kein einheitlicher Prozess und die Zerstörungen, die der Neoliberalismus bislang angerichtet hat, sind in Großbritannien oder in Mexiko weitaus größer als etwa in Österreich.

Aber staatliche Regulierung und Privatisierung schließen sich nicht aus. Die Migrationspolitik ist das beste Beispiel dafür. Hier gehen Verschärfungen der Asylgesetzgebung und die Auslagerung der Grenzsicherung an die Frontex-Agentur Hand in Hand. Die Vereinbarkeit von staatlicher Regulierung und Privatisierungen gilt also auch für den europäischen Rahmen, in dem ein "Staatsapparate-Ensemble" entstanden ist, wie der Politologe Jens Wissel das in einer aktuellen Studie genannt hat, in dem um die Verteilung von Kompetenzen und Ressourcen gerungen wird.

Lassen Sie uns auf das Feld der Macht fokusieren. In einer Ihrer Aufsätze schreiben Sie: "Mit seiner Warnung davor, staatliche Kategorien in den soziologischen Analysen zu übernehmen, deutet Bourdieu an, dass der Staat selbst nicht neutral ist. Die Konstituierung des Feldes der Macht geschieht bereits als ein Spiel, in dem der Kampfplatz, die Mittel des Kampfes und dessen Ziele voneinander durchdrungen sind." Was heißt diese Erkenntnis für ein kritisches Staatsverständnis? Und was bedeutet die Aussage im Hinblick auf aktuelles staatliches Handeln?

Jens Kastner: Für ein kritisches Staatsverständnis geht es zum einen erst einmal darum, diese verschiedenen Ebenen (analytisch) auseinander zu halten, auch um die (politische) Distanz überhaupt zu ermöglichen. Wenn es um Staatskritik geht, sollte es zwar einerseits immer um das prinzipielle Monopol symbolischer Macht, also um Herrschaftsverhältnisse gehen.

Andererseits geht es aber auch darum, konkrete Akteure, Apparate und Praktiken in den Blick zu nehmen. Und hier können sich ja durchaus widersprüchliche Konstellationen ergeben: Als die faschistischen Generäle putschten, haben 1936 in Spanien selbst die Anarchisten auf der Seite des republikanischen Staates gekämpft - und sie haben nebenbei auch noch eine Revolution auf den Weg gebracht.

Bourdieu jedenfalls hielt es angesichts der "neoliberalen Offensive" für sehr angebracht, republikanische Errungenschaften zu verteidigen, letztlich sicherlich auch, um sie ausweiten zu können. Dennoch wurde die Verteidigung des Staates durchaus als Dilemma wahrgenommen, von den Anarchisten 1936 wohl noch um einiges drastischer als von Bourdieu in den 1990ern Jahren.

Die Flüchtlingskrise bringt auch das Thema Rassismus wieder in den Vordergrund. Doch Rassismus geht nicht nur von einzelnen Menschen aus. Bourdieu hat die These eines staatlichen Rassismus aufgestellt. Sie haben sich einmal anhand der deutschen Asylgesetzgebung mit dem Phänomen des staatlichen Rassismus auseinandergesetzt. Wie sieht staatlicher Rassismus heute aus und wen trifft er?

Jens Kastner: Mittlerweile ist man ja auch im deutschsprachigen Raum dazu übergegangen, Diskriminierungen, die auf ethnisierenden Zuschreibungen beruhen, als Rassismus zu bezeichnen. Das war Anfang der 2000er Jahre durchaus noch nicht so, Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit schon, aber Rassismus, der Begriff wurde im Grunde der Zeit und der Politik des Nationalsozialismus vorbehalten.

Rassismus hat immer etwas mit Machtverhältnissen zu tun

Rassismus muss aber breiter aufgefasst werden?

Jens Kastner: Rassismus ist auf jeden Fall vielgestaltig und hat auch Konjunkturen. Man darf sich ihn nicht bloß in Form der Nürnberger "Rassegesetze" vorstellen. Fahren sie einmal mit dem Nachtzug bloß über innereuropäische Grenzen, wo ja zumindest formal noch die Reisefreiheit für alle EU-Bürger gilt: Aber je dunkler ihre Haar- und Hautfarbe, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach dem Pass gefragt und durchsucht werden. Die Grenzpolizei ist darauf trainiert, mit Blicken zu kategorisieren und daraufhin Ungleichbehandlungen durchzuführen.

Konjunkturen heißt auch, dass es unterschiedlich scharfe Formen von Rassismus gibt, die sich zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedene Objekte heften. Die Rassismen etwa, denen die ersten "Gastarbeiter" aus Italien oder Portugal in Deutschland ausgesetzt waren, sind fast völlig verschwunden. Aber es gibt natürlich auch rassistische Kontinuitäten, vor allem wahrscheinlich im Hinblick auf den Rassismus gegenüber Roma.

Obwohl auch Opfer des Nationalsozialismus, gibt es gegenüber den Roma kaum eine Gnade: Sie können in Frankreich von öffentlichen Plätzen vertrieben und abgeschoben werden, obwohl sie EU-Bürger sind, und es regt sich kaum Empörung. Gegen die Roma findet gesamteuropäisch betrachtet wohl das Ineinandergreifen von institutionellem und alltäglichem Rassismus seinen krassesten Ausdruck.

Rassismus, das ist auch wichtig zu betonen, hat immer etwas mit Machtverhältnissen zu tun. Er bringt ein Verhältnis von - sicherlich phantasmatischer, aber natürlich auch in die Institutionen einer postkolonialen Weltordnung gegossene - Über- und Unterordnung zum Ausdruck, baut auf ungleicher Ressourcenverteilung auf und reproduziert sie. Deshalb hat es auch mit Rassismus nicht zu tun, wenn Deutsche in Österreich als "Piefkes" beschimpft werden.

Wie erklären Sie sich die Gewalt, den Hass, die Wut, die derzeit gegen Flüchtlinge zu erleben ist? Was sagt eine kritische politische Soziologie dazu?

Jens Kastner: Als die ersten Flüchtlinge Anfang September in großen Gruppen hier in Wien und dann in München ankamen, wurden sie beklatscht. Sicher, man hat dann gleich eine "Willkommenskultur" herbeigeschrieben, die es wohl weder im Alltag geschweige denn institutionell gibt, aber dennoch waren das außergewöhnliche Momente. Anfang der 1990er Jahre wäre das noch absolut undenkbar gewesen.

Gleichzeitig hat zwar die pure Gewalt gegen Flüchtlinge auch wieder Dimensionen erreicht, die an die frühen 1990er Jahre erinnert, aber die ist meines Erachtens diesmal nicht Ausdruck einer relativ homogenen, dominanzgesellschaftlichen Ablehnung, sondern ein Zeichen zunehmender gesellschaftlicher Spaltungen.

Letztlich ist die Gewalt, denke ich, einer Haltung geschuldet, die für die eigene Verlustangst (oder auch die realen eigenen Verluste) immer andere, noch Schwächere verantwortlich machen will. Und das funktioniert meines Erachtens nur (oder besonders gut) vor dem Hintergrund eines Menschenbildes, das davon ausgeht, es stünde diesen anderen auch nicht zu, was man für sich selbst beansprucht. Das heißt, es impliziert eine Vorstellung von Höher- und Minderwertigkeit, die mit der Zugehörigkeit zu einer Nation verbunden wird, zumal einer, die letztlich immer noch offiziell weitgehend nach dem Prinzip der Blutsverwandtschaft geregelt ist.

Seit ich denken kann, weist man von links nach, dass "die Ausländer", die Flüchtlinge etc. "uns" in Wirklichkeit gar nicht die Arbeitsplätze wegnehmen, aber es scheint nicht zu fruchten. Es handelt sich bei rassistischen Haltungen offenbar um habituelle Dispositionen, die staatlich abgesichert werden. Und dies auch dann noch, wenn der moderne Rechtsstaat für sich beansprucht, eine solche Absicherung nicht zu gewährleisten.

Das bedeutet natürlich weder, dass jedes Mitglied eines europäischen Nationalstaats rassistisch ist, noch bedeutet es, dass die Mitgliedschaft davor schützt, Rassismus ausgesetzt zu sein: Schwarzen Deutschen wird ihr Personalausweis wenig nützen, wenn sie nachts einer Horde Faschos begegnen und Jimmy Hartwig oder Gerald Asamoah wurden im Stadion auch rassistisch beschimpft, obwohl sie Nationalspieler waren.

Was eine kritische politische Soziologie dazu sagt, kann ich nicht beantworten. Es gibt ja eine sehr lebendige und interventionistische Migrationsforschung im deutschsprachigen Raum, aber die ist meiner Wahrnehmung nach eher aus den sozialen Bewegungen und Flüchtlingsprotesten entstanden und vor allem auch transdisziplinär, und weniger im Zentrum der akademischen Soziologie zu verorten. Was die politischen Inhalte dieser Migrationsforschung angeht, das auszuführen ginge vielleicht hier zu weit; ich verweise stattdessen mal auf ein relativ neues Forum, das movements journal.

Der Soziologe Heinz Bude hat vor kurzem in der FAZ einen bemerkenswerten Artikel verfasst, in dem er darlegt, dass in Deutschland Personen aus unterschiedlichen Milieus, mit unterschiedlichen Bildungshintergründen, in prekären Verhältnissen leben. Dieses Phänomen gibt es sicher schon länger und Bourdieu hat sich in seiner Arbeit auch intensiv mit der Prekarisierung auseinandergesetzt. Wie betrachten Sie die prekären Lebensverhältnisse im Zusammenhang mit dem Handeln des Staates?

Jens Kastner: Bourdieu hat sich in "Das Elend der Welt" der Prekarisierung gewidmet und auch einen Vortrag mit dem programmatischen und mittlerweile viel zitierten Titel "Prekarität ist überall" (1997) gehalten. Darin wendet er sich einerseits gegen die Dogmen der neoliberalen Ökonomie, stellt sich aber andererseits die Frage nach der Mobilisierungsfähigkeit der Prekarisierten. Hier kommt er zu deutlich pessimistischeren Antworten als andere Theoretiker, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben.

Grob gesagt meinte Bourdieu, wem die Kontrolle und Gestaltungsmacht über die eigene Gegenwart genommen wird, der oder die ist ganz sicher nicht für ein Projekt gesellschaftlicher Erneuerung zu gewinnen oder gar dessen Auslöser. Das entspricht im Grunde Heinz Budes Analyse, denn Bourdieu ging es ja um emanzipatorische Mobilisierungen, und was Bude beschreibt, ist ja eher das Gegenteil: also regressive und ressentimentgeladene Proteste derjenigen, die sich auf verschiedenen Stufen der sozialen Hierarchie um den Lohn ihrer ursprünglichen Erwartungen gebracht sehen.