Staatskritik, symbolische Macht und Herrschaftsverhältnisse

Seite 2: Neoliberalismus und starker Staat haben sich nur in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig ausgeschlossen

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Als Bourdieu "intervenierte", war vor allem ein Rückzug des Staates zu beobachten. Für viele der Verfechter des Neoliberalismus konnte der Staat gar nicht weit genug zurückgedrängt werden. Nun, knapp ein Jahrzehnt später, wird in den Medien plötzlich der Ruf nach einem starken Staat, laut.

Auf Zeit Online waren vor kurzem die folgenden Zeilen zu lesen: "Wenn nicht alles täuscht, erleben wir gerade die Wiederkehr des starken Staates. Man muss nicht lange überlegen, um sich klarzumachen, dass die enormen Aufgaben, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen, nicht ohne einen starken Staat gemeistert werden können..." Wie passt das zusammen? Was passiert hier gerade? Oder, anders gefragt: Würde Bourdieu diese Rückkehr des Staates begrüßen?

Jens Kastner: Bourdieu hätte nun einen starken Staat im Sinne autoritärer Maßnahmen sicherlich nicht begrüßt. Auch und erst recht nicht im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik. Er hat in den 1990er Jahren ja durchaus an internationalen Bündnissen zwischen linken Gewerkschaften, Refugees und anderen emanzipatorischen sozialen Bewegungen gearbeitet. In dieser Hinsicht hat Bourdieu den Staat sogar als Schutzmacht für die Schwachen verstanden, den es gegen die neoliberale Offensive zu bewahren gelte. Das steht durchaus in einem Spannungsverhältnis zu seiner Analyse des Monopols der symbolischen Macht, als die er den Staat ja auch beschrieben hat.

Ihm ging es grundsätzlich um die Verantwortung staatlicher Institutionen und Prozesse für die Regulierung des Allgemeinwohls, er war auch kein Anarchist, sondern vertrat letztlich eine klassisch linkssozialdemokratische Position. So gesehen war er auch in seinen analytischen Positionen um einiges radikaler als in den politischen.

Aber noch etwas: Neoliberalismus und starker Staat haben sich historisch allerdings auch bloß in der neoliberalen Doktrin, nicht aber in der Praxis gegenseitig ausgeschlossen. Das widerspricht sich also überhaupt nicht. Eine neoliberale Wirtschaftspolitik wurde planmäßig erstmals ab 1975 unter der Militärdiktatur Pinochets in Chile durchgeführt. Über die ganzen 1980er Jahren hinweg haben die Vertreter neoliberaler Ökonomie mit den Konservativen und Neokonservativen politische Bündnisse gepflegt. Auch Thatchers Zerschlagung der Gewerkschaften war ja durchaus ein geplanter, autoritärer Akt.

In den 1990er Jahren wurden dann die Verbindungen mit der so genannten Neuen Sozialdemokratie wichtiger und politisch einflussreicher. Unter dem Banner der Modernisierung wurde, etwa im Schröder-Blair-Papier (1999), zwar die "Marktgesellschaft" offiziell abgelehnt, aber dann wurde sie praktisch doch durchgesetzt mit der Deregulierung der Arbeitsmärkte und der "Reform" der Sozialsysteme.

Lassen Sie uns nochmal zurückgehen. Wie hat sich der Staat in den vergangenen Jahrzehnten verhalten?

Jens Kastner: Auf Druck der neoliberalen Kräfte und lange Zeit im Einverständnis mit großen Teilen der Bevölkerungen sind doch wesentliche Bestandteile des westlichen Wohlfahrts- oder Sozialstaates abgebaut und zurückgefahren worden. Das geschah aber nicht gegen den Staat, sondern letztlich unter seiner Regie, weil die Neoliberalen sich im Feld der Macht nahezu überall durchsetzen konnten. Auch diese Umstrukturierungen gingen mit transformierten Denk- und Wahrnehmungsweisen einher, spielten also nicht nur auf der Ebene der staatlichen Apparate und seines Personals.

Wie meinen Sie das?

Jens Kastner: Die ständige Verfügbarkeit als Arbeitskraft, die Auflösung der Grenzen von Arbeit und Freizeit, der Flexibilitätsimperativ, das Fördern-und-Fordern - dass das alles über weite Strecken akzeptiert worden ist, ist ja historisch relativ neu. Hätten Sie einen Arbeiter oder eine Arbeiterin in den 1960er Jahren gefragt, was das Wort "Reform" bedeutet, wären sie niemals auf die Idee gekommen, damit Austeritätspolitiken zu verbinden oder mit dem Wort "Besitzstandswahrer" die Gewerkschaften. Da steckt schon eine kontinuierliche Arbeit an der Sprache und am Denken dahinter. Die "geistig-moralische Wende", für die Helmut Kohl 1982 an- und eingetreten war, erwies sich leider nicht als leere Drohung.

Staatsversagen

Könnte man von einem Staatsversagen sprechen?

Jens Kastner: Man könnte natürlich argumentieren, dass vom Staat ohnehin nichts anderes zu erwarten ist, als dass er den herrschenden Interessen dient. Aber das ist, denke ich, eine vereinfachende Vorstellung. Im Staat haben sich letztlich immer auch emanzipatorische Effekte sozialer Kämpfe manifestiert, auch wenn die radikalen Forderungen dabei in der Regel auf der Strecke blieben. Manchmal braucht es aber vielleicht auch gesetzliche Regulierungen wie etwa die Frauenquote, wenn man nicht weitere 50 Jahre feministische Bewusstseinarbeit für die Gleichstellung investieren will.

Aber der Rückzug des Staates aus den Sozial-, Kultur- und Bildungsbereichen bei gleichzeitiger infrastruktureller Aufrüstung der so genannten Investitionsstandorte, das ist von einem linken Standpunkt aus unbedingt als Staatsversagen zu interpretieren. Und zwar weil hier ohne Not Kompetenzen und Macht abgegeben wurden, die vorher zumindest formal noch öffentlicher Kontrolle unterlagen.

Und selbst von einem libertären, also prinzipiell staatskritischen Standpunkt aus lässt sich ein Versagen beklagen, wenn man die republikanischen Staatsapparate an ihren eigenen Ansprüchen misst. Die Entwicklung des so genannten Freihandels ist ja nicht nur im Hinblick auf die entstandene Armut und die ausgeweitete soziale Ungleichheit, sondern auch demokratiepolitisch gesehen eine Katastrophe.

Die Politik der Haushaltssanierung und gegen die "Staatsverschuldung" hat die Umverteilung von unten nach oben bewirkt

Was hätte von staatlicher Seite getan werden müssen, um den gesellschaftlichen Verwerfungen entgegenzutreten?

Jens Kastner: Die Politik der Haushaltssanierung und gegen die "Staatsverschuldung" hat letztlich eine Umverteilung von unten nach oben bewirkt. Auch die Schulden wurden privatisiert. Die Grundlagen für die neoliberale Schuldenökonomie wurden - wie der Soziologe Maurizio Lazzarato hervorgehoben hat - durch die Privatisierung der Sozialversicherungssysteme und die Individualisierung der Sozialpolitik gelegt.

All das hätte abgewendet werden müssen. Denn, und in dieser Hinsicht argumentiert Lazzarato ganz ähnlich wie Bourdieu, die private Verschuldung verhindert die selbstbestimmte Gestaltung der Zukunft und zerstört Solidarität. Lebensentwürfe werden sinnlos und statt gegenseitiger Hilfe wird das Ausstechen von Konkurrenten gefeiert.

Letztlich hätte grundsätzlich der Einführung der Unternehmenslogik in die sozialen Beziehungen politisch begegnet werden müssen, anstatt sie opportunistisch aufzugreifen und auch noch finanziell zu belohnen. Aber anstatt sich den Verwerfungen zu stellen, wird - glücklicherweise mit zunehmendem Widerstand - diese Politik noch verschärft, wie wir es an den systematischen Kürzungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich, die die deutsche Bundesregierung jetzt in Griechenland durchsetzt, noch einmal paradigmatisch vorgeführt bekommen.