Stammzell-Kapseln gegen Diabetes

Eine embryonale Stammzelltherapie soll Diabetikern die tägliche Insulinspritze ersparen

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Ende Oktober wurde erstmals ein Diabetiker mit embryonalen Stammzellen behandelt. Die Zellen wurden in einer von ViaCyte entwickelten Kapsel unter seine Haut transplantiert, wo sie Insulin produzieren und den Blutzuckerspiegel auf natürliche Weise regulieren sollen. Die Kapsel erfüllt einen doppelten Zweck: Die embryonalen Zellen sind vor den Angriffen des Immunsystems geschützt, und der Patient vor der potentiell gefährlichen Ausbreitung der Zellen in seinem Körper.

Manchmal macht das Immunsystem fatale Fehler. Millionen von Menschen, die an Typ-1-Diabetes leiden, erfahren das am eigenen Leib: Ihre Immunzellen greifen das eigene Gewebe an und zerstören einen Teil der Bauchspeicheldrüse. Die Drüse kann kein Insulin mehr erzeugen, und im Blut gerät der Zuckerspiegel außer Kontrolle. Um nicht in ein diabetisches Koma zu fallen, müssen sich die Patienten täglich genau dosierte Mengen an Insulin spritzen.

Eine Stammzelltherapie könnte dies überflüssig machen. Vorläuferzellen der Bauchspeicheldrüse, im Labor aus embryonalen Zellen erzeugt, sollen im Körper zu funktionsfähigem Gewebe heranreifen und die Regulation des Blutzuckerspiegels übernehmen. In Tierversuchen war das bereits erfolgreich, wie die kalifornische Biotechfirma ViaCyte vor einigen Jahren zeigte.

Dass Zellen, die Insulin erzeugen, auch beim Menschen wirksam sind, ist schon seit längerem bekannt. Die Transplantation von gespendeten Bauchspeicheldrüsen ist eine etablierte Therapie von Diabetes. Doch Organspenden sind problematisch, da das Immunsystem durch Medikamente unterdrückt werden muss. Bislang überleben die Transplantate nur wenige Jahre. Und das wohl größte Hindernis: Nur für einen Bruchteil der Betroffenen finden sich passende Spender.

Kapseln schützen doppelt

Embryonale Stammzellen hingegen sind fast unbegrenzt wachstumsfähig - eine beliebig große Zahl von Diabetikern könnte mit ihnen behandelt werden. ViaCyte startete nun die weltweit erste Studie: In einer kalifornischen Klinik wurde einem Patienten eine Kapsel unter die Haut transplantiert, in der Vorläuferzellen der Bauchspeicheldrüse eingeschlossen waren. Im Laufe der nächsten Wochen sollen sich die eingekapselten Zellen mit der Blutbahn verbinden und zu Drüsengewebe heranwachsen.

Die etwa acht Zentimeter lange Kapsel ist von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Therapie. Das Immunsystem der Diabetiker würde die embryonalen Zellen gleich aus zwei Gründen attackieren - weil sie Insulin produzieren und weil sie körperfremdes Gewebe darstellen. Die Kapsel verhindert dies: Sie besteht aus einer Membran, die zwar für Nährstoffe und Insulin durchlässig ist, das Eindringen von Immunzellen jedoch verhindert. Damit sind die embryonalen Zellen wirksam vor Angriffen geschützt.

Und so wie die Kapsel Immunzellen den Eintritt verwehrt, verhindert sie auch ein Entkommen der embryonalen Zellen aus ihrem Inneren. Ein weiteres Problem ist damit gelöst: Embryonale Stammzellen können Tumore erzeugen, ihre unkontrollierte Ausbreitung würde den Patienten daher ernsthaft gefährden. Das schwer kalkulierbare Krebsrisiko galt bislang als eine der größten Hindernisse bei der Einführung embryonaler Stammzelltherapien. Die Verwendung einer Kapsel reduziert diese Gefahr auf ein Minimum.

Hohe Anforderungen an die Sicherheit

Im Laufe der nächsten Monate sollen knapp 40 weitere Personen mit diesen Kapseln behandelt werden. Zwei Jahre lang wird dann bei ihnen der Blutzuckerspiegel analysiert und nach Anzeichen für die Produktion von Insulin gesucht. Die Ergebnisse werden frühestens Mitte 2017 verfügbar sein.

Sollten die embryonalen Stammzellen tatsächlich die Funktion der Bauchspeicheldrüse übernehmen, wäre das für Diabetiker eine große Erleichterung. Die bislang übliche Insulin-Therapie ist mit erheblichen Einschränkungen verbunden: Die Ernährung unterliegt strengen Regeln, und die Blutwerte müssen täglich kontrolliert und eingestellt werden. Mit zunehmendem Alter steigt auch das Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden oder aufgrund von Netzhaut-Veränderungen zu erblinden.

Doch der Erfolg ist nicht gesichert. Selbst wenn sich die embryonalen Zellen zu funktionsfähigem Gewebe entwickeln, dürfen sie sich keine Fehler erlauben: Schwankungen im Blutzuckerspiegel können schnell lebensgefährliche Situationen hervorrufen. Das Spritzen von Insulin mag zwar beschwerlich sein, hat sich aber millionenfach als sicher erwiesen. Eine embryonale Stammzelltherapie wird sich nur durchsetzen können, wenn sie diesen hohen Sicherheitsstandard wenigstens annähernd erreicht.

Embryonale Stammzelltherapien haben in diesem Jahr schon mehrfach positive Schlagzeilen gemacht. Erst durch ermutigende Sicherheitsdaten bei der ersten Stammzellstudie für Querschnittsgelähmte (Embryonale Stammzelltherapie schreitet voran), dann nach einer großen Studie zur Behandlung von Netzhauterkrankung (Schwartz et al., Human embryonic stem cell-derived retinal pigment epithelium in patients with age-related macular degeneration and Stargardt's macular dystrophy, The Lancet 2014.). Die nun angelaufene Studie mit Typ-1-Diabetikern könnte die nächste Erfolgsgeschichte werden.