Stillstand durch Handel?

Seite 2: Der Euro war eine Grundvoraussetzung für den Siegeszug des neuen deutschen Merkantilismus

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Eine vom Wall Street Journal publizierte Grafik illustriert, dass diese extreme Exportausrichtung des Link auf :38239 ziemlich genau mit der Einführung des Euro ausgebildet wurde - im Jahr 2000 verzeichnete die Bundesrepublik noch ein Leistungsbilanzdefizit. Tatsächlich bildete der Euro eine Grundvoraussetzung für den Siegeszug des deutschen Merkantilismus, da er den unterlegenen südeuropäischen Volkswirtschaften die Möglichkeit nahm, vermittels Währungsabwertungen die Konkurrenzfähigkeit mit der deutschen Exportindustrie zumindest partiell wiederherzustellen.

Die Kritik der USA an der extremen deutschen Exportausrichtung, die mit der Überschuldung und Deindustrialisierung Südeuropas einhergeht, ist somit voll berechtigt und zutreffend. Plötzlich scheinen die Rollen vertauscht, die der deutschlandweit grassierende Antiamerikanismus den beiden Ländern zuweist: Die BRD erscheint als das Land des rücksichtslosen Raubtierkapitalismus, während Obama - zumindest bei seiner Europapolitik - in die Rolle des nachfrageorientierten Sozialdemokraten schlüpft.

Diese Europapolitik hat den USA bereits einen gewissen Popularitätsschub insbesondere in den europäischen Krisenländern verschafft, wie eine im August publizierte Umfrage in Griechenland offenbarte -, wo die USA aufgrund des von ihnen unterstützten Militärputsches 1967 eigentlich über miserable Umfragewerte verfügten:

Deutlich an Popularität gewonnen haben dagegen die Vereinigten Staaten: Laut Umfrage werten 55,5 Prozent der Befragten die USA positiv. Der Anstieg ist bemerkenswert. Vor acht Jahren hatten nur 27,8 Prozent der damals Befragten Sympathie für die Amerikaner gezeigt. Die US-Präsident Barack Obama plädierte in der Euro-Krise dafür, weniger hart zu sparen und stattdessen die Wirtschaft stärker zu fördern.

Die Popularitätswerte für Deutschland sind im gleichen Zeitraum von 78,4 Prozent auf 33,2 Prozent abgestürzt. Der Otto-Rehhagel-Bonus ist somit aufgebraucht.

Ohne Defizitbildung gäbe es schlicht keine deutschen/chinesischen/japanischen Exportüberschüsse

Washington trifft mit seiner Kritik an Merkels Spardiktat somit ins Schwarze und kann damit ausgerechnet im europäischen Hinterhof Deutschlands punkten. Dennoch würden die von Washington in Europa propagierten Krisenrezepte (Belebung der Binnennachfrage) genauso wenig zur Überwindung der Krise beitragen wie das deutsche Spardiktat. Der amerikanische Krisendiskurs weist nämlich ebenfalls einen "blinden Fleck" auf, den die Nachrichtenagentur Bloomberg thematisierte.

Die konsumfreudigen USA, in denen rund zwei Drittel des BIP auf den privaten Konsum zurückgehen, weisen zugleich ein gigantisches Leistungsbilanzdefizit auf. Die in der Tat sehr ausgeprägte Binnennachfrage der USA wird somit über Defizitbildung, sprich über Verschuldung erzeugt. Dies ist in den Vereinigten Staaten nur deswegen noch möglich, weil sie - im Unterschied zu den südeuropäischen Krisenländern - mit dem Dollar über die Weltleitwährung verfügen, die Washington schier endlose Möglichkeiten einer Aufrechterhaltung dieser Verschuldungsdynamik einräumt. Eine Steigerung des "Binnenkonsums" ist in der Praxis somit nur vermittels Defizitbildung möglich, wie es die USA an ihrer eigenen Leistungsbilanz eindrucksvoll demonstrieren. Die sich daraus ergebenen globalen Ungleichgewichte beschrieb Bloomberg größtenteils zutreffend:

Japan, China und Deutschland sind total von ihren Exporten abhängig, um die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. Die USA weisen ein beständiges Leistungsbilanzdefizit auf, und sie weisen dies schon seit 1990 auf. Niemand glaubt, dass dies tragfähig ist. Zugleich will keiner der großen Spieler das ändern.

Niemand will das ändern? In Wahrheit verhält es sich so, dass niemand dies ändern kann. Diesen globalen "Ungleichgewichten", bei denen sich exportabhängige und defizitbildende Volkswirtschaften gegenüberstehen, liegt selbstverständlich eine Verschuldungsdynamik zugrunde: Ohne Defizitbildung gäbe es schlicht keine deutschen/chinesischen/japanischen Exportüberschüsse. Die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen sind folglich nur Ausdruck einer Verschuldungsdynamik, die doch offensichtlich notwendig ist, um das kapitalistische Weltsystem noch aufrechtzuerhalten.

Die jüngsten Auseinandersetzungen um die exzessive Exportausrichtung der deutschen Wirtschaft rühren somit tatsächlich an einen tief reichenden "blinden Fleck" im westlichen Krisendiskurs, den man aber weder in Berlin noch in Washington wahrnehmen will. In der ausartenden Schuldendynamik manifestieren sich die objektiven Entwicklungsschranken des kapitalistischen Weltsystems, das an seiner eigenen Produktivität erstickt. Aufgrund der ungeheuren Produktivitätsschübe, die mit der anhaltenden mikroelektronischen Revolution einhergehen, wird die Arbeitskraft in immer stärkerem Ausmaß aus der Warenproduktion verdrängt - und somit gehen den Warenproduzenten auch die Konsumenten verloren. Der Kapitalismus ist folglich als Gesamtsystem längst zu einem Schuldenjunkie verkommen, der sein zombiehaftes Scheinleben nur noch vermittels ausartender Defizitbildung aufrechterhalten kann. Die Verschuldungsdynamik generiert schlicht die Massennachfrage, die es etwa der deutschen Wirtschaft überhaupt noch ermöglicht, ihre Handelsüberschüsse zu generieren.

Der funktionierende Kapitalismus, die heile kapitalistische Arbeitsgesellschaft, stellt somit nur noch eine Illusion dar, die nur noch vermittels permanenter Defizitbildung aufrechterhalten werden kann. In Deutschland geschieht das in bewährter Tradition auf Kosten des Auslands, indem man vermittels der Exportüberschüsse schwächere Konkurrenten in den Ruin treibt. In den USA verlässt man sich auf die Stellung des US-Dollars als Weltleitwährung, um die Defizitbildung weiter aufrechterhalten zu können.

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