Studie zur Artenvielfalt: Über 10.000 Arten in Deutschland gefährdet
Viele Tier- und Pflanzenarten sind im kritischen Zustand, sagt umfangreiche Studie. Es gibt auch positive Entwicklungen – etwa die Renaturierung von Flussläufen.
Als im September Kälte und Dauerregen kamen, starben in Bayern zahllose Schwalben an Hunger und Kälte. Eine Ursache war, dass mit dem Wetterumschwung die Fluginsekten verschwanden, von denen sich Schwalben normalerweise ernähren.
Anwohner fanden unterkühlte, ausgehungerte Vögel in Parks, Gärten und auf Straßen und brachten sie zu Tierauffangstationen, zum Beispiel in die Wildtierstation des Münchner Tierschutzvereins. Allein in Österreich sollen schätzungsweise zehntausende Vögel gestorben sein.
Lebensraum Stall kollidiert mit Hygieneanforderungen
Als wäre das kältebedingte Vogelsterben nicht schlimm genug, schränkt nun auch der Mensch den Lebensraum der Schwalben ein. So brüten Schwalben gerne in Stallgebäuden. Um eine Zertifizierung für ihre Produkte zu erhalten, sollen Landwirte jetzt aus Hygienegründen die Nester aus ihrem Stall entfernen.
Der Landesbund für Vogelschutz (LBV) verweist darauf, dass ein Abschlagen der Nester ohne Genehmigung eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Seien im Nest bereits Eier oder Jungvögel, handele es sich sogar um eine Straftat. Stattdessen könne das Anbringen von Kotbrettern verhindern, dass Schwalbenkot auf Lebensmittel gelangt, etwa über dem Futtertrog oder in der Milchkammer.
Intensive Landwirtschaft gefährdet Schwalbenbestände
Hinzu kommt: Moderne Viehställe und Scheunen sind heutzutage verschlossen, sodass Schwalben nicht mehr hineinfliegen und Nester anlegen können. Doch auch in den Städten verschwinden Schwalbennester, etwa, weil Gebäude saniert werden. Zudem werden Feldwege, Einfahrten und Dorfplätze immer öfter zubetoniert, sodass die Vögel immer seltener Pfützen und damit weniger Lehm für ihren Nestbau finden.
Für die Aufzucht einer Rauchschwalbenbrut verfüttern die Altvögel rund ein Kilogramm Insektenmasse (das sind rund 150.000 Fliegen und Mücken). Doch in einer agrarindustriellen Landschaft mit Monokulturen, Pestiziden und Nutztierhaltung ohne Beweidung gibt es immer weniger fliegende Insekten. Damit fehlt ihnen die wichtigste Nahrungsgrundlage.
Mehr als die Hälfte der natürlichen Lebensraumtypen sind in schlechtem Zustand
Ein Drittel aller Arten ist gefährdet, etwa drei Prozent sind bereits ausgestorben. Der Verlust von Lebensräumen und die intensive Nutzung von Kulturlandschaften wirken sich negativ auf die biologische Vielfalt aus. Rund zehntausend Arten sind hierzulande nachweislich bestandsgefährdet – vorwiegend Insekten, Weichtiere und Pflanzen sowie Spezies des Agrar- und Offenlandes. Das ist das Fazit des "Faktencheck Artenvielfalt", für den erstmalig mehr als 150 Wissenschaftler von 75 Institutionen und Verbänden die Erkenntnisse über 6000 Publikationen auswerteten.
Von 93 untersuchten Lebensraumtypen sind 60 Prozent in unzureichendem oder schlechtem Zustand. Täglich verschwinden wertvolle Habitatflächen, infolgedessen schrumpfen Populationen. Allerdings seien wegen unzureichender Datengrundlage die genauen Ursachen des Verlusts biologischer Vielfalt nur ungenügend bekannt, bedauert Mitherausgeber Josef Settele von Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Zu wenige Daten gibt es über die Bodenbiodiversität, aber auch über die Artenvielfalt in den stetig wachsenden urbanen Räumen.
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Arten verarmen genetisch oder sterben aus
Während naturnahe Lebensgemeinschaften an Arten verarmen, bilden sich gleichzeitig neuartige Lebensgemeinschaften mit zunehmendem Anteil gebietsfremder Arten, weiß Botanikerin Jori Maylin Marx von der Universität Leipzig. All das hat einen direkten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise von Ökosystemen: Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen.
Biologische Vielfalt leistet wertvolle Dienste
Biologisch vielfältige Ökosysteme sind leistungsfähig und stabil: Sie versorgen Menschen mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen, sie halten Nährstoffkreisläufe aufrecht. Artenreiche Wälder und Wiesen und Böden speichern besonders viel Kohlendioxid. Sie speichern Wasser und schützen das Klima.
Das zeige sich an der verbesserten Wasserqualität der Flüsse und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern oder in Agrarlandschaften. So gehe es den Laubwäldern vergleichsweise gut – obwohl auch sie unter dem Klimawandel leiden.
"Der Erhalt der Biodiversität sichert unser Wohlergehen, aber auch das Wirtschaften. Schützen wir die biologische Vielfalt, schützen wir also uns selbst", erklärt Volker Mosbrugger, Sprecher der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt.
Lernen, mit der Natur zu wirtschaften – nicht gegen sie
Mit gezielten Maßnahmen könne der Biodiversitätsverlust gestoppt werden, erklärt Mitautorin Nina Farwig. Doch für eine echte Trendwende müsse die Natur verstärkt wiederhergestellt werden. Mit der Natur zu wirtschaften, das kann auch bedeuten, dass ökologische Folgekosten in Wirtschaftsberichten bilanziert werden müssen. Vor allem müssen neue, "biodiversitätsbasierte" Landnutzungssysteme entwickelt werden. Dabei können auch moderne Technologien helfen.
Der Biodiversitätsschutz könne verbindlicher werden, wenn er an höherrangige Rechte geknüpft würde, etwa in Form eines Menschenrechts auf gesunde Umwelt oder eines grundgesetzlichen Eigenrechts der Natur. Für das hierzu notwendige weitreichende Umdenken liefert der Faktencheck eine Reihe von Handlungsempfehlungen.
Renaturierte Flüsse erhöhen die Vielfalt
Ein Beispiel dafür, wie Artenschutz gelingen kann, ist die Renaturierung von Flüssen – so wie im Fall der Stepenitz: Als einer der artenreichsten und saubersten Flüsse Brandenburgs fließt sie mit 84 Kilometern Länge in der Prignitz durch eine Landschaft mit Buchen, Eichenwäldern sowie Wiesen- und Weideflächen, bevor sie in die Elbe bei Wittenberge mündet.
Im Fluss tummeln sich Lachse und Fischotter. An den Ufern sind Eisvögel und der Schwarzstorch zu Hause. Doch bei Telschow (Prignitz) verwandelt sich der Fluss in einen vier Meter breiten Kanal, der ökologisch einer Wüste gleicht.
Typische Arten wie Bachforelle, Groppe oder Bachmuscheln finden hier keinen Lebensraum mehr, konstatiert Michael Zauft, Projektleiter der Stiftung NaturschutzFonds Brandenburg. Denn in den 1960er Jahren wurde einige Kilometer weiter nördlich die Stepenitz begradigt, um ein paar Hektar zusätzliche Wiesen und Flächen für die Landwirtschaft abzuzweigen, die nun seit Langem nicht mehr genutzt werden, so der Naturschutzexperte.
Neuer Lebensraum für heimische Arten
Seit Mitte September wird ein etwa 430 Meter langer Altarm aufwendig reaktiviert und wieder an den Fluss angeschlossen. Archäologen kontrollieren, wie der Bagger Schlamm, Holz und anderes aus dem Flussbett holt, damit keine historischen Siedlungsstrukturen zerstört werden. Zum Schluss wird der begradigte Flusslauf abgeschnitten und die Stepenitz durch den geschwungenen Altarm geleitet.
Durch unterschiedliche Tiefen und Fließgeschwindigkeiten wird neuer Lebensraum geschaffen. So benötigen Fische und seltene Muscheln kiesige Abschnitte, die in den stark gewundenen Fließgewässern viel häufiger vorkommen. Groppen, Bachforellen oder Elritzen können im Kies ihre Eier ablegen. Die vom Aussterben bedrohte Bachmuschel findet optimale Bedingungen: Eine erwachsene Muschel filtert täglich bis zu 85 Liter Flusswasser und reinigt somit den Fluss.
Natürlicher Flussverlauf schützt vor Hochwasser
Auch der angrenzende Auenwald mit Erlen, Eschen und Eichen am Rand profitiert davon. Auf diese Weise wird das natürliche Überschwemmungsregime mit der natürlichen Dynamik von Hoch- und Niedrigwasser wiederhergestellt. Durch den geschwungenen Flusslauf erhält der Fluss vor dem Ort eine zusätzliche Fläche für Wasserrückhalt, denn bei Hochwasser werden der Auenwald und die angrenzende Wiese geflutet.
Voraussichtlich Ende November soll die Renaturierungsmaßnahmen beendet sein. Die Kosten von rund 300.000 Euro finanzieren sich über das von der Europäischen Union geförderte Projekt LIFE Bachmuschel sowie über Ausgleichszahlungen für die Versiegelung von Flächen, etwa durch den Straßenbau oder die Errichtung von Windkraftanlagen.