Studienbeitragsgesetz nicht verfassungsgemäß?

Nach dem Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Gießen schöpfen die Gegner von Studiengebühren neue Hoffung. Einige Hochschulen wollen nun sogar freiwillig "günstiger" sein als die Konkurrenz

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Wenn wichtige Entscheidungen im gesellschaftlichen Einklang getroffen werden, lässt das Bedürfnis, sie öffentlich immer wieder neu zur Diskussion zu stellen, in der Regel schnell nach. Dass die Reform des deutschen Bildungssystems nun schon seit Jahren die Schlagzeilen bestimmt und die Einführung von Studiengebühren auch nach ihrer Einführung in sieben Bundesländern heftig umstritten ist, deutet folglich auf substantielle Differenzen hin, die auf dem Wege der Legislative nicht einfach überbrückt werden können. Stattdessen sind die Ergebnisse des Gesetzgebungsverfahrens selbst Gegenstand argumentativer und juristischer Auseinandersetzungen geworden, und in Hessen könnte der Landesverfassung tatsächlich gelingen, woran Oppositionsparteien, protestierende Studenten und prominente Gebührengegner bis jetzt gescheitert sind.

Zwei Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Gießen lassen ernste Zweifel daran aufkommen, ob das von der Regierung Roland Koch im Oktober 2006 durchgesetzte Studienbeitragsgesetz verfassungsgemäß ist. Sollte sich der Hessische Staatsgerichtshof, bei dem entsprechende, von knapp 80.000 Bürgerinnen und Bürgern unterstützte Normenkontrollanträge anhängig sind, dieser Einschätzung anschließen, könnten die Verfechter eines gebührenfreien Erststudiums im kommenden Jahr hier möglicherweise einen ersten zählbaren Erfolg verbuchen.

Gesetz mit Signalwirkung?

In anderen Bundesländern waren die Versuche, der Einführung von Studiengebühren mit juristischen Mitteln zu begegnen, bislang kaum von Erfolg gekrönt. Allerdings enthält auch nur die Hessische Verfassung einen Artikel, in dem die Unterrichtsgeldfreiheit generell und ausdrücklich geregelt wird. So sieht § 59 vor:

1) In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch die Lernmittel mit Ausnahme der an den Hochschulen gebrauchten. Das Gesetz muß vorsehen, daß für begabte Kinder sozial Schwächergestellter Erziehungsbeihilfen zu leisten sind. Es kann anordnen, daß ein angemessenes Schulgeld zu zahlen ist, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unterhaltspflichtigen es gestattet. (2) Der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen ist nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen.

Verfassung des Landes Hessen / 1. Dezember 1946

Vor zwei Wochen gab nun das Verwaltungsgericht Gießen der Klage eines Medizinstudenten Recht, der bei seiner Hochschule Widerspruch gegen den zum Wintersemester 2007/08 erhaltenen Gebührenbescheid eingelegt und aufschiebende Wirkung beantragt hatte. In der Begründung machte das Gericht „ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Grundstudienbeitragsbescheides“ geltend und stützte seine Entscheidung im wesentlichen auf zwei Beobachtungen: Das „Studienbeitragsgesetz“ definiere – im Widerspruch zur Verfassung - keinen Personenkreis, der aus wirtschaftlichen Gründen von der Beitragspflicht befreit ist und fordere die Gebühren stattdessen zunächst von allen Studierenden ein. Außerdem werde die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage vom Zeitpunkt der Zahlung auf einen unbestimmten späteren Zeitpunkt verschoben. Am vergangenen Dienstag verpflichtete das Gericht dann die Universität Marburg im Eilverfahren zur Rückerstattung gezahlter Studienbeiträge – ebenfalls wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Hessischen Studienbeitragsgesetzes.

Der AStA der Universität Gießen, der eine To-do-Liste für den juristisch einwandfreien Widerspruch mittlerweile zum Download anbietet und bis Ende November kostenlose Rechtsberatungen mit dem Anwalt Peter Welsch durchführt, plädiert dafür, die verfahrene Situation nun auf politischem Wege zu lösen.

Wir haben einen juristischen Teilsieg erreicht. Nun gilt es, dass die politischen EntscheidungsträgerInnen dafür Sorge tragen, das Urteil umzusetzen. Wir fordern die Landesregierung auf, das Studienbeitragsgesetz sofort zurück zu nehmen und anzuordnen, dass die bisher gezahlten Studiengebühren zurück zu zahlen sind.

Antonia Capito, AStA-Referentin für Hochschulpolitik

Das Präsidium der Justus-Liebig-Universität Gießen hat in der vergangenen Woche beschlossen, gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel einzulegen. Bis auf weiteres werden laufende Widerspruchsverfahren allerdings nicht weiter verfolgt. Anträgen auf Aussetzung der Vollziehung soll vorerst stattgegeben werden.

Einen solchen Teilerfolg würden sich auch die Studierenden in Nordrhein-Westfalen und einigen anderen Bundesländern wünschen. Der AStA der Universität Paderborn fand mit seiner Berufung auf den internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte - wie viele andere Kläger gegen Studiengebühren - bislang allerdings kein Gehör. Nachdem weder das Verwaltungsgericht Minden noch das Oberverwaltungsgericht Münster dem Begehren der Antragssteller entsprechen wollten, versuchen es die Ostwestfalen seit Ende vergangener Woche mit einer Beschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

„Günstige“ Gebühren

Während in Hessen Gebührengegner und –befürworter nun gespannt auf die für das Frühjahr 2008 angekündigte Entscheidung des Staatsgerichtshofes warten, suchen Hochschulen in anderen gebührenpflichtigen Ländern weiter nach eventuellen Standortvorteilen. So wollen sich die Hochschule Aschaffenburg und die Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt eine Entscheidung des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst zunutze machen. Demnach sinkt der von den Hochschulen eingeforderte Abführungssatz für den Sicherungsfonds, mit dem eventuelle Verluste durch die nicht erfolgte Rückzahlung von Studienkrediten aufgefangen werden sollen, von zehn auf drei Prozent. Ob der unmittelbare Anlass für diese Maßnahme ein Grund zur Freude ist oder einen überzeugenden Beweis für die allgemeine Unzufriedenheit mit den Bildungsreformen liefert, darf noch diskutiert werden: Im Sommersemester 2007 hatten nur zwei Prozent aller Empfangsberechtigten ein Studienbeitragsdarlehen in Anspruch genommen.

Die beiden Fachhochschulen wollen die Reduzierung des Abführungssatzes jedenfalls direkt an ihre Studierenden weitergeben, obwohl beide ohnehin „nur“ 400 Euro pro Semester erheben. Ab dem Sommersemester 2008 werden in Unterfranken nun also noch „günstigere Studiengebühren“ in Höhe von 372 Euro pro Semester fällig.

Damit liegen Aschaffenburg und Würzburg-Schweinfurt allerdings immer noch 2 Euro über der Fachhochschule Deggendorf, die – abgesehen vom berufsbegleitenden Bachelorstudiengang Wirtschaftsinformatik und sogenannten Doppelimmatrikulationen – 370 Euro einfordert. Auch andere Fachhochschulen haben sich vom Mehrheitstrend, pro Semester die runde Summe von 500 Euro zu erheben, abgesetzt. Die FH Ansbach, an der darüber hinaus und wie praktisch überall allerdings noch Studentenwerks- (42 Euro) und Verwaltungskostenbeiträge (50 Euro) fällig werden, liegt derzeit ebenso bei 400 Euro wie die FH Kempten, die sich „bewusst vom Höchstsatz distanziert“ hat.

Es geht allerdings auch anders. Die bayerischen Universitäten verlangen durchgängig 500 Euro und gewähren allenfalls im ersten Semester einen kleinen Nachlass, und die Fachhochschule Coburg hat sich ein Stufenmodell ausgedacht, nach dem im Sommersemester 2007 erst 300, im folgenden, jetzt laufenden Wintersemester 400 und im Sommersemester 2008 dann 500 Euro fällig werden.

Immerhin sind die Abweichler im Süden der Republik etwas zahlreicher als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Hier hat sich zwar die große Westfälische Wilhelms-Universität (275 €) dem Mehrheitstrend entgegengestellt, und einzelne Hochschulen wie die FernUni Hagen oder die Kunstakademie Düsseldorf verzichten gleich ganz auf die ungeliebten Studiengebühren. Doch die 500 € haben sich weitestgehend durchgesetzt und werden nur von der Kunstakademie Münster oder der Fachhochschule Gelsenkirchen, die beide 400 Euro erheben, unterboten.

„Auffallend viele Niedersachsen“ in Schleswig Holstein oder: Flächendeckende Gebühren gegen flüchtende Studenten

Die Vermutung, dass die Gebührenfreiheit ein hochschulpolitischer Standortvorteil werden und Studierende zum Verlassen „ihres“ gebührenpflichtigen Bundeslandes animieren könnte, steht seit Jahren im Raum, lässt sich bis dato aber kaum durch Zahlen erhärten. Immerhin sieht man im hohen Norden seit geraumer Zeit genauer hin, und eine örtliche Tageszeitung will zu Semesterbeginn auf dem Campus der Kieler Christian-Albrechts-Universität „auffallend viele Niedersachsen“ ausgemacht haben. Der Anteil der Erstsemester aus Bundesländern mit Studiengebühren soll auf knapp 25 Prozent gestiegen sein und die Zahl der „Studiengebühren-Flüchtlinge“ zum ersten Semester mittlerweile 835 betragen. Uni-Rektor Thomas Bauer glaubt erwartungsgemäß nicht, dass es sich „primär um Studiengebühren-Flüchtlinge“ handelt und hält die scheinbare akademische Zuwanderung für eine simple „Qualitätsentscheidung“.

Der zuständige Minister Dietrich Austermann (CDU) sieht die Entwicklung weniger positiv. Als erklärter Befürworter von Studiengebühren hatte er bereits Ende letzten Jahres vor einer „Verdrängung der Landeskinder“ gewarnt und eine Campusmaut in Höhe von 500 Euro pro Semester gefordert. Austermann will die vorläufige Entscheidung der Großen Koalition gegen Studiengebühren nun noch einmal überprüfen lassen und kann immerhin davon ausgehen, dass Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD), die schon im Sommer 2006 öffentlich über nachgelagerte Beiträge spekuliert hatte, das Thema nicht vollkommen fremd ist. Dabei sollte das Gesetz über die Hochschulen und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein derlei Finten eigentlich ausschließen.

Für ein Studium, das zu einem ersten berufsqualifizierenden Abschluss führt, oder im Fall eines konsekutiven Studiengangs, der zu einem weiteren berufsqualifizierenden Abschluss führt, werden Studiengebühren grundsätzlich nicht erhoben.

Hochschulgesetz Schleswig-Holstein, § 80

Lehre ohne Reputation

Über der Diskussion um das Für und Wider der Studiengebühren schwebt seit jeher die Frage, ob die in Kunden verwandelten Studierenden ein entsprechend hochwertiges Angebot vorfinden. Wenn es um die Bereiche Lehre und Betreuung geht, sieht es bislang nicht danach aus, als ob hier für herausragende Leistungen 500 Euro pro Semester veranschlagt werden könnten.

Der Generalsekretär des Wissenschaftsrates, Wedig von Heyden, hat auf den Herbstsitzungen des Gremiums in Frankfurt am Main vor wenigen Tagen noch einmal nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die „miserable Betreuungssituation“ lange Studienzeiten und hohe Abbrecherquoten verursache und deshalb dringend deutlich mehr Personal eingestellt werden müsse. „Die Lehre hat überhaupt keine Reputation“, meinte von Heyden und forderte insbesondere Qualitätskontrollen für Dozenten, die bislang nur an ihren Forschungsleistungen gemessen würden.

Der Wissenschaftsrat will bis Januar 2008 Empfehlungen zur Verbesserung der Lehrsituation erarbeiten, die allen anders lautenden Absichtserklärungen zum Trotz durch die Einnahme der Studiengebühren bislang offenbar nicht grundlegend verändert werden konnte.

Wer einen Blick auf den IG-Farben-Campus der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main wirft, darf eher das Gegenteil vermuten. Hier wurden zwei – nach Erfahrungsberichten: schlecht beheizte – Container aufgestellt, in denen Studierende fortan ihre Seminare besuchen sollen. Grund zur Beschwerde sieht die Hochschulleitung nicht, denn die Lehrveranstaltungen wurden ihrerseits aus Studiengebühren finanziert. Über die näheren Umstände müssen die Nachwuchsakademiker dann wohl hinwegsehen, und im übrigen gilt das auf der Uni-Homepage Seite für Seite formschön in Szene gesetzte Zitat des weltberühmten Namensgebers: „Es ist nichts schrecklicher als eine tätige Unwissenheit.“