Studium, nein danke!

Für 31 Prozent der Hochschulzugangsberechtigten ist eine akademische Ausbildung keine Option

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"Studieren ist für junge Menschen attraktiv", stellte die alte und neue Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) Ende November fest und verwies zum Beweis dieser allemal gewagten These auf die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Danach entschieden sich im laufenden Jahr 423.600 junge Menschen für die Aufnahme eines Hochschulstudiums. Die sogenannte Studienanfängerquote stieg damit von 40,3 Prozent im Jahr 2008 auf 43,3 Prozent.

Das Erreichen der ominösen Zielmarke von 40 Prozent, die zunächst von zahlreichen Wissenschaftlern und später auch von politischen Verantwortungsträgern eingefordert wurde, war für die Ministerin ein klares Indiz dafür, dass sich Deutschland auf dem langen Weg zur Bildungsrepublik in die richtige Richtung bewegt.

Das ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Die neuesten Zahlen zeigen, dass die Abiturienten in Deutschland ein Studium als attraktiv bewerten. Sie zeigen auch, dass die Maßnahmen des Hochschulpaktes Wirkung zeigen.

Annette Schavan

Dass die doppelten Abitur-Jahrgänge in mehreren Bundesländern und der eminent geburtenstarke Jahrgang 1990 entscheidend zu diesen Rekordwerten beigetragen haben, verschwieg die Ministerin wohlweislich. Auch zum konkreten Verhältnis zwischen den potenziell Hochschulzugangsberechtigten und den realen Studienanfängern wollte Annette Schavan lange Zeit keine Aussage machen. Dabei lagen ihrem Ministerium vermutlich schon seit Juni die Zahlen einer Vorabauswertung für das Jahr 2008 vor. In der Untersuchung "Studienberechtigte 2008 – Studien- und Ausbildungswahl ein halbes Jahr nach Schulabschluss" kommt die vom Bundesministerium beauftragte "Hochschul-Informations-System GmbH" zu einem Ergebnis, das Schavans positive Einschätzungen in keiner Weise rechtfertigt. Knapp ein Drittel der studienberechtigten Schulabgänger hat offenbar nicht die Absicht, der Hochschulreife eine akademische Ausbildung folgen zu lassen.

Die Brutto-Studierquote

Die Autoren Christoph Heine und Heiko Quast haben nach einer Befragung der Studienberechtigten des Jahres 2008 rund 3.100 von insgesamt 6.100 Fragebogen ausgewertet, rechnen aber damit, dass sich die Ergebnisse der jetzt veröffentlichten Vorabauswertung nur marginal von denen der Abschlussbilanz unterscheiden. Die statistische Bandbreite bewegt sich im Rahmen von ein bis zwei Prozentpunkten, insofern ist nicht davon auszugehen, dass die "Brutto-Studierquote", die zu den schlechtesten der letzten 20 Jahre gehört, noch entscheidend verbessert werden kann.

Von den Studienberechtigten des Jahres 2008 haben nach bisherigen Erkenntnissen nur 44 Prozent ein halbes Jahr nach dem Erwerb ihrer Hochschulreife eine entsprechende Ausbildung an einer Universität oder Fachhochschule aufgenommen. Rund 25 Prozent planen ein Studium in der Folgezeit "sicher" ein, 31 wollen darauf verzichten. Damit liegt die Brutto-Studierquote für den Jahrgang 2008 bei 69 Prozent - deutlich unter den Werten von 2002 (73 Prozent), 2004 (71 Prozent) oder 1990 (76 Prozent).

Damit nicht genug. Trotz aller Gleichstellungsbemühungen entscheiden sich Männer noch immer "erheblich öfter" für ein Hochschulstudium als Frauen - die aktuelle Differenz liegt bei 11 Prozent (75 Prozent vs. 64 Prozent).

Zwar ist ein halbes Jahr nach Schulabgang der Anteil der Männer, die bereits ein Studium aufgenommen haben – hauptsächlich durch den von den männlichen Studienberechtigten abzuleistenden Wehr- und Zivildienst – mit 41 % geringer als der Anteil der weiblichen Studienberechtigten mit sofortigem Studienbeginn (46 %). Für die Folgezeit planen aber nur 18 % der Frauen ein Studium, während 34 % der Männer ihre Studienoption nach 2008 noch einlösen möchten.

HIS-Studie "Studienberechtigte 2008" – Vorabauswertung

Dabei gilt es zu beachten, dass diese in vieler Hinsicht suboptimalen Daten noch gar keine Rückschlüsse auf die tatsächliche (Aus-)Bildungssituation zulassen. Die Autoren definieren die "Brutto-Studierquote" als "Anteil aller Hochschulzugangsberechtigten eines Jahrgangs, die ein Studium an einer Universität oder Fachhochschule aufnehmen (werden)" - und zwar "unabhängig vom erfolgreichen Abschluss dieses Studiums". Die extrem hohe Abbrecherquote an deutschen Fachhochschulen und Universitäten - die HIS GmbH bezifferte sie in einer Untersuchung des Jahres 2008 auf 20 Prozent und dokumentierte in den neuen Bachelor-Studiengängen Spitzenwerte von 25 Prozent (Universitäten) und 39 Prozent (Fachhochschulen) - verschärft diese schwierige Ausgangslage in jedem fünften Fall bis zum nicht erreichten Hochschulabschluss.

Finanzielle Gründe ausschlaggebend

Interessanter und aufschlussreicher als die genannten Zahlen sind die Gründe, die junge Menschen mit erworbener Hochschulreife zu dem Entschluss bewegen, am Ende auf ein Fachhochschul- oder Universitätsstudium zu verzichten. Heine und Quast konnten feststellen, dass den finanziellen Aspekten "sehr häufig eine hohe Bedeutung" zukommt. Der föderale Flickenteppich der hier nicht geplanten, dort aber eingeführten, andernorts wieder abgeschafften und irgendwo neu zur Disposition stehenden Studiengebühren verunsichert potenzielle Nachwuchsakademiker offenbar ebenso wie die Flut leerer Versprechungen in Sachen Studienfinanzierung und eine Reihe anderer Fehlstellungen.

Folgerichtig nennen die Befragten neben dem Wunsch, möglichst schnell selbst für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können, gleich mehrere finanzielle Gründe, die gegen die Aufnahme eines Hochschulstudiums sprechen. Drei von ihnen schaffen den Sprung unter die „TOP5“ der wichtigsten Aspekte und spiegeln die seit vielen Jahren diskutierte Schieflage im deutschen Bildungssystem überdeutlich wider. Den Nicht-Studierenden fehlen ganz allgemein „die nötigen finanziellen Voraussetzungen eines Universitäts- oder Fachhochschulstudiums“, sie haben Sorge, dass sich die Kredite zur Ausbildungsfinanzierung irgendwann in einen Schuldenberg verwandeln und gehen davon aus, dass vor allem die Studiengebühren ihr Budget übersteigen werden.

Teure Dienstleister mit fragwürdigen Produkten

Doch es geht keineswegs nur um pekuniäre Fragen, wenn sich junge Menschen mit möglichen oder von vornherein ausgeschlossenen Berufsperspektiven beschäftigen. In der Liste der elf wichtigsten „Gegenargumente“ tauchen einige Aspekte auf, die auch von der Streikbewegung des Jahres 2009 moniert werden:

  • geringer Praxisbezug eines Hochschulstudiums
  • unsichere Berufsaussichten in der in Frage kommenden Studienrichtung
  • unkalkulierbare und unübersichtliche Anforderungen eines Studiums
  • lange Wartezeiten durch Zulassungsbeschränkungen im angestrebten Studienfach

Die stark verbesserungsbedürftige Ausstattung vieler Universitäten und Fachhochschulen, überfüllte Veranstaltungen und die mitunter katastrophalen Lehr- und Lernbedingungen haben der deutschen Hochschullandschaft einen schwer reparablen Imageschaden zugefügt, der sich vor allem dann negativ auswirkt, wenn die akademischen Ausbildungsstätten zu Dienstleistungszentren und ihre Studierenden zu Kunden umfunktioniert werden sollen.

Lehrende der Kölner Universität beklagten vor einigen Tagen in diesem Sinne die „Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche“, die auf dem Bildungssektor durch die umstrittene Bologna-Reform vorangetrieben werde.

Die Unterscheidung zwischen Universität, Fachhochschule und Studienangeboten von Discountern (Aldi) oder Elektromärkten (Saturn) ist nivelliert. Ein Vergleich fällt möglicherweise sogar zu Ungunsten der Universität aus, da die anderen Anbieter das Versprechen der Berufsqualifizierungen tatsächlich einlösen können.

Lehrende der Universität zu Köln: Kölner Erklärung. "Zum Selbstverständnis der Universität"

Vor allem bekommen die Kunden von Discountern und Elektromärkten zum vorab festgelegten Preis die gewünschte Ware und haben überdies die Möglichkeit, Produkte zu reklamieren, wenn sie den gewünschten Zweck verfehlen oder ihren Vorstellungen nicht entsprechen. Davon kann im Unternehmen „Hochschule“ derzeit kaum die Rede sein. Die Unterzeichner der „Kölner Erklärung“ sehen in einem Bekenntnis der Hochschulen zu ihrem Bildungsauftrag eine Möglichkeit, das eigene Selbstverständnis neu zu definieren und eine inhaltliche Basis für spätere Berufsperspektiven zu entwickeln.

Die ökonomistische Verkürzung des Studiums nach Maßgabe vermeintlicher Arbeitsmarkterfordernisse dient lediglich Partikularinteressen. Bildung dagegen dient immer dem gesellschaftlichen Allgemeinwohl. Die Universität realisiert diese Aufgabe nur in Freiheit: Sie darf weder von den Verwaltenden, noch von Lehrenden und Studierenden als Dienstleistungsbetrieb verstanden werden. Freie Forschung ohne Drittmittelhatz und Verwertbarkeitsdoktrin ist die Voraussetzung für Erkenntniszuwachs und Innovation! Umfassend gebildete Studierende sind in jedem Beruf erfolgreich und werden zu verantwortungsbewussten Gestaltern von Kultur und Gesellschaft.

Lehrende der Universität zu Köln: Kölner Erklärung. "Zum Selbstverständnis der Universität"

Das klingt euphorisch, ist aber durchaus nicht realitätsferner als die Einführung eines Bachelor-Studiums, dessen Absolventen nach sechs Semestern Schmalspurstudium feststellen müssen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt nicht annähernd die Chancen haben, die ihnen zuvor in Aussicht gestellt wurden.

Versuch einer Imagekorrektur: Ein Sonderprogramm für vier Milliarden Euro

Angesichts der nicht übertrieben zahlreichen, aber vielerorts anhaltenden Studentenproteste, die durch die aktuelle Studie der HIS GmbH argumentativen Beistand bekommen, steht der zweite Bildungsgipfel, der am 16. Dezember stattfinden soll, unter verschärfter Beobachtung. Um diese Zusammenkunft nicht erneut in Absichtserklärungen versanden zu lassen, meldete sich nun der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende und nordrhein-westfälische „Innovationsminister“ Andreas Pinkwart zu Wort. Er fordert – wohl vor allem vom eigenen Koalitionspartner - ein „Hochschulsonderprogramm des Bundes“, um die Betreuungsrelation an deutschen Hochschulen entscheidend zu verbessern. In den kommenden zehn Jahren sollen zusätzlich 5.000 Stellen für Juniorprofessoren und wissenschaftliche Mitarbeiter geschaffen werden.

Ein solches Sonderprogramm würde den entleerten Bundeshaushalt weitere vier Milliarden Euro kosten, doch die zuständige Bundesministerin signalisierte noch am selben Tag prinzipielle Gesprächsbereitschaft.

Der Koalitionsvertrag und die laufenden Gespräche mit den Ländern über Verbesserungen in der Lehre sind eine gute Grundlage, um auch diesen Vorschlag zu beraten. Die Ministerin teilt die Einschätzung, dass bei allen Investitionen des Bundes und der Länder in den nächsten Jahren die Verbesserung der Betreuungsrelationen und die Qualität der Lehre hohe Priorität haben müssen.

Bundesministerium für Bildung und Forschung, Sprecher-Statement vom 7.12.2009

Aber haben sie das nicht schon seit vielen Jahren, ohne das bislang zählbare Ergebnisse registriert werden konnten?

Prämie für Leistungsträger

Andreas Pinkwart plädiert allerdings nicht nur für spontane Sonderausgaben, die wünschenswert sein mögen, aber keine grundlegende Strukturreform einleiten, sondern vor allem für die schnellstmögliche Umsetzung des nationalen Stipendienprogramms, das schon zum Wintersemester 2010/11 eingeführt werden soll. Zeitgleich mit einer mutmaßlichen Erhöhung des BAföG will Pinkwart im Einvernehmen mit dem großen Koalitionspartner rund zehn Prozent der Studierenden 300 Euro pro Monat zukommen lassen – als Prämie für vermeintliche Leistungsträger, denn soziale Aspekte spielen bei der Vergabe keine Rolle.

Der „freie zusammenschluss von studentInnenschaften“ (fzs) hat dieses Vorhaben bereits mehrfach scharf kritisiert, und tatsächlich ist kaum vorstellbar, dass die nächste Studie zur Situation der Studienberechtigten in Deutschland unter diesen Umständen Fortschritte vermelden kann.

Die Studienfinanzierung muss bedarfsgerecht, herkunfts- und altersunabhängig gestaltet werden. Die StudentInnen dürfen nach Abschluss des Studiums nicht vor einem Schuldenberg stehen. Nur so ist gewährleistet, dass jedeR, unabhängig vom finanziellen Hintergrund, ein den individuellen Neigungen und Fähigkeiten entsprechendes Studium beginnen und erfolgreich abschließen kann.

freier zusammenschluss von studentInnenschaften