Syrien vor der Zeitenwende: Assad ist gestürzt
Die Epoche Assad ist vorbei. Aus Damaskus gibt es Jubelszenen. Sieger sind Dschihadisten von Hay'at-Tahrir-asch-Scham. Wer wird Syrien regieren?
Manche Ewigkeiten sind überraschend schnell vorbei. Syrer in ihrem Land, wie auch solche, die in andere Länder geflüchtet sind, wachen, sofern sie in diesen Tagen überhaupt schlafen konnten, heute in einer anderen Realität auf.
Baschar al-Assad gehört nun ebenfalls zu den syrischen Flüchtlingen. Er hat, wie auch seine Familie, das Land verlassen. Diese Nachricht wurde vom russischen Außenministerium mittlerweile bestätigt, wie die New York Times meldet. Wo er Schutzstatus erlangt hat, ist noch nicht bekannt.
Seine Macht ist zu Ende. Laut Reuters hat die syrische Armeeführung Offizieren am frühen Morgen des heutigen Sonntag mitgeteilt, dass diese Herrschaft beendet sei. Als Quelle wird ein syrischer Offizier genannt, der über diesen Schritt informiert war.
Indessen gaben die Dschihadisten via TV bekannt, dass sie nun in der Hauptstadt das Sagen haben.
Machtwechsel in Damaskus
Es ist nicht die einzige Nachricht, die heute vom Ende einer Epoche kündet. Der syrische Regierungschef Mohamed al-Dschalali gab bekannt, dass er zur Zusammenarbeit "mit einer vom syrischen Volk gewählten Führung" bereit sei, wie die Nachrichtenagentur meldet.
Das korrespondiert mit einem Statement des russischen Außenministers Lawrow, der gestern nach einem Treffen in Doha von Staaten, die im sogenannten Astana-Format über die nähere Zukunft Syriens berieten, das Signal zu einer Zusammenarbeit gab:
"Wir fordern ein sofortiges Ende der Feindseligkeiten und die Aufnahme eines Dialogs zwischen der Regierung und den legitimen Oppositionskräften."
Russland bildet zusammen mit Iran die Schutzmacht der Regierung Assad. Die Aussage, obwohl in zurückhaltender diplomatischer Form gehalten, macht deutlich, dass auch Russland den Wechsel der Macht in Damaskus nicht aufhalten wird.
Wer wird Syrien regieren?
Wer aber ist "legitime Opposition"? Wer wird Syrien regieren? Welche Teile von Syrien? Wer wird den politischen Prozess bestimmen? Wer wird den Wiederaufbau finanzieren? Und schließlich: Wird sich die Situation in Syrien so verändern, dass Millionen von Geflüchteten wieder ins Land zurückkehren?
Das sind die großen Fragen, die sich seit den Geschehnissen der letzten Tage, die auf ein Ende der jahrzehntelangen Herrschaft der Assad-Familie und ihrer Verbündeten hinausliefen, auftürmen.
Angesichts der komplizierten Lage im Mehrfrontenland, in dem die Kämpfe, geführt mit unterschiedlichen Interessen, weitergehen (siehe dazu die Überblickskarte von Fabrice Balanche, einem Geografie-Professor, der sich seit vielen Jahren mit den territorialen Machtkämpfen in Syrien beschäftigt), sind diese Fragen nicht einfach und vor allem nicht schnell zu beantworten.
Die Rolle der Dschihadisten der Hay'at-Tahrir-asch-Scham (HTS)
Herausragend ist die Rolle der Dschihadisten der Hay'at-Tahrir-asch-Scham (HTS) beim Machtwechsel. Für Russland und Iran ist sie – noch? – keine legitime Opposition. In den USA wird sie als "Terrororganisation" geführt.
Es sind Mitglieder der HTS, die im Staatsfernsehen das Ende der 24-jährigen Herrschaft von Baschar al-Assad verkündeten. Und es sind HTS-Milizen-Kämpfer, die den Machtwechsel mit ihrer erfolgreichen Offensive auf Aleppo einläuteten.
Die Islamisten der sogenannten Syrischen Nationalen Armee, die unter türkischer Ägide stehen, schlossen sich dem Vormarsch an – mit eigenen Zielen. Dem türkischen Präsidenten Erdogan geht es vorderhand um Gebiete im Norden Syriens, wo er die Kurden bekämpft.
Ein neues Bild auch für Erdogan
Von der Dynamik der Eroberungen der HTS entlang der großen Verkehrsader in Syrien überrascht und davon, dass die Regierung in Damaskus urplötzlich durch Geschehnisse im Süden des Landes fallen konnte und augenscheinlich gefallen ist, steht auch er vor einem neuen Bild.
Wie er sich hier positionieren wird, gehört zu den wichtigsten Faktoren in der neuen syrischen Machtphysik.
HTS: Jetzt in Damaskus
Der zentrale Player, der bis dato die wichtigsten Vorgaben im Land macht, ist die HTS unter Führung von Abu Muhammad al-Dscholani (auch al-Dschaulani, al-Golani oder : al-Jolani). Die blitzartige Eroberung Aleppos durch die Herrscher der Provinz Idlib war jahrelang vorbereitet, schrieb der Kenner der Dschihadisten in Syrien, der französische Journalist Wassim Nasr, als die HTS-Milizen die weltweite Öffentlichkeit mit dem ersten militärischen Großerfolg in Syrien überraschten.
Nun sind sie in Damaskus und nicht nur in Syrien muss man sich neu mit ihnen auseinandersetzen. HTS hat eine Vergangenheit, die von al-Qaida geprägt ist, die beim Entstehen der al-Nusrah-Front, dem Ursprung der HTS, eine maßgebliche Rolle spielt.
Al-Dscholani hat sich vor Jahren von al-Qaida losgesagt und die Dschihad-Experten streiten sich seither darüber, wie viel al-Qaida noch den ideologischen Kern der HTS ausmacht. Deren Herrschaft in Idlib steht unter den Gesetzen der Scharia.
Im Unterschied zur al-Qaida und zu dschihadistischen Konkurrenten wie dem IS verzichte man auf den globalen Dschihad, wird vonseiten Dscholanis seit vielen Jahren in die öffentliche Wahrnehmung gestreut. Irgendwann wechselte er auch seinen Anzug und trat so auf, dass er sich als für den Westen akzeptabler politischer Verhandler präsentierte.
Ein Ziel hat er erreicht: An ihm führt derzeit kein Weg vorbei.
Die Zeitenwende bei den Dschihadisten
Wie Nasr, der seit vielen Jahren über exklusive Verbindungen zur dschihadistischen Szene verfügt – im letzten Jahr führte er ein seltenes Interview mit al-Dscholani in Idlib – , die letzten Tage berichtete, wurde der Vorstoß der HTS-Milizen-Kämpfer mit großer Disziplin und Achtung vor der Bevölkerung und der staatlichen Institutionen durchgeführt. Es gab Orders wie etwa:
Keine Schüsse in die Luft, das terrorisiert die Einwohner/gefährlich. Kämpfer sollen Innenstädte evakuieren und sich an die Fronten begeben. Öffentliche Einrichtungen verschonen, da sie dem Volk gehören. Privatwohnungen/-grundstücke nicht öffnen. (…) Alle Regierungsinstitutionen, internationalen Organisationen (NGOs) und UN-Büros stehen im Dienst des Volkes und es ist unsere Pflicht, sie zu schützen. (...) sie werden geschützt werden.
HTS-Order laut Wassim Nasr
Das Ziel der HTS sei, so übermittelt es der französische Kenner des Milieus, Orte für die Bevölkerung zurückzuerobern, die von dort geflüchtet sind. Das Gelingen wird nun von Jubelbildern begleitet, aktuell auch aus Damaskus, wo die Machtübernahme als erstaunlich ruhig geschildert wird.
Dass al-Dscholani mit harten, brutalen und mörderischen Methoden für Disziplin sorgen kann, hat er die letzten Jahre in Idlib bewiesen, wo er die dschihadistische Konkurrenz ausschaltete. Welchen Kurs wird er nun verfolgen, da die Machtverhältnisse in Syrien vor einer Zeitenwende stehen?
Das Vorbild: Die Taliban
Al-Dscholanis großes Vorbild sind die Taliban. Weswegen große Vorsicht bei der Beurteilung einer Machtübernahme mit harmlosen Konsequenzen angeraten ist.
Die große Furcht vor einem Machtwechsel in Syrien war die Aussicht auf blutige Abrechnungen, auf eine brutale Fortsetzung des Mehr-Fronten-Bürgerkriegs, auf Verhältnisse wie im failed-state-Libyen.
Bislang bestimmt dieses Horrorbild nicht die große Lage in Syrien. Es könnte aber so kommen in einem Land, das zu einem "islamischen Emirat" wird, wie viele erregte Beiträge im Debattenforum X/Twitter befürchten.
Das würde neue Fluchtbewegungen aus Syrien zur Folge haben, was keines der Nachbarländer will.
Optimistisches Szenario: Die Rückkehr der syrischen Kriegsflüchtlinge
Was die Flüchtlinge aus Syrien angeht, so finden sich in den letzten Tagen immer häufiger auch Stimmen, die die Hoffnung äußern, dass sich die Lage in Syrien so konsolidieren könnte, dass für viele der Rückweg neu offensteht.
Viel hängt nun vom Interessenspiel der internationalen Mächte und der politischen Zusammenarbeit ab, die der syrische Regierungschef Mohamed al-Dschalali in Aussicht gestellt hat. Und nicht zuletzt von Fraktionskämpfen und Machtansprüchen innerhalb der sehr heterokliten islamistischen und dschihadistischen Opponenten der gestürzten Regierung.
Welche Art von Herrschaft wird es geben? Wer wird die Verfassung ändern? Wird Syrien aufgeteilt?