Tabu mit Geschichte: Warum gibt es keine politischen Streiks in Deutschland?
Gründe dafür gäbe es genug. Doch der Einsatz dieses Druckmittels wird durch zwei Dinge verhindert: Durch ein repressives Streikrecht und die verbreitende Ideologie der Standortlogik.
Wer in den letzten Tagen die Israel-Berichterstattung in den deutschen Medien gelesen hat, hätte denken können, das Land sei durch einen Volksaufstand gerade noch einmal davor bewahrt worden, in eine Diktatur abzugleiten. Da freut man sich über die nüchterne Einschätzung des konservativen Juristen Alan M. Dershowitz im Magazin konkret. Dershowitz, ein Gegner der umstrittenen Justizreform, stellte dort klar, dass auch bei einer Umsetzung der Maßnahmen die israelische Demokratie keineswegs in Gefahr gewesen wäre.
Da aber durch sie in die Bürgerrechte eingegriffen würde, ist er trotzdem dagegen. Dershowitz zeigte sich in dem konkret-Interview auch verwundert über das obsessive Interesse deutscher Medien an der israelischen Innenpolitik. "Lasst Israel in Ruhe" ist seine klare Ansage. Die Ereignisse der letzten Tage geben ihm Recht. Eine Massenbewegung setzte der Rechtsregierung Grenzen.
Dass in der gesamten Auseinandersetzung auch der lange Kampf zwischen den Juden, deren Vorfahren aus Westeuropa kamen und denen aus dem Rest der Welt, eine nicht unwesentliche Rolle spielte, wird dabei oft übersehen. Schließlich hatten die Menschen mit westeuropäischem Hintergrund lange die Politik des Landes bestimmt. Im Parlament sind sie mittlerweile in der Minderheit, daher kämpfen sie so vehement dafür, dass sie zumindest über die Justiz mitreden können.
Dershowitz hat Recht, wenn er erklärt, dass ein Gericht nicht entscheiden sollte, welcher Minister in einer israelischen Regierung sitzt, wie es bisher geschehen ist. Wenn es hingegen um die Bürgerrechte von Minderheiten geht – und das sind in Israel auch arabische Bürger – sollten die Gerichte sogar noch aktiver und keineswegs eingeschränkt werden.
Warum keine Proteste gegen Wahlrechtsreform in Deutschland?
Auffällig ist, dass all die Medien, die sich so um die Demokratie in Israel sorgen, sich nicht ebenso besorgt fragen, warum es in Deutschland keine Proteste gegen die kürzlich mit der Parlamentsmehrheit beschlossene Wahlrechtsreform gibt. Sie würde schließlich dazu führen, dass mindestens Die Linke schon nach ihren Wahlergebnissen von 2021 nicht mehr im Bundestag vertreten wäre.
Dass aber eine Regierungsmehrheit mit dem Verweis, die Zahl der Abgeordneten zu verkleinern, damit auch über deren Zusammensetzung entscheidet, wird scheinbar nur von wenigen als demokratiegefährdend angesehen und ist kein Grund für Straßenproteste. Dass es in der SPD jetzt Modifizierungsvorschläge für die Wahlrechtsreform gibt, die eine Senkung der bisherigen Fünf-Prozent-Hürde vorsieht, ist eine Geste an die CSU, die besonders heftig gegen die Neuregelung auf ihre Kosten protestiert hat.
Die Linke wird da, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Nicht wenige würden sich freuen, wenn sie aus dem Parlament verschwindet. Man braucht nicht zu erwarten, dass die Proteste gegen die Wahlrechtsreform Ausmaße wie gegen die Justizreform in Israel oder die Anhebung es Renteneintrittsalters im Nachbarland Frankreich annehmen würden.
Aber einige Tausend Menschen hätte man sich schon mit der Parole "Hände weg von unserem Wahlrecht" vor dem Bundestag gewünscht. Dass Proteste wie in Israel oder unserem Nachbarland Frankreich in Deutschland aktuell nicht denkbar sind, liegt nicht nur an den politischen Kräfteverhältnissen. Diese Proteste inklusive politischer Generalstreiks wären in Deutschland schlicht illegal und würden von der Polizei bekämpft und den Gerichten geahndet.
Repressives Streikrecht in Deutschland
"Im internationalen Vergleich ist das Streikrecht in Deutschland eines der strengsten in Europa", heißt es in einer Erklärung der GEW Berlin, die an einer Initiative für ein umfassendes Streikrecht beteiligt ist, das es aktuell in Deutschland nicht gibt. Beamtinnen und Beamte haben in Deutschland kein Streikrecht und jeder politische Streik ist in Deutschland verboten.
Das ist ein Erbe von Hans Carl Nipperdey, der bereits in der NS-Zeit für die Arbeitsgesetzgebung der "deutschen Volksgemeinschaft" zuständig war. In den 1950er-Jahren sorgte er mittels Richterrecht dafür, dass in Deutschland bis heute der politische Streik verboten ist. Nipperdey wie andere konservative Juristen sahen darin einen Angriff von gewerkschaftlichen Minderheits- beziehungsweise Sonderinteressen gegen den vorgeblich das Gemeinwohl vertretenden Staat.
Hier kommt ein Staatsverständnis zum Tragen, das mit dem NS-System nicht begonnen hat und nie überwunden wurde. Das hat Folgen bis heute: Streiks wie in Israel, wo die dortigen Gewerkschaften gegen die Justizreform auf die Straße gehen oder wie in Frankreich, wo sie gegen die Rentenreform mobil machen, wären hierzulande schlicht illegal.
Gewerkschaften wären zumindest mit hohen Schadenersatzforderungen konfrontiert. Dass es dabei nicht um Theorie geht, zeigte sich am 3. März, als Klimastreik und Klassenkampf für einen Tag zusammenkamen. Sofort liefen Kapitalvertreter und ihnen nahestehende Medien Sturm gegen dieses Bündnis. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Arbeitgeberverbandes, Steffen Kampeter, sprach von einer "gefährlichen Grenzverletzung" und stellte fest: "Streiks sind zulässig, um Tarifverträge zu erreichen, die Arbeitsbedingungen regeln".
Danach winkte er schon mal mit den repressiven Instrumenten: "Wer aber Arbeitskämpfe und allgemeinpolitische Ziele miteinander vermischt, gerät schnell auf ein Spielfeld jenseits unserer Tarifautonomie." Als am Montag dieser Woche für einen Tag ver.di und Eisenbahngewerkschaft EVG einen eintägigen Warnstreik ausriefen, kam erneut die Warnung für einen angeblichen Missbrauch des Streikrechts – und das in einem der Länder mit den wenigsten Streiktagen in Europa.
Standortlogik in den Köpfen auch von Gewerkschaften
Dabei achteten die DGB-Gewerkschaften schon selbst akribisch darauf, dass im Warnstreik bloß nicht politische Fragen angesprochen werden. Dafür ist die Angst vor dem repressiven Streikrecht nur einer der Gründe. Auch die meisten Gewerkschaften haben die Standortlogik verinnerlicht. Sie wollen größere Arbeitskämpfe möglichst vermeiden und sehen daher den Warnstreik vor allem als Instrument, damit die andere Seite endlich ein Tarifangebot macht, das sie annehmen können.
Das zeigte sich erst Mitte März, als die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit einem überwältigenden Votum der gewerkschaftlich organisierten Postbeschäftigten für einen Erzwingungsstreik im Rücken sofort wieder in Verhandlungen mit der anderen Seite eintrat und einen Abschluss akzeptierte, der für viele Beschäftigte einen Reallohnverlust in Zeiten von hoher Inflation bedeutet. Wenn schon die Gewerkschaft nicht in der Lage oder Willens ist, ihre eigene Tarifforderung von mindestens 15 Prozent Lohnerhöhung durchzusetzen, ist klar, dass mit solchen Gewerkschaften auch nicht der Kampf um den politischen Streik geführt werden kann.
Die deutsche Regierung ist also – anders als die Regierungen in Frankreich und Israel – sicher vor gewerkschaftlichen Druck. Dabei könnten die Gewerkschaften den Kampf um ihre sozialpolitischen Forderungen aufnehmen und damit eine Regierung real unter Druck setzen, die aktuell nur zwei Dinge zusammenhalten: Der eigene Machterhalt und die Aufrüstung der Ukraine.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass in einer Zeit, in der sich eine Regierung zu Mammutsitzungen treffen muss, um weitere Formelkompromisse zu erzielen, während sie ohne große Diskussionen 20 Panzer an die Ukraine geliefert hat. Wenn die Regierung schon sonst nicht viel zustande bringt, hier ist sie sich einig Mit größeren antimilitaristischen Protesten und gar mit Streiks gegen Waffenlieferungen wie in Italien ist hierzulande nicht zu rechnen.