Talkshow-Kritik: Völlige Einseitigkeit und ein nationaler Wir-Diskurs

Seite 2: Die Talkshows dienen dazu, am und für das Phantasma des "Wir" zu arbeiten

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Können Sie Beispiele anführen?

Matthias Thiele: Ein Themenkomplex waren zum Beispiel die "Drohungen der Griechen" beziehungsweise der "Linksregierung in Athen", die den Deutschen und Europäern mit Neuwahlen oder einem Referendum, mit Flüchtlingsströmen, mit Reparationsforderungen, der Enteignung deutschen Eigentums, mit der Forderung von Ausgleichszahlungen für die Russland-Sanktionen und durch die Koalitionsbildung mit der ANEL drohten. Das Bedrohungsszenario der griechischen Drohungen wurde nun keineswegs überall gleichlautend wiederholt. Vielmehr tauchte es in den Sendungen variationsreich auf: mal durch einen spontanen Redebeitrag, mal durch eine konzeptuell durchgearbeitete Anmoderation, mal durch einen eingespielten filmischen Redaktionsbeitrag.

Ein anderes Beispiel: Die Koalition mit der ANEL wurde in einer Sendung in einem relativ langen Streitgespräch zwischen Armin Laschet und Alexis Passadakis thematisiert, in einer weiteren Sendung wurde sie von Thomas Oppermann dazu genutzt, um von Katja Kipping eine moralische Distanzierung der Linken von der Schwesterpartei Syriza zu fordern, und in einer dritten Sendung wurde auf die Koalition von Dorothea Siems, der Chefkorrespondentin "Der Welt", dadurch angespielt, dass sie die griechische Regierung einfach und unwidersprochen als "rechts-links-radikale" Regierung bezeichnete. Die beiden Beispiele verdeutlichen zweierlei, erstens die Variation und dass zweitens in den Talkshowgesprächen stets unterschiedliche Taktiken und Kräftelinien zusammenwirken. Insofern lässt sich kaum von einer Gleichschaltung sprechen.

Eine alternative Erklärung könnte lauten, dass die Talkshows allesamt vor allem dazu dienen, am und für das Phantasma des "Wir" zu arbeiten. Da diese kontinuierliche Arbeit im Fall der Griechenland-Talkshows dominant über die Front "Wir Deutschen und Europäer" versus "die Griechen" verlief, setzten sich als Effekt der symbolischen Frontbildung Affekte wie Antipathie, Gegenidentifikation und entschlossene Ablehnung in den Talkshowproduktionen breitenwirksam durch. Mit dem negativen Charakterbild der griechischen Regierung und der Griechen wurde implizit immer auch zugleich ein phantasmatisches Idealbild des "deutschen und europäischen Wir" evoziert: Im Gegensatz zu den Griechen sind wir eben "erfahren", "kompetent", "professionell", "vertrauens- und glaubwürdig", "regierungsfähig", "bereit Verantwortung zu übernehmen", "realistisch" und "fleißig" - mit einem Wort: "realpolitisch."

In Ihrer Untersuchung führen Sie an, dass bereits an den Titeln der jeweiligen Talkshows abgelesen werden kann, wie groß die inhaltliche Schlagseite der Sendung sein würde. Sie haben bereits einige Titel angesprochen, aber nochmal: Welche Titel sind Ihnen denn besonders negativ aufgefallen?

Matthias Thiele: Wie schon gesagt, meist war bereits in den Titeln die Frontenbildung von "Wir" versus "die Anderen" eingeschrieben, die die Marschrichtung der Talkshowdiskussion vorgab. Sie schuf für den griechischen Gast oder den deutschen Vertreter und Fürsprecher der griechischen Haltung eine äußerst ungünstige Ausgangsposition. Darüber hinaus entwarfen die Sendungstitel imaginäre Bedrohungssituationen für die Deutschen und Europa und spielten ein negatives Charakterbild von den Griechen und der griechischen Regierung an und aus. Dabei stehen sich die Titel der Sendungen in nichts nach. Um nun einige zu nennen:

  • "Nach der Kampfansage aus Athen - Ist Merkels Europa noch zu retten?"
  • "Athen gegen Europa - Sind die Griechen noch zu retten?"
  • "Griechen auf Werbetour - Wie hoch pokert Tsipras?"
  • "Griechenlands Schuldenpoker - Zieht uns der Süden über den Tisch?"
  • "Griechen-Poker im Bürgercheck - Ist das unser Europa?"
  • "Unbeirrt oder unverschämt? - Athen auf Kollisionskurs"
  • "Geduld am Ende - Großer Knall um Griechenland"
  • "Der Euro-Schreck stellt sich - Varoufakis bei Günther Jauch"
  • "Griechenland am Abgrund - Stolpert die Regierung Tsipras einen Schritt nach vorn?"
  • "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Müssen wir diese Griechen retten?"
  • "Putin, NATO, Griechenland - Wer spaltet Europa?"

In ihrer Übertreibung und Bildlichkeit, ihren zugespitzten Szenarien und negativen Schreckfiguren unterscheiden sich die Titel kaum voneinander.

Nehmen wir die Titel "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Müssen wir diese Griechen retten?" und "Unbeirrt oder unverschämt? - Athen auf Kollisionskurs." Was konkret stört Sie daran?

Matthias Thiele: Beide arbeiten, wie all die anderen Titel auch, mit Zuspitzungen. Dadurch sollen die Titel eine spezifische Funktion erfüllen. Es geht nicht alleine um die Themenankündigung, sondern vor allem setzen die Titel auf Provokation, um das Programm der Talkshows einzulösen, nämlich eine Debatte anzuheizen und eine kontroverse Diskussion zu garantieren. Das ist ein Aspekt, der des Aufhebens nicht Wert ist. Die Übertreibungen sind aber zu einem hohen Grad ernst gemeint.

Die Titel und die sie begleitende Moderation werden dramatisierend, alarmistisch und moralisierend intoniert und vorgetragen. Der "Kollisionskurs" im zweiten Titel zählt zu dem Mechanismus, ein Denormalisierung- und Bedrohungsszenario an die Wand zu malen. Beide Titel sind, nüchtern betrachtet, Einladung und Legitimation zur Beleidigung, Diffamierung, Beschimpfung und Hetze. Viele Titel sind diesbezüglich skrupellos, können aber jederzeit als harmlos verteidigt werden, weil sie ja ganz offensichtlich lediglich zur Unterhaltungsdimension der Talkshow gehören.

Manchmal packt die Talkshowmacher und Fernsehverantwortlichen dann aber doch offenbar der Skrupel. Der "Hart aber fair"-Titel "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Müssen wir diese Griechen retten?" fand sich so nämlich nur in den Programmzeitschriften abgedruckt. Ausgestrahlt wurde die Sendung dagegen mit dem Titel "Pleite, Beleidigt, und Dreist - Hat Griechenland dieses Image verdient?" Die erste Version des Titels, die dem Diskussionsverlauf der Sendung leider viel gerechter geworden wäre, ist die Front bildende Binäropposition "Wir" versus "die Griechen" deutlich eingeschrieben.

Was können Sie noch zu den Titeln sagen?

Matthias Thiele: Auffällig sind die Fragezeichen, die in zwei Richtungen funktionieren. Manche Fragen evozieren eine knappe "Ja"- oder "Nein"-Antwort. Andere wiederum verlangen erst gar keine Antwort, weil das Fragezeichen rhetorischen Status hat, um mit der Frage eine indirekte Behauptung zu setzen.

Insofern sind die aufgelisteten Titel eigentlich so zu lesen: "Die Griechen sind nicht zu retten", "Tsipras pokert hoch", "Der Süden zieht uns über den Tisch", "Nein, das ist nicht unser Europa", "Die Griechen sind unverschämt", "Griechenland stürzt in den Abgrund", "Nein, diese Griechen müssen wir nicht retten", "Griechenland spaltet Europa". Solche thematischen Setzungen und Wertungen erschweren es selbstverständlich ungemein, innerhalb des Fernsehtalks Raum für andere Perspektiven auf das Thema zu schaffen.