Terroranschlag auf Weihnachtsmarkt: "Super-GAU für die beteiligten deutschen Sicherheitsbehörden"

Seite 2: Schlimmer Fall von Staatsversagen?

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Bei dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt wurden 12 Menschen getötet, viele schwer verletzt. Das richtete sich gegen deren "Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit."

Dieter Deiseroth: Für die Aufgaben und die Befugnisse der zuständigen Behörden der Inlandsgeheimdienste und der Polizei kommt es auf die Erkenntnislage im Vorfeld des Anschlages an. In der Tat: Aufgrund der von Amri gegenüber den informellen Mitarbeitern (Vertrauenspersonen) des LKA Nordrhein-Westfalen seit November 2015 wiederholt angekündigten Anschlagsabsichten mit dem Ziel der Tötung einer größeren Zahl von Menschen standen diese Grundrechte und damit zentrale Schutzgüter der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" in Rede.

Q. Wie meinen Sie das?

Dieter Deiseroth: Da es in Gestalt der Personen, die die Aktenvermerke im Herbst 2015 und März 2016 über ihre Gespräche mit Amri gefertigt hatten, sogar Zeugen für eine von Amri verbal angekündigte schwere Straftat gab, waren hinreichende Anhaltspunkte sowohl für eine polizeilich präventiv abzuwehrende Gefahr einer schweren Straftat als auch für von den Verfassungsschutzbehörden im Vorfeld aufzuklärende "Bestrebungen" i.S.v. § 3 Nr. 1 BVerfSchG (bzw. der Landes-Parallelbestimmungen) Amris vorhanden. Solange ein solch schwerer Verdacht nicht ausgeräumt war, stand er im Raum und verlangte entsprechendes praktisch wirksames Tätigwerden.

Nun war es so, dass - zumindest ist das der Stand der Dinge - zwischen September 2016 und dem Tag des Anschlags wirksame Maßnahmen gegen Amri unterblieben sind. Was genau heißt das?

Dieter Deiseroth: Angesichts der dargelegten Umstände ist die zentrale Frage in diesem Zusammenhang: Wer hat entschieden und zu verantworten, dass in der Zeit von September 2016 bis zum Anschlag am 19.12.2016 diese Gefahrenabwehraufgabe der Polizei nicht effektiv wahrgenommen und nicht einmal die erforderlichen "sach- und personenbezogenen Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen" von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der betroffenen Länder weiter beschafft und ausgewertet wurden? Denn der Attentäter konnte weitgehend ungehindert agieren und seine Ziele verfolgen.

Wenn eine solche ausweislich der zitierten Aktenvermerke dokumentierte Ankündigungslage eines potenziellen Gewalttäters kein hinreichender Anlass für effektive Maßnahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr und für eine "Sammlung und Auswertung" relevanter Informationen (§ 3 Nr. 1 i.V.m. § 4 Abs. 1 c BVerfSchG) durch den Inlandsgeheimdienst ist, fragt man sich, welches Aufgabenverständnis dort vorliegt.

Müsste es hier nicht Konsequenzen geben für diejenigen, die diese Entscheidungen getroffen haben?

Dieter Deiseroth: In der Tat. Und man wundert sich, dass diese Frage nicht bereits im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion steht.

Amri war auch auf dem Schirm des Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrums (GTAZ). Dort sprach man zuletzt am 2. November über ihn. Können Sie erklären, was genau das GTAZ ist?

Dieter Deiseroth: Es besteht seit dem 14. Dezember 2014 in Berlin-Treptow unter der Führung des Bundeskriminalamtes (BKA) und des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV). Es ist eine informelle, von der Konferenz der Innenminister des Bundes und der Länder geschaffene netzwerkartige "Plattform" für die Zusammenarbeit von etwa 40 Behörden des Bundes und der Länder. Neben dem BKA und BfV gehören dazu u.a. der BND und die jeweils 16 Landeskriminalämter und Verfassungsschutzämter der Bundesländer. Es handelt sich um ein zentrales Lage- und Analysezentrum. Jede der beteiligten Behörden ist dort mit einem Verbindungsbeamten vertreten. Diese haben - so die getroffenen Festlegungen - einzeln jeweils direkten Zugriff auf die Daten ihrer Entsendebehörden.

Das BKA hat dort ein "Polizeiliches Informations- und Analysezentrum (PIAZ)" für den Bereich des islamistischen Terrorismus, das BfV hat parallel dazu ein eigenes "Nachrichtendienstliches Informations- und Analysezentrum (NIAZ)" eingerichtet, an dem nur die Nachrichtendienste beteiligt sind. Im GTAZ werden von den anwesenden Verbindungsbeamten aktuelle Terrorismusbedrohungen erörtert, einschließlich personenbezogener Daten von Tatverdächtigen ("Personalien"). Jeder Verbindungsbeamte bringt die Fälle, Kenntnisse und Daten ein, für die seine Entsendungsbehörde zuständig ist.

Was ist von einem so aufgebauten "Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum" zu halten?

Dieter Deiseroth: Rechtsgrundlage für das Handeln der im GTAZ tätigen Verbindungsbeamten sind die jeweiligen Rechtsvorschriften, die für die betreffende Entsendungsbehörde bestehen und eingreifen. Ein spezielles Gesetz für das, was im GTAZ zu geschehen hat und geschehen darf, gibt es nicht. Rechtlich nicht hinreichend klar ist allerdings, wem die im GTAZ von den Verbindungsbeamten vorgenommenen, im Ergebnis gemeinsamen "Datenverarbeitungen" und Feststellungen zuzurechnen sind - positiv wie negativ.

Keine der beteiligten Behörden darf sich aber dadurch aus seiner eigenen Verantwortung und seinen Verpflichtungen stehlen. Ungeklärt ist bisher die Frage, ob für das GTAZ eine hinreichende Kontrolle besteht; denn kontrolliert werden die Verbindungsbeamten nur über ihre jeweilige Entsendungsbehörde, was aber das Spezifische der überbehördlichen Zusammenarbeit nicht erfasst.

Zurück zu Armi, Um es nochmal hervorzuheben: Amri ist also im Vorfeld des Anschlages nicht über die Füße eines Dorfpolizisten gestolpert, sondern, wenn man so will: Das "Kompetenzzentrum" zur Bewertung und Analyse von Terrorismus in Deutschland, hat sich mit ihm auseinandergesetzt - und das sogar noch relativ kurz vor dem Anschlag. Wie denken Sie über diesen Sachverhalt?

Dieter Deiseroth: Nach Lage der Dinge waren im GTAZ alle bei den rund 40 dort täglich durch ihre Verbindungsbeamten zusammenarbeitenden deutschen Sicherheitsbehörden vorhandenen Informationen und Daten zum Attentäter und zu seinem Umfeld zugänglich. Dazu müssen auch die eingangs erörterten Aktenvermerke der informellen Mitarbeiter (Vertrauenspersonen) des LKA Nordrhein-Westfalen gehört haben.

Wenn dennoch von den Verantwortlichen trotz der durch Zeugen belegten mehrmaligen Gewaltankündigungen von Anis Amri keine Veranlassung zur Gefahrenabwehr und zum Verhindern der terroristischen Gewalttat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt gesehen wurde, dann stimmt etwas nicht in der Sicherheitsarchitektur und im Verhalten der Akteure. Für mich handelt sich um einen schlimmen Fall von "Staatsversagen", genauer gesagt um ein Versagen der zuständigen staatlichen Stellen des Bundes und der Länder bei der Erfüllung ihrer Schutzverpflichtungen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern.

Auf fehlende rechtliche Befugnisse und Verpflichtungen können sie sich dabei nicht berufen. Im Gegenteil, diese hatten und haben sie zur Genüge. Möglicherweise gibt es aber auch Abläufe und Zusammenhänge im Hintergrund des Anschlags, die bisher nicht aufgedeckt worden sind. Hoffen wir, dass die kritischen Medien und auch die parlamentarischen Kontrollgremien baldmöglichst für Aufklärung sorgen können.