The West is the Best

Seite 2: Warum haben die deutschen Eliten sich für die USA entschieden?

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Diese Frage kann nicht beantwortet werden, ohne sich auf den Zweiten Weltkrieg zu beziehen. Als Kriegsverlierer hatten Ost- wie Westdeutschland ihre Souveränität verloren und diese auch nach der Wiedervereinigung nicht wirklich zurückerlangt. Formal hat das wiedervereinigte Deutschland seine Souveränität zwar 1990 wieder erhalten. Doch faktisch ist diese immer noch beschnitten. Teils durch die Strukturen, die von den Alliierten nach 1945 geschaffen wurden und die auch nach 1990 noch fortbestanden, wie z.B. ein starker Einfluss der USA auf die deutsche Presse. Teils aber auch durch die allgemeine Schwächung der Staatlichkeit im Zuge der Globalisierung und der EU- und NATO- Osterweiterung.

Heute ist die Souveränität Deutschlands sogar in mancher Hinsicht noch schwächer entwickelt als in der Amtszeit Willy Brandts und Helmut Schmidts, die beide als Kanzler zumindest noch souverän genug waren, um eigenständige außenpolitische Initiativen anzustoßen. Gegenwärtig ist die Staatlichkeit Deutschlands sogar so geschwächt, dass die Bundesregierung ihre Grenzen nicht kontrollieren kann und selbst etliche Gesetzestexte ohne die Hilfe US-amerikanischer Anwaltskanzleien kaum noch abgefasst werden können.

Die Einschränkung der deutschen Souveränität führt dazu, dass in Deutschland die Eliten heute ganz anders rekrutiert werden, als dies in einem souveränen nationalstaatlich verfassten Land normalerwiese der Fall ist. Verfügt nämlich ein Land über seine volle Souveränität, so hat es ein Interesse daran, dass es von Menschen regiert und verwaltet wird, die diese Souveränität schützen und dementsprechend über strategisches Denkvermögen verfügen. Ist ein Land dagegen nicht vollständig souverän und lediglich ein Anhängsel einer größeren geopolitischen Ordnung, so sind Bürger mit strategischem Denkvermögen eher störend.

Länder, die von einem anderen größeren Staat dominiert und teilweise sogar von diesem mit verwaltet werden, bringen deshalb einen anderen Typus von Elite hervor. Nämlich eine Elite, die vor allem ein gläubiges und affirmatives Verhältnis zur bestehenden Ordnung hat. Der Analytiker mit strategischem Denkvermögen, der befähigt ist, das Gegebene geistig zu überschreiten, ist dagegen eher störend und muss dementsprechend im Rekrutierungsprozess der Elite herausgefiltert werden.

In Diskussionen zwischen Vertretern der deutschen und russischen Elite kann man die Folgen, die diese veränderte Eliteauslese nach sich zieht, immer wieder beobachten. Die Vertreter der deutschen Elite sind ihren russischen Kollegen in der Regel im strategischen Denken deutlich unterlegen. Immer wieder passiert es - etwa in den Diskussionen im Rahmen des Petersburger Dialogs -, dass ein deutscher Teilnehmer nicht weiß, was beispielsweise eine "Farbenrevolution" ist. Auch mit den Grundkategorien geopolitischen Denkens ist man auf deutscher Seite leider nur selten vertraut und häufig wird ein verkürztes Bild der jüngeren Geschichte vertreten. Mehrmals ist es bei deutsch-russischen Diskussionsrunden auch schon vorgekommen, dass deutsche Teilnehmer Sprachregelungen aus der Presse mit Analysen verwechselten und diese vollkommen unkritisch in gutem Glauben zitierten.

Auf russischer Seite entsteht dann unvermeidlich der Eindruck, dass deutsche Politiker wie auch Journalisten nicht umfassend über die Weltlage orientiert sind. Und das trifft leider insofern zu, als jene, die prinzipiell über eine weltpolitische Orientierung verfügen, von Ämtern systematisch ferngehalten werden.

Schließlich kommt noch hinzu, dass die Katastrophe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte nachhaltig gestört hat. Die zwölf Jahre des deutschen Faschismus wirken wie eine historische Mauer im kollektiven historischen Gedächtnis. Alles was vor 1933 geschehen ist, verschwimmt im Nebel der Vergangenheit, wirkt fern und fremd. Einen wirklichen Bezug besitzt die überwiegende Mehrheit der Deutschen heute nur noch zu der Welt, die nach 1945 aufgebaut worden ist. Alles was vor 1933 stattgefunden hat, steht unter Verdacht, mit der Katastrophe des deutschen Faschismus in irgendeiner Form verbunden zu sein.

Dies führt dazu, dass nur ein sehr kleiner Teil der deutschen Elite mit der deutschen Klassik in ihrer literarischen und philosophischen Dimension vertraut ist. Viele von ihnen wüssten wahrscheinlich kaum zu sagen, was die deutsche Aufklärung von der Englischen oder Französischen unterschieden hat und welche Relevanz in dieser Unterscheidung auch heute noch beschlossen liegt.1 Doch weil die historische Verankerung in der Vergangenheit fehlt, weil ein Verhältnis zu den eigenen geistesgeschichtlichen Traditionen bei vielen Vertretern der deutschen Elite kaum noch vorhanden ist, gerade deshalb wirkt die Identifikation mit der transatlantischen Ordnung nach 1945 für diese Generation so glaubwürdig, zwingend und alternativlos.

Die republikanischen Selbststeuerungsprozesse in Deutschland sind praktisch zum Erliegen gekommen

Viele Vertreter der deutschen Elite sind zudem von der Vorstellung bestimmt, dass die politische und ökonomische Ordnung, die zunächst in Westdeutschland nach 1945 aufgebaut worden ist, "ein gutes System" sei. Dabei wird für gewöhnlich nicht reflektiert, dass der Wohlstand Westdeutschlands mit Hilfe einer keynesianischen Wirtschaftspolitik geschaffen worden ist.

Seit dem Beginn des neoliberalen Zeitalters, das in Deutschland etwas verspätet mit der Wiedervereinigung einsetzte, hat die Mehrheit der Bevölkerung kaum noch einen Wohlstandszuwachs erlebt. Lediglich die großen Vermögen sind gewachsen, während zugleich die Armut zugenommen hat und die Mittelschicht immer mehr von Abstiegsängsten geplagt ist. Trotzdem identifizieren viele Vertreter der deutschen Elite den Wohlstand Deutschlands mit dem heutigen neoliberalen System und möchten es erhalten.

Aufgrund der zum Glaubenssatz geronnenen Vorstellung, dass das transatlantische Bündnis "ein gutes System" sei, ist diese Elite relativ blind für die Tatsache, dass die Errungenschaften des Westens seit 1989 massiv abgebaut worden sind. Die für ein republikanisch verfasstes Gemeinwesen tragenden Institutionen, vor allem die Presse, aber auch die Universitäten, die Gewerkschaften und die Kirche befinden sich heute in einem selten zuvor dagewesenen Lähmungszustand und besitzen faktisch kaum noch das Potenzial, das System durch Kritik zu einer Selbstkorrektur zu veranlassen. Die republikanischen Selbststeuerungsprozesse sind somit praktisch zum Erliegen gekommen.

Rückblickend muss man sagen, dass der Westen nur solange republikanisch verfasst gewesen ist, solange das östliche Konkurrenzmodell existierte. Seitdem dieses weggebrochen ist, wurden auch im Westen neben dem Sozialstaat vor allem die Presse- und Wissenschaftsfreiheit abgebaut. An ihre Stelle tritt ein administratives System politischer Verwaltung, in dem alle maßgeblichen politischen Entscheidungen von Think Tanks und Lobbygruppen vorentschieden und der Bevölkerung nur nachträglich über PR-Kampagnen als notwendig oder alternativlos vermittelt werden.

Der sowjetische Dissident und Philosoph Alexander Zinoviev, der 1978 von Moskau nach West-Deutschland ausgebürgert wurde, hat einen solchen Gesellschaftstypus einst zutreffend am Beispiel der Sowjetunion analysiert und beschrieben. Er bezeichnete einen solches System wegen seiner transnationalen Struktur auch als "Supra-Society" oder "Supra-Gesellschaft". Ab den 1990er Jahren begann Zinoviev allerdings davon zu sprechen, dass es sich auch beim westlichen Bündnissystem um eine Supra-Gesellschaft handeln würde und diese dem Entwicklungspfad der Sowjetunion folge.2 Zinoviev scheint recht behalten zu haben. Zumindest werden nach der Ratifizierung des TTIP-Abkommens die Vereinigten Staaten und die EU zu einem großen administrativen Gebilde verschmelzen und zusammen eine Art Supra-Gesellschaft bilden.