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Seite 2: Vorteil Europa?

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Angesichts der lahmenden konjunkturellen Erholung in den Vereinten Staaten und der sich immer deutlicher abzeichnenden Notwendigkeit, den Verbrennungsmotor der kapitalistischen Verwertungsmaschine mit abermaligen Billionenbeträgen frisch erzeugter Dollar zu füttern, sehen selbst gestandene Anhänger des Deficit spending wie der Keynesianer Paul Krugman für US-Wirtschaft schwarz.

Man habe die Chance verpasst, die Epidemie "unter Kontrolle zu bringen", sodass die Wirtschaft bald in einen "neuen Lockdown" übergehen werde. Entweder werde die Politik diesen anordnen, oder die Menschen würden zu viel Angst haben, um weiter zu arbeiten.

Im Kontrast zu dem offensichtlichen Desaster in den USA scheint der aktuelle Krisenschub in Europa und Deutschland einen milderen Verlauf zu nehmen - selbst wenn auch hierzulande historische Konjunktureinbrüche gemeldet werden. Die Bundesrepublik verzeichnete im zweiten Quartal 2020 eine Kontraktion des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 10,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal, was den stärksten Einbruch seit der Wiedervereinigung markiert.

Gegenüber dem Vorjahreszeitraum beträgt das Minus, das die Prognosen von Analysten übertraf, gar 11,7 Prozent. Auch hier hilft der Vergleich mit dem Krisenschub von 2008/09, wo die Konjunktur selbst im schlimmsten Quartal um weniger als fünf Prozent einbrach.

Die gigantischen Konjunkturmaßnahmen Berlins, die unter anderem einen Nachtragshaushalt von 156 Milliarden Euro und ein Konjunkturprogramm von 130 Milliarden umfassen, haben den Absturz aber tatsächlich abgefedert, wie die Konjunktureinbrüche bei der europäischen Konkurrenz zeigen, die sich solch extreme Schuldenaufnahme nicht erlauben konnte: Frankreichs BIP sank im selben Zeitraum um 15 Prozent, in Italien waren es 14, in Spanien gar 16 Prozent.

Dennoch zeichnen sich in der Bundesrepublik, gerade aufgrund einer weitaus erfolgreicheren Eindämmung der ersten Pandemiewelle als etwa in den USA, erste konjunkturelle Erholungszeichen ab. Der als Frühindikator dienende Ifo-Index steigt seit drei Monaten beständig, die Arbeitslosenzahlen bleiben dank Kurzarbeitergeld stabil, während das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für das kommende Quartal gar mit einem Wachstum von drei Prozent rechnet. Die von Berlin implementierten Konjunkturmaßnahmen zeigen somit durchaus begrenzte Wirkung.

Auf europäischer Ebene sieht es hingegen anders aus. In Relation zu den in Washington geschnürten Krisenpaketen und dem Konjunkturprogramm der Bundesrepublik, das ja noch aus Staatsbürgschaften von 400 Milliarden und einem Rettungsfonds im Umfang von 600 Milliarden Euro besteht, wirken auch die auf dem letzten EU-Gipfel beschlossenen europäischen Konjunkturhilfen von 750 Milliarden Euro eher unterdimensioniert - zumal faktisch einzig die direkten Finanzhilfen von 390 Milliarden Euro tatsächlich von den betroffenen Krisenländern schnell abgerufen werden dürften.

Während laut den aktuellen Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Bundesrepublik in diesem Jahr einen Konjunktureinbruch von 7,8 Prozent des BIP verkraften muss, soll die Wirtschaft im gesamten Euroraum, dem die "geizigen Vier" mit stillschweigender Duldung Merkels die Konjunkturgelder zusammengestrichen haben, um 10,2 Prozent einbrechen. Weniger Schulden in Relation zum BIP - größerer Konjunktureinbruch: Dieser Gesetzmäßigkeit scheint kapitalistische Krisenpolitik zu gehorchen.

Und dennoch sehen - gerade vor dem Hintergrund der desaströsen Politik der Trump-Administration in den USA - auch amerikanische Beobachter die Eurozone bei der konjunkturellen Erholung nach dem Corona-Schock im Vorteil. Analysten der US-Investmentbank JP Morgan machen vor allem den strikten Lockdown in der EU für die besseren wirtschaftlichen Aussichten verantwortlich.

Die Welt sei durch Covid-19 zu einem "gigantischen Laboratorium" verschiedener Systeme der Pandemiebekämpfung verwandelt worden, konstatierte auch die New York Times, wobei die Unterschiede zwischen den USA und der EU besonders ausgeprägt seien.

Während in Amerika sofort Massenentlassungen einsetzten und Trump das "Wiederanfahren der Wirtschaft trotz steigender Infektionszahlen" betrieb, hätten viele Länder Europas einen "strikten Lockdown" implementiert und mittels Überbrückungsfinanzierungen wie dem Kurzarbeitergeld die Explosion der Arbeitslosigkeit verhindert.

Diese unterschiedlichen Ansätze hätte unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt, folgerte die NYT, sodass die Vereinigten Staaten bei den Infektionszahlen führten und mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen hätten, während die entsprechenden Zahlen in Europa "stabil" blieben. Dennoch spielt auch die EU ein Vabanque-Spiel mit dem Krisenverlauf.

Europa habe darauf gewettet, dass die Pandemie schnell überwunden wird und es eine baldige Rückkehr zur kapitalistischen "Normalität" geben könne. Wenn aber eine zweite Covid-Welle die EU erreiche, dann werden auch Europas Regierungen ihre teuren Stützungsmaßnahmen nicht mehr aufrechterhalten können.

Was also kostet die Krise?

Die öffentlichen globalen Kosten des gegenwärtigen Krisenschubs wurden vom IWF für dieses Jahr in einer ersten Prognose ebenfalls mit einem Rekordwert beziffert: 2020 soll die öffentliche Verschuldung um schwindelerregende 19 Prozent ansteigen, auf einen globalen Rekord von 101 Prozent der jährlichen Weltwirtschaftsleistung im Jahr 2020. Die maroden spätkapitalistischen Staatsapparate verschulden sich somit in einem wahnwitzigen Rekordtempo, um ein in Agonie befindliches Wirtschaftssystem vor dem Kollaps zu bewahren.

Die wirtschaftspolitische Wette in Berlin und Brüssel, bei der man mit viel "Wumms" möglichst schnell aus der Krise kommen will, dürfte somit nur dann aufgehen, wenn eine neue globale Blasenbildung erfolgreich ist und eine zweite Pandemiewelle sich nicht materialisiert - oder wenn diese schlicht ignoriert wird.