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Können die in Europa und den USA implementierten Konjunkturmaßnahmen den gegenwärtigen Krisenschub wirksam begegnen?

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Immer schneller, immer tiefer - der Kapitalismus befindet sich mal wieder auf Rekordjagd. Offiziellen, jüngst veröffentlichten Daten zufolge kontrahierte die Wirtschaft der Vereinigten Staaten im zweiten Quartal dieses Jahres um schwindelerregende 32,9 Prozent. Dies ist der stärkste Einbruch des Bruttoinlandsprodukts der größten Volkswirtschaft der Welt seit Beginn der Erhebung der derzeit gültigen Statistik im Jahr 1945.

Das historische Ausmaß des gegenwärtigen Krisenschubs wird in Relation zur vorgehenden Krisis deutlich, den Folgen der 2007 in den Vereinigten Staaten und der EU geplatzten Immobilienblase, als im schlimmsten Quartal 2008 das US-BIP um 8,4 Prozent schrumpfte. Die Dramatik der Situation erhellt sich insbesondere aus der Tatsache, dass die Fallzahlen der in den Vereinigten Staaten nach einem übereilten Ende der Pandemiebekämpfung schon seit Juni wieder ansteigen und viele US-Bundesstaaten einen abermaligen "Lockdown" in Erwägung ziehen.

Mit rund 4,6 Millionen bestätigter Covid-19-Fälle (bei einer globalen Infektionszahl von 17,4 Millionen) und mehr als 155 000 Todesopfern bilden die von einem Rechtspopulisten regierten Vereinigten Staaten das Zentrum der Pandemie - noch vor dem Brasilien des Rechtsextremisten Jair Messias Bolsonaro.

Alle Bundesstaaten hätten "im gewissen Ausmaß" angefangen, die kapitalistische Wirtschaft wieder zu "öffnen", hieß es etwa im Guardian, doch führten ansteigende Fallzahlen in Kalifornien, Florida, Texas und anderen Staaten zur Wiedereinführung von Beschränkungen der Unternehmenstätigkeit, was den "Druck auf die US-Wirtschaft" abermals erhöhe.

Die sich abzeichnende zweite Welle der Pandemie trifft somit auf eine marode kapitalistische Wirtschaft, die bereits einen historischen Einbruch verzeichnete und - angesichts explodierender Massenarmut und sozialer Konflikte - um buchstäblich jeden Preis wieder auf Wachstumskurs kommen muss.

Der besonders schwere Krisenverlauf in den Vereinigten Staaten resultiert einerseits aus der extremen Deregulierung und Zerrüttung der sozialen Infrastruktur des Landes in den vergangenen vier Dekaden neoliberaler Politikhegemonie, sowie andrerseits der Existenz eines hochprofitablen privatisierten Gesundheitssektors, der sich außerstande zeigte, der Pandemie wirksam zu begegnen.

Aufgrund exzessiver Lobbyarbeit wird sich dies auch unter einem etwaigen demokratischen Präsidenten nicht ändern. Die Biden-Kampagne hat klargestellt, dass die Einführung eines öffentlichen Gesundheitssystems nicht infrage kommt. Hinzu kommt der dem kapitalistischen System innewohnende Wachstumszwang - eine Folge der Verwertungsbewegung des Kapitals -, der die längerfristige Überwindung aller externer Krisenschocks, denen man mit einer Reduzierung der Wirtschaftstätigkeit begegnen müsste, unmöglich macht.

Zudem scheint in den Vereinigten Staaten die durch die Lockerung des "Lockdowns" intendierte Erholung der Wirtschaft bereits zu stagnieren, wie die New York Times berichtete. Von einer "V-förmigen" Erholung der Wirtschaft, bei der ein extremer Konjunktureinbruch rasch durch einen steilen Aufschwung abgelöst würde, kann kaum noch die Rede sein.

Längst wird in der US-Öffentlichkeit die Möglichkeit einer "K-förmigen" Wirtschaftserholung diskutiert, bei der die Oberschicht und die wohlhabenden Teile der Gesellschaft sich schnell stabilisierten, während der Rest der Gesellschaft dauerhaft in Armut verharren würde.

Mehr Stroh für das Konjunkturfeuer

Rund 30 Millionen US-Bürger erhalten derzeit Stütze durch die Arbeitslosenversicherung und diverse Krisenprogramme, wobei diese Zahl sich in den vergangenen zwei Monaten nur "langsam reduziert" hätte, da der gesamtwirtschaftliche Effekt steigender Neueinstellungen durch eine weiterhin hohe Zahl neuer Arbeitsloser gemindert werde.

In der letzten Woche hätten 1,4 Millionen Lohnabhängige sich arbeitslos gemeldet, dies sei die 19. Woche in Folge gewesen, wo dieser Wert die Millionenmarke überschritten hätte: "Eine unvorstellbare Zahl vor der Pandemie", so die New York Times.

Die langsame wirtschaftliche Erholung, gepaart mit Anzeichen einer abermaligen wirtschaftlichen Eintrübung, lasse auch das Konsumvertrauen einbrechen - also die Kauflaune derjenigen Bevölkerungsschichten, die noch nicht abgestürzt sind. Somit scheinen sich die Effekte des ersten großen Konjunkturpaketes im Umfang von rund zwei Billionen Dollar, das Washington in Reaktion auf den aktuellen Krisenschub auflege, bereits zu verflüchtigen.

Deswegen laufen in Washington die Verhandlungen abermals auf Hochtouren, um mit neuen Finanzspritzen das marode spätkapitalistische System vor dem totalen Zusammenbruch zu bewahren. Erste Schätzungen für gewöhnlich gut unterrichteter Kreise innerhalb der Wall Street gehen davon aus, dass sich das zweite Konjunkturpaket auf rund eine Billion US-Dollar summieren dürfte.

Mittels weiterer, billionenschwerer Konjunkturmaßnahmen soll somit das konjunkturelle Strohfeuer aufrechterhalten werden. Aufgrund des voll einsetzenden Wahlkampfes haben sogar die Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten eine Chance, abermals einmalige Zahlungen zu erhalten. Beim ersten Konjunkturpaket waren es 1.000 US-Dollar, die US-Bürger als Überbrückungshilfe erhielten. Diesmal will Trump sogar 1.200 Dollar auszahlen.

Die Verhandlungen über Art und Umfang des neuen Konjunkturpaketes befinden sich derzeit in einer Sackgasse, da die Republikaner die im Zuge des ersten Stützprogramms beschlossenen Zuschüsse zum Arbeitslosengeld radikal zusammenstreichen wollen. Die wöchentlichen zusätzlichen Zahlungen für das 30 Millionen Menschen umfassende Arbeitslosenheer sollen von 600 auf 200 US-Dollar gesenkt werden, um die Lohnabhängigen nicht "von der Arbeitssuche abzuhalten", wie es die Republikaner formulierten.

Zurzeit laufen gerade diese zeitlich befristeten Arbeitslosengelder für Millionen US-Bürger aus, die sich nun vom sozialen Abstieg in ein frühkapitalistisch anmutendes Elend bedroht sehen.

Vorteil Europa?

Angesichts der lahmenden konjunkturellen Erholung in den Vereinten Staaten und der sich immer deutlicher abzeichnenden Notwendigkeit, den Verbrennungsmotor der kapitalistischen Verwertungsmaschine mit abermaligen Billionenbeträgen frisch erzeugter Dollar zu füttern, sehen selbst gestandene Anhänger des Deficit spending wie der Keynesianer Paul Krugman für US-Wirtschaft schwarz.

Man habe die Chance verpasst, die Epidemie "unter Kontrolle zu bringen", sodass die Wirtschaft bald in einen "neuen Lockdown" übergehen werde. Entweder werde die Politik diesen anordnen, oder die Menschen würden zu viel Angst haben, um weiter zu arbeiten.

Im Kontrast zu dem offensichtlichen Desaster in den USA scheint der aktuelle Krisenschub in Europa und Deutschland einen milderen Verlauf zu nehmen - selbst wenn auch hierzulande historische Konjunktureinbrüche gemeldet werden. Die Bundesrepublik verzeichnete im zweiten Quartal 2020 eine Kontraktion des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 10,1 Prozent gegenüber dem Vorquartal, was den stärksten Einbruch seit der Wiedervereinigung markiert.

Gegenüber dem Vorjahreszeitraum beträgt das Minus, das die Prognosen von Analysten übertraf, gar 11,7 Prozent. Auch hier hilft der Vergleich mit dem Krisenschub von 2008/09, wo die Konjunktur selbst im schlimmsten Quartal um weniger als fünf Prozent einbrach.

Die gigantischen Konjunkturmaßnahmen Berlins, die unter anderem einen Nachtragshaushalt von 156 Milliarden Euro und ein Konjunkturprogramm von 130 Milliarden umfassen, haben den Absturz aber tatsächlich abgefedert, wie die Konjunktureinbrüche bei der europäischen Konkurrenz zeigen, die sich solch extreme Schuldenaufnahme nicht erlauben konnte: Frankreichs BIP sank im selben Zeitraum um 15 Prozent, in Italien waren es 14, in Spanien gar 16 Prozent.

Dennoch zeichnen sich in der Bundesrepublik, gerade aufgrund einer weitaus erfolgreicheren Eindämmung der ersten Pandemiewelle als etwa in den USA, erste konjunkturelle Erholungszeichen ab. Der als Frühindikator dienende Ifo-Index steigt seit drei Monaten beständig, die Arbeitslosenzahlen bleiben dank Kurzarbeitergeld stabil, während das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für das kommende Quartal gar mit einem Wachstum von drei Prozent rechnet. Die von Berlin implementierten Konjunkturmaßnahmen zeigen somit durchaus begrenzte Wirkung.

Auf europäischer Ebene sieht es hingegen anders aus. In Relation zu den in Washington geschnürten Krisenpaketen und dem Konjunkturprogramm der Bundesrepublik, das ja noch aus Staatsbürgschaften von 400 Milliarden und einem Rettungsfonds im Umfang von 600 Milliarden Euro besteht, wirken auch die auf dem letzten EU-Gipfel beschlossenen europäischen Konjunkturhilfen von 750 Milliarden Euro eher unterdimensioniert - zumal faktisch einzig die direkten Finanzhilfen von 390 Milliarden Euro tatsächlich von den betroffenen Krisenländern schnell abgerufen werden dürften.

Während laut den aktuellen Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) die Bundesrepublik in diesem Jahr einen Konjunktureinbruch von 7,8 Prozent des BIP verkraften muss, soll die Wirtschaft im gesamten Euroraum, dem die "geizigen Vier" mit stillschweigender Duldung Merkels die Konjunkturgelder zusammengestrichen haben, um 10,2 Prozent einbrechen. Weniger Schulden in Relation zum BIP - größerer Konjunktureinbruch: Dieser Gesetzmäßigkeit scheint kapitalistische Krisenpolitik zu gehorchen.

Und dennoch sehen - gerade vor dem Hintergrund der desaströsen Politik der Trump-Administration in den USA - auch amerikanische Beobachter die Eurozone bei der konjunkturellen Erholung nach dem Corona-Schock im Vorteil. Analysten der US-Investmentbank JP Morgan machen vor allem den strikten Lockdown in der EU für die besseren wirtschaftlichen Aussichten verantwortlich.

Die Welt sei durch Covid-19 zu einem "gigantischen Laboratorium" verschiedener Systeme der Pandemiebekämpfung verwandelt worden, konstatierte auch die New York Times, wobei die Unterschiede zwischen den USA und der EU besonders ausgeprägt seien.

Während in Amerika sofort Massenentlassungen einsetzten und Trump das "Wiederanfahren der Wirtschaft trotz steigender Infektionszahlen" betrieb, hätten viele Länder Europas einen "strikten Lockdown" implementiert und mittels Überbrückungsfinanzierungen wie dem Kurzarbeitergeld die Explosion der Arbeitslosigkeit verhindert.

Diese unterschiedlichen Ansätze hätte unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt, folgerte die NYT, sodass die Vereinigten Staaten bei den Infektionszahlen führten und mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen hätten, während die entsprechenden Zahlen in Europa "stabil" blieben. Dennoch spielt auch die EU ein Vabanque-Spiel mit dem Krisenverlauf.

Europa habe darauf gewettet, dass die Pandemie schnell überwunden wird und es eine baldige Rückkehr zur kapitalistischen "Normalität" geben könne. Wenn aber eine zweite Covid-Welle die EU erreiche, dann werden auch Europas Regierungen ihre teuren Stützungsmaßnahmen nicht mehr aufrechterhalten können.

Was also kostet die Krise?

Die öffentlichen globalen Kosten des gegenwärtigen Krisenschubs wurden vom IWF für dieses Jahr in einer ersten Prognose ebenfalls mit einem Rekordwert beziffert: 2020 soll die öffentliche Verschuldung um schwindelerregende 19 Prozent ansteigen, auf einen globalen Rekord von 101 Prozent der jährlichen Weltwirtschaftsleistung im Jahr 2020. Die maroden spätkapitalistischen Staatsapparate verschulden sich somit in einem wahnwitzigen Rekordtempo, um ein in Agonie befindliches Wirtschaftssystem vor dem Kollaps zu bewahren.

Die wirtschaftspolitische Wette in Berlin und Brüssel, bei der man mit viel "Wumms" möglichst schnell aus der Krise kommen will, dürfte somit nur dann aufgehen, wenn eine neue globale Blasenbildung erfolgreich ist und eine zweite Pandemiewelle sich nicht materialisiert - oder wenn diese schlicht ignoriert wird.