Tikal Digital

Ein Schatz für die Mayanisten-Community

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Museen und Internet - das ist trotz aller Verbesserungen bei den Zugangsbedingungen immer noch eine schwierige Beziehung. In ein Museum zu gehen, ist eben doch etwas anderes, als sich auf dem Bildschirm ein paar Bilder anzusehen, Texte durchzulesen und allenfalls das ein oder andere 3D-Objekt um die eigene Achse rotieren zu lassen.

Andererseits kann das Internet bei einem der hartnäckigsten Probleme von Museen überhaupt helfen: Während die Archive vor Kunstwerken, Sammlungen, Forschungsergebnissen nur so überquellen, kann "überirdisch", dort, wo die Besucher hinkommen, nur ein Bruchteil ausgestellt werden. Jetzt versucht das Pennsylvania Museum of Archeology and Anthropology (UPM) aus der Not eine Tugend zu machen. Im Rahmen des Tikal Digital Access Projects sollen alle Archivmaterialien, die im Namen des Museums zwischen 1956 - 1970 bei Grabungen in der Mayametropole Tikal angesammelt wurden, online gehen.

Ein Projekt so monumental wie der Forschungsgegenstand. Was die Grabungen des UPM in Tikal (schon seit 1979 Weltkulturerbe) erbracht haben, ist immens. Als Beispiel für die zu digitalisierenden Medien nennt das Museum:

Grabungstagebücher, Briefwechsel, Verwaltungsakten, Landkarten, Zeichnungen, Foto-Negative und -Abzüge, Dias, Filme, sowie sekundäre Materialien wie publizierte und unpublizierte wissenschaftliche Papiere, Studienabschlußarbeiten und Dissertationen

[Übersetzung MH]

Bei manchen Materialien ist Eile geboten, so das Museum, wie zum Beispiel bei den mehr als 3000 Dias, von denen viele bereits Farbverluste aufweisen. Der finanzielle Aufwand, der bis dato auf 350.000 Dollar beziffert wird, hat trotz der versprochenen Unterstützung durch die Foundation for the Advancement of Mesoamerican Studies bereits zur Einwerbung von privaten Spenden geführt. Warum gerade die Forschungen zu Tikal eine solche besondere Aufmerksamkeit erfahren, ist schnell erklärt.

Man kann sich darüber streiten, ob Tikal, Palenque, Copan oder eine andere der bisher entdeckten Mayastädte die "schönste" ist, an der überragenden Bedeutung Tikals für die Geschichte der Maya bis zum Ende der klassischen Periode um 900 n. Chr. gibt es keinen Zweifel. Das "Penn Tikal Projekt", eben jener zusammenhängende Großforschungsauftrag, auf dem die gesammelten Daten beruhen, war laut UPM zu seiner Zeit bahnbrechend in der Anwendung fortschrittlicher archäologischer Methoden, und das Museum hofft nun mit seinem mutigen Schritt, durch die Internetzugänglichkeit der Ergebnisse nicht nur die Daten von damals zu erhalten und zu veröffentlichen, sondern auch neue Arten von wissenschaftlicher Zusammenarbeit zu ermöglichen, die die Mayanistik befördern. Für Forschungszusammenhänge wie Wayeb, den Europäischen Mayanistenverband wird sich das Tikal Digital Access Project sicherlich zu einer Goldgrube entwickeln.

Aber die Internet-Veröffentlichung des UPM-Archivs ist auch aus einem weniger offensichtlichen Grund interessant. In gewisser Weise stammen die UPM-Materialien aus einem Zeitalter der Blindheit. Um das zu verstehen, muss man ein Stück Wissenschaftsgeschichte im Zusammenhang mit der Mayanistik betrachten, das mit der Schrift der Mayas zu tun hatte. Die Entzifferung dieser hochkomplexen, faszinierenden Schrift erwies sich seit den ersten europäischen Begegnungen mit den Mayas während der Conquista als außerordentlich schwierig. Bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts waren in mühsamer Kleinarbeit nur die Struktur das Maya-Kalenders, des Zahlensystems und die Bedeutung einiger weniger Schriftzeichen entziffert. Der Brite J. Eric S. Thompson, der einflussreichste Mayanist seiner Zeit, kategorisierte die Schriftzeichen in einem grundsätzlich noch heute benutzten System.

Allerdings glaubte er mit nahezu religiöser Inbrunst, dass die Schrift der Maya Zeichen für Zeichen "ideographisch" sei, d.h. jedes Zeichen grundsätzlich bestimmte Ideen, geistige Inhalte ausdrücke, und diese Inhalte und Ideen ordnete er hauptsächlich der Astronomie, der Religion und der Grundlagenmathematik zu, was seinen eigenen Vorurteilen über die Mayas entsprach - seiner Meinung nach waren sie ein friedliches Volk von Sternguckern und versonnenen Mathematikern gewesen.

Ab 1952 stand ein anderes Erklärungssystem zur Verfügung, nämlich das des Russen Juri Knorosow. Er verfolgte den sogenannten phonetischen Ansatz; für ihn stellten die einzelnen Zeichen Silben dar, die in Kombination mit anderen Silbenzeichen die Wörter ergaben. Wie man heute weiß, ist das bei weitem nicht die ganze Wahrheit, aber es ist doch sehr viel wahrer als die Konzepte Thompsons. Dass man heute - je nach verschiedenen Schätzungen - 70 - 85 % der Mayatexte lesen kann, ist eindeutig Knorosow und seinen Erben zu verdanken, nicht Thompson. Dem allerdings gelang es durch seinen Einfluss in der Mayanisten-Community sogar eine ernsthafte Diskussion über den phonetischen Ansatz zu unterbinden.

Teilweise half ihm dabei ein paranoider Antikommunismus, der alles, was aus der Sowjetunion kam - also auch Knorosows Ergebnisse - als marxistische Propaganda abtat. Unglaublich, aber wahr: Die Angst vor dem Übervater Thompson verhinderte im Westen entscheidende Fortschritte bei der Entzifferung der Maya-Glyphen bis zu seinem Tod im Jahre 1975.

Erst danach setzte sich der Ansatz von Knorosow endgültig durch und eröffnete der Mayanistik völlig neue Horizonte.

Für die Materialien, die das UPM jetzt online stellen will, hat das Konsequenzen. Da sie aus dem Zeitraum von 1956 - 1970 stammen, einer Zeit also, in der an Thompson in der Mayanistik niemand vorbei kam, werden sie in gewisser Weise den Wissenschaftlern nicht wieder, sondern ganz neu zur Verfügung gestellt:

Im Licht dessen, was man heute wegen der grundsätzlichen Lesbarkeit der überlieferten Maya-Texte über die Kultur weiß, müssen sehr wahrscheinlich viele der Ergebnisse von damals neu gelesen und bewertet werden. In diesem Sinne sind die Materialien des UPM, die auf ihre Wiederveröffentlichung warten, wirklich ein ungehobener Schatz - und das Pennsylvania Museum of Archeology and Anthropology wird mit seiner Hebung sowohl Wissenschafts- als auch Internetgeschichte schreiben.