Tod, Zerstörung und die Last der Erinnerung

Auch zehn Jahre nach dem Ende des Krieges leidet Bosnien unter den Folgen der Kampfhandlungen, Vertreibungen und Massaker

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Vor fast genau zehn Jahren, am 14. Dezember 1995, unterzeichneten der serbische Präsident Slobodan Miloševi?, der kroatische Staatschef Franjo Tu?man und der bosnische Präsident Alija Izetbegovi? in Paris das Dayton-Friedensabkommen. Der Vertrag beendete nach dreieinhalb Jahren den Krieg in Bosnien und Herzegowina, dem laut einer neuen Berechnung des Research and Documentation Center in Sarajewo etwa 100.000 Menschen zum Opfer fielen. Nach Einschätzung des Leiters der vorwiegend aus norwegischen Quellen finanzierten Studie, Mirsad Tokaca, hat sich die lange Zeit kolportierte Zahl von 250.000 Toten damit „als Mythos“ erwiesen, doch an der Traumatisierung großer Teile der bosnischen Gesellschaft ändert die Reduzierung wenig oder gar nichts.

Denn die Menschen leben weiter mit den Folgen des Krieges. Sie leben mit der durch den Dayton-Vertrag abgesicherten, auf Kriegsverbrechen gegründeten Republik Srpska und mit der Erinnerung an viele tausend Vergewaltigungen, ethnische Säuberungsaktionen und das Massaker von Srebrenica, bei dem bosnische Serben im Juli 1995 vor den Augen der Blauhelm-Soldaten rund 8.000 Moslems ermordeten. Sie leben damit, dass sich die bosnisch-serbischen Drahtzieher zahlloser Gewaltverbrechen, Ratko Mladic und Radovan Karadzic, noch immer nicht vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verantworten müssen, dass weiterhin rund 17.000 Menschen vermisst werden, und sie leben mit den Einschusslöchern, die Maschinengewehre in vielen Häusern des olympischen Viertels von Sarajevo hinterlassen haben.

Es ist dieselbe Stadt, in der 1984 im Zeichen der Ringe für Frieden und Völkerverständigung geworben wurde, die keine zehn Jahre später ins Zentrum der gewalttätigen Auseinandersetzung geriet. Während der Belagerung sollen zwischen April 1992 und Februar 1994 insgesamt 64.490 Granaten auf Sarajevo abgeschossen worden sein – der Tagesdurchschnitt lag nach Berechnungen der Vereinten Nationen damit bei 329.

In Bosnien-Herzegowina wurden während des Krieges knapp drei Viertel der Energieversorgung, etwa ein Viertel aller Häuser, jede dritte Landstraße und nahezu jede zweite Brücke zerstört. 2004 lebten 20% der Bosnier unterhalb der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 40%. Auch wenn sich die Entwicklungsabteilung der Weltgemeinschaft (UNDP) nebst der Flüchtlingshilfe mittlerweile intensiver um Bosnien-Herzegowina kümmern, haben gerade die jungen und hoch qualifizierten Menschen wenig Vertrauen in die Zukunft ihres Landes. 30% des medizinischen Personals sollen sich mittlerweile andernorts eine Existenz aufgebaut haben.

Die Altlasten des Krieges lauern überall. Noch immer kommen Menschen durch Landminen ums Leben - 2003 waren es 54 -, und nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes, das Mitte dieses Jahres 1,7 Millionen Euro für entsprechende Räumprojekte bereitstellte, sind aktuell über 1.300 Gemeinden mit mehr als 1,3 Millionen Einwohnern durch Minen und Blindgänger bedroht. Rund 2.000 Quadratkilometer können als sogenannte „Verdachtsflächen“ nicht landwirtschaftlich genutzt werden.

Auch im politischen Bereich herrscht Stillstand statt Aufbruchstimmung. Da praktisch jedes wichtige Amt dreifach besetzt ist und Kroaten, Serben und muslimische Bosnier sich denkbar selten auf eine gemeinsame Sicht der Dinge einigen können, werden wichtige Entscheidungen immer wieder vertagt oder auf den kleinsten gemeinsamen Nenner heruntergerechnet. Die Deutsche Botschaft in Sarajewo notiert dazu nüchtern:

Der äußere Zusammenhalt wird weiterhin durch eine internationale militärische und zivile Präsenz im Lande gesichert. De iure ist BiH zwar ein souveräner Staat und Mitglied in zahlreichen internationalen Organisationen, de facto werden die Souveränitätsrechte allerdings und insbesondere durch die Vollmachten des „Hohen Repräsentanten“ der internationalen Gemeinschaft eingeschränkt.

Nach dem Willen der deutschen Bundesregierung soll der frühere Minister Christian Schwarz-Schilling ab Februar 2006 das wichtige Amt des „Hohen Repräsentanten“ übernehmen. Der 75-Jährige, der seit langem als Streitschlichter in Bosnien aktiv ist, hat die einfachen Lösungen immer abgelehnt und erklärt, ein Masterplan zur schnellen Beseitigung sämtlicher Probleme sei weder denk- noch umsetzbar. Stattdessen brauche das Land „ein ganzes Kaleidoskop an Aufbauprogrammen“, die von einer Art Kreditanstalt für Wiederaufbau koordiniert werden müssten. Die Europäische Union, mit der vor wenigen Tagen Gespräche über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen aufgenommen wurden, das vor allem der Verbesserung der wirtschaftlichen Beziehungen dienen soll, spielt dabei eine wichtige Rolle. Bleibt zu hoffen, dass sie dieselbe besser ausfüllt als die Vereinten Nationen, die vor zehn Jahren – insbesondere, aber nicht nur in Srebrenica – sämtliche Hoffnungen enttäuschten und nach den Worten des früheren Außenministers Joschka Fischer zum „Sinnbild des Versagens und der Hilflosigkeit der Internationalen Staatengemeinschaft“ wurden.

Dass wenigstens der gute Wille vorhanden ist, sich mit dem Schicksal des leidgeprüften Landes intensiver auseinander zu setzen, beweist neben zahlreichen Beiträgen zum 10. Jahrestag des Friedensabkommens auch eine Internationale Konferenz, die vom 2. bis 4. Dezember 2005 an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main stattfindet. Unter dem Titel Bosnien 92-95. Der Krieg und seine Folgen geht es um zahlreiche Fragen, die in der täglichen Berichterstattung kaum berücksichtigt werden, für viele Betroffene aber von existenzieller Bedeutung sind.

Wie kann es gelingen, dass Bosnien-Herzegowina aus seiner politischen Selbstblockade der Nachkriegszeit zu einem stabilen (und stabilisierenden) Faktor auf der Landkarte werden kann? Wie gehen diejenigen, die der Krieg getroffen hat, mit den ökonomischen, den sozialen, den psychischen und den physischen Folgen um? Wie funktioniert die Aufklärung des Verbleibs von über 17.000 Vermissten, wie geht die Identifizierung der gefundenen Leichenteile vonstatten? Welches Engagement legt der bosnische Staat an den Tag, um die Invaliden wieder in Gesellschaft und Wirtschaft zu integrieren? Welche psychischen und sozialen Probleme haben die ehemaligen Soldaten, die Veteranen? Was bewegt die Hinterbliebenen der ‚Männer von Srebrenica’ dazu, zurückzukehren an den Ort des Massakers? Wie sehen Kriegsblinde ihre soziale Situation im Nachkriegsbosnien? (...) Gibt es heutzutage Vereinigungen, die die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Volksgruppen betonen? (...) Wie sehen Journalisten und Politiker die Gegenwart und vor allem die nähere Zukunft Bosniens?

Aus dem Konferenzprogramm „Bosnien 92-95"

Zu den Konferenzteilnehmern gehören der Minister für Veteranenangelegenheiten des Kantons Tuzla, Bahrija Mehuric, der Präsident des Verbandes der Kriegsinvalidenorganisationen Bosnien-Herzegowinas, Safet Redzic, und der ehemalige Polizeichef von Srebrenica, Hakija Meholjic. Außerdem werden Dzemila Delalic, die im Krieg drei Söhne verloren hat, und Kadefa Muhic, die Präsidentin der Organisation der Hinterbliebenen in Srebrenica, die heute selbst in einem Flüchtlingscamp lebt, in Frankfurt erwartet. Auch Miso Bozic hat seine Teilnahme zugesagt. Der Präsident des Rates serbischer Bürger – Bewegung für Gerechtigkeit in Bosnien“ und Autor des Buches „Bosnien, auch wir sind Dein Volk“ wirbt für die Idee eines gleichberechtigten Miteinanders aller Volksgruppen, die nur gemeinsam für eine bessere Zukunft des Landes sorgen können. Diese Vision dürfte er mit einem weiteren prominenten Gast teilen. Die Abschlussrede soll am Sonntag der Fraktionsvorsitzende der Grünen im europäischen Parlament, Daniel Cohn-Bendit, halten.